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USA Verlorene Einwohner

Öffentliche Gelder werden entsprechend der Einwohnerzahl verteilt. Einer Volkszählung wollen sich viele Einwohner entziehen.
aus DER SPIEGEL 26/1980

Der Einsatz der Kopfjäger war generalstabsmäßig geplant. Nachmittags erhielten sie die letzten Anweisungen; als es dunkel wurde, schwärmten sie aus.

In New York stießen Trupps in die Bowery vor, die Straße der Säufer und Penner. In Washington gingen sie vor den Porno-Kinos in der 14. Straße in Stellung. In Chicago klopften Zweier-Kommandos an die Pforten der Hospize in der Innenstadt: »Aufmachen, Volkszählung]«

Über 200 000 amerikanische Männer und Frauen, die sich selbst ironisch »Headhunters« (Kopfjäger) nennen, hatten Großeinsatz. In der »M-night«, so die Abkürzung für das Kodewort »Missions-Nacht«, sollten die Beauftragten des US-Zensus-Büros jene Menschen in den Vereinigten Staaten erfassen, die keine Postanschrift haben.

Sie fanden die Heimatlosen auf Bus-Bahnhöfen und in Stadtparks, in Obdachlosenasylen und Ausnüchterungszellen. Sie redeten ihnen gut zu: »Beantworten Sie unsere Fragen, damit wir ein Zensusformular ausfüllen können. Es schadet Ihnen nicht, und es nutzt Amerika.«

Die »Missions-Nacht« war eine Aktion innerhalb des gegenwärtig stattfindenden Zensus 1980: Im März hatten Haushalte, durch das Zensusbüro in monatelanger Vorbereitungsarbeit erfaßt, Fragebögen erhalten. Die sollten am 1. April ausgefüllt und zurückgeschickt werden: »Porto bezahlt Empfänger.«

Jetzt melden sich die Männer und Frauen mit den gestreiften Zensus-Taschen auch persönlich. Sie rufen an oder machen Hausbesuche bei jenen, die ihre Fragebögen noch nicht zurückgeschickt haben.

Zum Jahresende soll nämlich dem Präsidenten der USA eine vollständige Statistik über die Bewohner seines Landes vorgelegt werden. Alle zehn Jahre, so fordert die Verfassung der Vereinigten Staaten, muß das Volk gezählt werden. Zensus-Resultat von 1970: 203,2 Millionen Einwohner. Schätzung für das Ergebnis von 1980: über 221,5 Millionen.

Die Volkszählung ist eine Sisyphusarbeit in einem Riesenland, in das Monat für Monat Wellen von Zuwanderern fluten, das keine Meldepflicht kennt und in dem vielerorts Geburten und Sterbefälle, wenn überhaupt, nur von den Kirchen registriert werden.

Der Aufwand macht Sinn, denn:

* Die Einwohnerzahl entscheidet darüber, wie viele Abgeordnete ein Bundesstaat nach Washington ins Repräsentantenhaus entsendet.

* Öffentliche Gelder -- gegenwärtig rund 50 Milliarden Dollar jährlich für Projekte vom Straßenbau bis zu Ausbildungsprogrammen für Jugendliche -- werden aufgrund der Einwohnerzahlen an Städte und Kreise verteilt.

* Regierung und Wirtschaft erhalten Grundlagenmaterial für die Planung von Projekten, etwa die Standortbestimmung von Fabriken.

Dennoch gehen Hunderttausende vor den Volkszählern in Deckung wie vor Steuereintreibern: Väter, die keine Alimente zahlen, Kreditschuldner, religiöse Fanatiker, vor allem aber illegale Einwanderer (geschätzte Zahl: zwischen fünf und zehn Millionen) und schließlich all jene vielen Amerikaner, die grundsätzlich kein Vertrauen zu den Behörden haben.

Die Zählunwilligen leben vor allem in den Slums. »Diejenigen, die am meisten gewinnen könnten«, meinte der »Christian Science Monitor«, »sind am schwersten zu zählen.« Regionalpolitiker beklagen, daß ihnen für jeden nicht erfaßten Bürger jährlich bis zu 200 Dollar an Bundesgeldern entgehen.

»Verlorene Einwohner« belasten vor allem die Städte. New Yorks Verwaltung schätzt, daß ihr 1978 über 10,7 Millionen Dollar an Steuer-Umverteilungsgeldern entgangen seien, weil der Zensus von 1970 Hunderttausende in der Stadt nicht erfaßt habe.

Landesweit, so schätzt das Zensusbüro, wurden 1970 rund 5,2 Millionen Menschen nicht erfaßt -- etwa soviel wie die Einwohner von West-Berlin, Hamburg und München zusammen.

Im New Yorker Stadtteil South Bronx gingen Baseball- und Footballhelden in Schulen und baten Teenager, ihren Eltern zu erklären, wie wichtig es sei, die Zensus-Formulare auszufüllen. Unter den Zugewanderten aus Lateinamerika verbreiteten vor allem Priester diese Botschaft.

Die Geistlichen können sogar illegalen Einwanderern verkünden: »Fürchtet euch nicht vor dem Zensus.« Washington möchte nämlich alle erfassen, die in den USA leben, gleich ob rechtmäßig oder nicht. Denn die Verteilung der Bundesmittel richtet sich nach der Zahl der Einwohner, nicht der Staatsbürger.

Arizonas Gouverneur Bruce Babbitt war deshalb empört, als die staatliche Fremdenpolizei noch in der letzten Märzwoche 800 illegale Einwanderer aus Mexiko ausfindig machte und abschob. Nun würden die aufgeschreckten Latino-Zuwanderer keinem Zensus-Beamten mehr trauen.

Der Gouverneur setzte durch, daß in den nächsten drei Monaten in seinem Staat keine Razzien auf illegale Einwanderer veranstaltet werden. Die »Kopfjäger« von der Volkszählung sollen nicht gestört werden.

S.156Von Amerikanern im Grenzgebiet zwischen Mexiko und Kaliforniengefangengenommen.*

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