SOWJET-UNION Verletzende Bemerkung
Tataren vor dem Kreml: Die ersten kamen, als dort Anfang Juli gerade Staatsgast Richard von Weizsäcker aus Bonn wohnte. Gastgeber Andrej Gromyko, Staatschef der UdSSR, bildete schleunigst mit dem KGB-Chef Tschebrikow eine Kommission, die das Anliegen der Petenten prüfen sollte.
Zwei Wochen später versammelten sich Hunderte am Roten Platz - sie kamen aus Mittelasien und wollten nach Hause: Sie riefen »Heimat oder Tod«.
Aus ihrer Heimat, der Krim, hatte Stalin sie einst unter dem Verdacht der Deutschenfreundschaft vertrieben.
Viele der Überlebenden und ihre Abkömmlinge möchten wieder zurück. Sie wurden wie die von Stalin gleichfalls deportierten Kaukasus-Völkerschaften zwar rehabilitiert: 1967 nach einer Tataren-Demonstration auf dem Roten Platz. Doch sie durften nicht in ihre Siedlungsgebiete heimkehren (den Sowjetdeutschen von der Wolga erging es ebenso). Viele Dörfer auf der Krim stehen leer.
Die Krim-Tataren protestierten weiter, schlugen sich mit der Polizei herum,
im vorigen Frühjahr noch hagelte es in ihrem Verbannungsland Usbekistan Gerichtsverfahren, ihr Sprecher Mustafa Dschemilow saß im Gefängnis - Ende vorigen Jahres aber wurde er gleichzeitig mit Andrej Sacharow, dem Atomphysiker und Anwalt der Tataren, freigelassen.
Und nun dürfen sie demonstrieren, die Behörden haben ihnen das vorigen Dienstag ausdrücklich bestätigt. Die Staatsagentur »Tass« redete zwar von »extremistischen Aktionen«, beschuldigte wieder Kollaborateure schwerster Kriegsverbrechen, nannte die »ausnahmslose Aussiedlung« aber »in keinem Fall gerecht«.
Um das halbe Tausend Kriegsveteranen (mit allen Orden), Jugendliche, Mütter mit Kindern, die vier Tage lang am Roten Platz das Recht auf Heimat einforderten, baute die Polizei aus Lkws und Bussen eine Wagenburg - aber zum Schutz der Tataren. Denn es gab auch Gegendemonstranten.
Viele russische Zuschauer, von Ordnern zurückgehalten, riefen: »Wir sind gegen euch!« und »Provokateure!« Eine Russin befand, man solle sie alle erschießen. Die Tataren verlangten nach dem Generalsekretär Michail Gorbatschow.
Dessen Anlauf, die stalinistische Vergangenheit zu bewältigen und das Regime in Maßen zu öffnen, ermuntert die seit den Terrorjahren unterdrückten Minoritäten im Vielvölkerstaat UdSSR Forderungen anzumelden. Vorigen Dezember kam es in der kasachischen Hauptstadt Alma-Ata zu Kundgebungen für den abgesetzten Parteichef Dinmuchamed Kunajew, die in Straßenschlachten mit Todesopfern ausarteten. Ein angeblicher Rädelsführer, der Student Ryskulbekow, 18, wurde zum Tode verurteilt.
Auch in den mittelasiatischen Sowjetrepubliken Turkmenien und Kirgisien gab es laut Lokalpresse »nationalistische Ausbrüche«, an der Uni der kirgisischen Hauptstadt Frunse »verletzende Bemerkungen über Russen«.
Dabei müssen die alteingesessenen Mittelasiaten weniger leiden als die zwangsweise dort lebenden, bei Russen besonders unbeliebten Tataren: Deren Ahnen hatten nach den Mongolenstürmen drei Jahrhunderte lang Rußland unterjocht einige blieben damals auf der schönen Krim-Halbinsel hängen.
Sie bildeten nach dem Sturz des Zaren 1917 eine eigene Republik, die von den Bolschewiki erobert und durch eine »Autonome Sowjetrepublik« ersetzt wurde - bis 1941 die Deutschen kamen, die zwar auch die Urlaubslandschaft am Schwarzen Meer requirieren wollten (die Südtiroler sollten dorthin umgesiedelt werden), aber unter den Krim-Tataren auch manchen Sympathisanten fanden.
»Tass« behauptete jetzt unter dem Protest der Demonstranten, zehn krimtatarische Bataillone hätten auf deutscher Seite gekämpft und sogar »Öfen aufgestellt, in denen sie rund um die Uhr Menschen bei lebendigem Leibe verbrannten«.
Deshalb verbannte Stalin alle Krim-Tataren, Kommunisten und sowjetische Kriegshelden eingeschlossen, 1944 nach Sowjetasien - insgesamt eine Viertelmillion, wovon die Hälfte beim Transport ums Leben kam.
Von den 15000 Letten, die am 14. Juni 1941, unmittelbar vor dem deutschen Angriff auf die UdSSR, nach Sibirien deportiert wurden, starben 90 Prozent. Daran erinnerte der lettische Dissident Rolands Silaraups, 21, der zu fünf Jahren Lager verurteilt und bald darauf, in diesem Januar, freigelassen wurde. Danach organisierte seine »Helsinki-Gruppe« eine Gedenkkundgebung am 14. Juni 1987.
Die Veranstaltung war beim KGB angemeldet, doch die Behörden arrangierten am Treffpunkt, dem Unabhängigkeitsdenkmal in Riga, überraschend ein Radrennen und ein Kinderfest bis sieben Uhr abends. Danach legten mehrere tausend Demonstranten, die in der Nähe Stunden gewartet hatten, Blumen und Kränze nieder. Die Polizei griff erst nach Mitternacht ein, höflich, nur einige russische Milizionäre schimpften, man sollte alle Letten umbringen.
Angehörige der lettischen Helsinki-Gruppe wurden hernach zum Militärdienst _(Am 26. Juli. )
einberufen, Leiter Grantins verhaftet, das Mitglied Silaraups, obwohl kein Jude, mit einem Israel-Visum nach Wien abgeschoben. Dort proklamierte er: »Lettland sollte ein neutraler Staat wie die Schweiz sein.«
Mit solchen Verlangen rufen die Dissidenten den russischen Chauvinismus auf den Plan und behindern so den Reformer Gorbatschow. Dabei belebt der Generalsekretär sichtlich den Artikel 50 der Sowjetverfassung, der den Sowjetbürgern die Freiheit der Versammlung, der Demonstration und der »Durchführung von Straßenumzügen« garantiert - wenn auch nur »zur Festigung und Entwicklung der sozialistischen Ordnung«.
Die neue Freiheit testen nicht nur in der Union benachteiligte Nichtrussen, sondern ebenso nationalstolze Russen, Juden sowie Antisemiten.
Mit Plakaten für eine Ausreise nach Israel, angeblich auch für ihre »Rückkehr in die Heimat«, zogen sieben jüdische Sowjetbürger im März ins Leningrader Parteibüro, das im Smolny-Institut sitzt, dem Hauptquartier der Oktoberrevolution von 1917. Niemand hielt sie auf, aber der Leiter der örtlichen Visum-Behörde erklärte, die Demonstranten wollten nur politisches Kapital in bare Münze umsetzen, deshalb fänden solche Kundgebungen »kein Verständnis, geschweige denn Unterstützung in Leningrad«.
Er gab damit eine im Sowjetland verbreitete Stimmung wieder, die sich gleichfalls mit den neuen Freiheiten artikuliert. Als im Februar eine kleine Schar von Juden in der Moskauer Fußgängerzone Arbat für ihre Ausreise demonstrierte, stieß sie unter den Augen der Polizei auf jugendliche Schläger, die aus dem Vorort Ljuberzy gekommen waren.
Dort, in den Betonburgen des sozialen Wohnungsbaus, machen sich junge Leute zuhauf in Bodybuilding-Schulen fit für private Streifengänge durch Diskotheken und U-Bahnhöfe, um die Hauptstadt »von dekadenten, verwestlichten Elementen zu säubern« (so sagten es einige im Fernsehen).
Ihr Ordnungssinn trifft Langhaarige, Punker, Rock-Fans und Leute, die sie für Juden halten. Es gibt Verletzte, gar Tote. Die Aufräumer ("Ljubery") tragen Kluft: Hosen mit aufgesetzten Taschen, Käppis, schwarze Lederschlipse.
Im Gorki-Park kam es zu einem Zusammenstoß mit Betroffenen, die sich zur Wehr setzten. Am 22. Februar demonstrierten Hunderte auf dem Kalinin-Prospekt mit Plakaten gegen die Ljubery.
Für konservative Erwachsene sammelt sich im ganzen Land unter dem Namen »Pamjat« (Gedenken) eine Bürgerinitiative zwecks Erhaltung russischer Kulturdenkmäler, eine stockreaktionäre Pressure-group. Den Obskuranten-Verein leitet ein parteiloser Photograph namens Wassiljew.
Seine Organisation »Pamjat« verkündete ernsthaft: »Vor der Unterdrückung durch Juden und Freimaurer vermag uns nur das KGB zu bewahren.« Dazu die Parteijugendzeitung »Komsomolskaja prawda": »Ein giftiges Gebräu von Antisemitismus unter der Maske von ,Leninismus'' und ,Patriotismus''.«
Ein »Pamjat«-Mitglied wurde aus der Partei ausgeschlossen: der Halbleiter-Spezialist Kasanzew aus dem sibirischen Wissenschaftszentrum Akademgorodok, das einen Hort nicht nur von Reformern sondern auch ihrer Gegner darstellt. Kasanzew hatte führende Gorbatschow-Berater des »Zionismus« und der Freimaurerei bezichtigt.
Am 6. Mai marschierten 400 »Pamjat«-Anhänger ungehindert durch die Moskauer Innenstadt. Ihre Transparente verlangten Landschaftsschutz, Anerkennung der Demonstranten als »Patriotische Vereinigung«, langes Leben für den Leninismus und »Nieder mit den Juden«. Der Chef der städtischen Parteiorganisation, Politbüro-Kandidat Boris Jelzin, und Bürgermeister Saikin empfingen anschließend den »Pamjat«-Vorstand zu einem dreistündigen Gespräch.
Solches Entgegenkommen fördert die Lust am Demonstrieren. Vier Tage später zogen 200 nicht näher identifizierte Jugendliche »mit Parolen und Transparenten, die im Grunde nichts mit unserer Realität zu tun hatten«, über den Gogol-Boulevard, beschwerte sich Polizeihauptmann Solnzew im Fernsehen über die Kolonne: »Eingehakt, auf der Fahrbahn, unbekümmert um die Verkehrsregeln, rempeln Fußgänger an.«
Da schlug die Polizei so zu, daß auch eine Anzahl Unbeteiligter ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte. Die »Komsomolskaja prawda« berichtete später von vielen Briefen älterer Leser, die gegen Musik, Mode, Frisuren, Filme und Veranstaltungen, welche der Sowjetjugend von heute gefallen, »Millionen von Verbotsgründen« nennen. Ein Brief zur Demonstration auf dem Gogol-Boulevard: »Die sind ja ganz besoffen von dieser Demokratie.«
»Glasnost, Demokratie, Gorbatschow« skandierten denn auch Krim-Tataren neben dem ZK-Gebäude, nachdem sie vom Kreml abgezogen waren: Gromyko empfing ihre 21 Sprecher, die eine Wiederherstellung ihrer Autonomen Sowjetrepublik verlangten.
Der Staatschef hielt entgegen, auf der Krim sei kaum noch Platz für Zuwanderer; die Heimatvertriebenen rechneten vor, bei Rückkehr der Ausgesiedelten sei die Halbinsel am Schwarzen Meer nur so dicht bevölkert wie Belgien.
Tonbänder vom Gipfelgespräch führten die Delegierten hernach Landsleuten im Ismailowski-Park vor - nun waren es schon 1000. Jeden Tag legen mehr Tataren ihre Arbeit in der Provinz nieder und reisen nach Moskau. Sie beraten über einen Massen-Hungerstreik. _(Am 6. Mai, mit Transparenten für ) _(Anerkennung als »Patriotische ) _(Vereinigung« und für Landschaftsschutz. )
[Grafiktext]
VIELVÖLKERSTAAT SOWJET-UNION Nichtrussische Sowjetrepubliken ESTLAND LETTLAND LITAUEN BELO-RUSSLAND UKRAINEMOLDAUISCHE REPUBLIK GEORGIEN KIRGISIEN RUSSISCHE SOZIALISTISCHE FÖDERATIVE SOWJETREPUBLIK ARMENIEN USBEKISTAN ASERBAIDSCHAN TADSCHIKISTAN KASACHSTAN UMSIEDLUNG DER KRIM-TATAREN 1944 nach Usbekistan Siedlungsgebiet der Krim-Tataren bis 1944
[GrafiktextEnde]
Am 26. Juli.Am 6. Mai, mit Transparenten für Anerkennung als »PatriotischeVereinigung« und für Landschaftsschutz.