Verlorene Hoffnung der Einheit
Vor fünf Jahren war nirgendwo in der DDR die deutsche Einheit ein Thema - in keiner Werkskantine, in keiner Dissidentenwohnung, an keinem Biertisch, in keiner Redaktion. Die alleinherrschende SED ließ 39 Jahre DDR feiern, und ihre devoten christdemokratischen und liberalen Blockgenossen feierten mit.
Wir, das Volk, hakten die Rituale ab. Wir hofften darauf, daß der Trabi ein Jahr früher kommt und die nächste Westreise klappt - manchmal reichte jetzt ja schon der Geburtstag eines unbekannten Onkels.
Vor fünf Jahren wußte niemand, der nicht selbst ein Stasi-Spitzel war, was ein IM ist; kannte keiner den Namen Schalck-Golodkowski, obwohl jeder von ihm betrogen wurde; war die Ständige Vertretung der BRD für uns, das Volk, ein sternenweit entfernter Ort. Eingeladen wurden dorthin die Funktionäre und ein paar Prominente zur Garnitur, von denen, wie wir heute wissen, die Hälfte Stasi-Leute waren.
Die Vision von einem wiedervereinigten Deutschland war den meisten, im Osten wie im Westen, abhanden gekommen. Wie anders ist es zu erklären, daß uns die Einheit so unvorbereitet traf, daß es keinen Bauplan, nicht einmal Skizzen für das gemeinsame Haus gab? Daß wir überrascht und überrannt wurden vom aufbrandenden Ruf »Wir sind ein Volk«? Wir alle sind kleinmütig gewesen, waren nur auf das Machbare bedacht, haben uns mit dem Geringsten begnügt.
Das, so scheint es, tun wir, drei Jahre nach der Vereinigung, schon wieder: Dem Hochgefühl des Herbstes ''89 ist schmerzliche Ernüchterung gefolgt. Das konnte nicht anders sein. Dieser Aufbruch war so voller Leben, so voller Schöpferkraft, dem mußte die Ernüchterung folgen.
Nicht die Ernüchterung, nicht den Verlust von Illusionen beklage ich - ich beklage die verlorene Hoffnung, die ungenutzten Chancen, das bequeme Beharren, die Duldsamkeit. Ich beklage, daß unsere friedliche Revolution gescheitert ist. Daß die Botschaft von der Kraft der Gewaltlosigkeit nicht Teil unserer politischen Kultur geworden ist.
Ich beklage, daß wir nicht den Mut gehabt haben, das wiedervereinigte Deutschland zu einem anderen Deutschland zu machen. Es ist bloß eine größere Bundesrepublik geworden, mit alten, östlichen wie westlichen, Fehlern und Mängeln, die sich bei der Vereinigung potenziert haben.
Der stolze Ruf »Wir sind das Volk«, das war Protest gegen das Alte, gegen Diktatur und Entmündigung. »Wir sind das Volk«, das war der Aufbruch in die Demokratie. Das war wie ein Wunder, ein revolutionäres Wunder. Menschen, die demokratische Strukturen nie erlebt und erfahren hatten, wurden sich der eigenen Kraft bewußt. Sie wagten etwas, bewegten sich, ohne daß ein charismatischer Führer sie bewegt hätte.
Und waren entschlossen, ohne Gewalt die Gewalt der so lange allmächtig scheinenden Partei zu brechen. Ich mußte meinen Landsleuten Abbitte leisten, von denen ich gemeint hatte, die ändern sich nie.
Aber hatten sie sich geändert? Sie wagten die Freiheit nicht und riefen: »Wir sind ein Volk«. Damit war aller Mut verloren, der eigene Anspruch aufgegeben. Diesmal entmündigten sie sich selbst. Aber waren sie jemals mündig gewesen?
Ihre Hoffnung wurde kanalisiert: Es sollte alles so sein wie im Westen. Die Wiedervereinigung wurde unausweichlich.
Das war die Stunde der Machtbesessenen, im Osten wie im Westen. Die westdeutschen Parteien brachen über das Land herein und begruben unter sich alles, was sich eben geregt hatte. Mit maßloser Arroganz verkauften sie uns ihre Demokratie. Wenige haben sich gewehrt; die klägliche Schar der Dissidenten focht auf verlorenem Posten. Schon am Runden Tisch, wo wir Demokratie ganz elementar lebten, waren wir in Wirklichkeit abgeschlagen. Wir wußten es nur noch nicht.
Meinen Landsleuten im Osten kann ich verzeihen, daß sie mutlos waren und geblendet von der westdeutschen Wohlstandsdemokratie. Aber den Parteistrategen im Westen, die für sich das einzig Richtige, für uns aber das genau Falsche getan haben, denen verzeihe ich ihren Raubzug nicht.
Denn sie unterbrachen nicht nur das Mündigwerden, sie bedienten sich auch auf unerträgliche Weise der christdemokratischen und liberalen und nationalen Genossen, die eine DDR lang mit der SED kollaboriert hatten. Sie bedienten sich der Stasi-Knechte und Wirtschaftshöflinge, die für den Ruin des Landes jenseits der Elbe verantwortlich sind.
Machtpolitisch betrachtet mag das ein genialer Streich gewesen sein; auf die Moral in Deutschland aber wirkte es verheerend. Ganz sicher wäre anderes möglich gewesen: kein Dritter Weg, aber die geduldige Annäherung, Respekt vor dem, was auch im Osten gewachsen war und wofür die Bürgerbewegungen standen.
Politisch können wir die Wiedervereinigung abhaken, politisch ist sie vollzogen - die Machtpolitiker, scheint es, haben recht behalten. Bis aber die Gräben zwischen den Menschen von hier und dort geschlossen, bis die geistigen und kulturellen Mauern niedergerissen, die mentalen Unterschiede beseitigt werden, wird es noch eine Generation brauchen.
Nicht zufällig blüht im Osten eine merkwürdige DDR-Nostalgie. Ich meine damit nicht die Besinnung auf das Eigene - auf die Wurst aus Eberswalde, das Knäckebrot aus Burg, den Urlaub an der Ostsee, die Filme der Defa, die Rocklieder made in GDR, die Freunde in Warschau und Prag. Diese Besinnung auf das, was im eigentlichen Heimat war, ist heilsam.
Krankhaft aber, geradezu pervers, ist der verklärte Rückblick auf den Staat DDR und seine Unmenschlichkeit, ist das schnelle Vergessen der tausendfachen Erniedrigung, der Unfreiheit, der Entmündigung und Bespitzelung durch Stasi-Knechte, ist die Generalabsolution für den realen Sozialismus.
Ich bin mir sicher, daß, nicht anders als in Polen, bei den nächsten Wahlen Hunderttausende den SED-Erben ihre Stimme geben werden. Auch das ist eine bittere Konsequenz aus vielen Fehlern, die bei der Einigung gemacht worden sind. Auch im Westen sind viele, die sich ihre alte Bundesrepublik zurückträumen, wo alles so glatt und ordentlich lief. Mit dem Hauch Anarchie, den wir mitgebracht haben, wissen selbst die brav gewordenen Achtundsechziger nichts anzufangen, die beim langen Marsch durch die Labyrinthe der Macht längst die Orientierung verloren haben.
Schwer zu ertragen ist vor allem diese Hoffart, die sich selbst alles und uns nichts zutraut, dieser Dünkel, immer und in allem besser zu sein. Als ob es darauf ankäme, im Osten auch die letzte Westdummheit getreu zu kopieren, seien es längst überlebte Riten oder bloß dämliche Formulare, die in einem Undeutsch verfaßt sind, vor dem mir schaudert.
Ich werde mich nie an diese öden Einheitsboulevards mit den immer gleichen Geschäften gewöhnen, wo ich nie weiß, ob ich in Hamburg oder München bin. Ich werde mich nicht an die glatte Höflichkeit gewöhnen, die Interesse heuchelt, aber gleichzeitig dem Gehirn den Befehl zum Löschen gibt.
Ich werde mich nicht gewöhnen an die Bankpaläste und Prachtkirchen, die Wohlstandstempel sind. Ich werde mich nicht an die Obdachlosen und Bettler gewöhnen, an die Huren und rauschgiftsüchtigen Kinder. Ich werde mich nie an diese Wegwerfkultur gewöhnen. Daß ich frei bin, mich nicht gewöhnen zu müssen, das schätze ich hoch.
Vielen im Osten fällt die Orientierung schwer, besonders jungen Menschen. Sie haben einen Wandel aller Ideale und Werte erlebt, der tiefer nicht sein könnte. Sie haben erlebt, daß von heute auf morgen nichts mehr von dem galt, was ihnen heilig sein sollte. Daß aus gefürchteten Autoritäten verachtete Kreaturen wurden, aus Feinden Landsleute und aus Freunden Fremde. Daß die hehre Idee, der sich 40 Jahre lang alles unterzuordnen hatte, auf ewig zum gescheiterten Experiment erklärt wurde.
Noch ist es nicht gelungen, diese Leere zu füllen. Es mangelt an Visionen, an der großen Idee, die die Kräfte bündeln könnte. In dieser Situation hatten und haben Verführer und falsche Propheten ein leichtes Spiel.
Europa könnte die Vision sein, die Deutschland eint und aus der uns die Kraft zufließt für ein neues Wertgefüge. Aber dem steht noch viel entgegen. Vor allem besorgen mich die restaurativen Tendenzen, die sich wie Mehltau über das Land legen. Anstatt uns nach der Wiedervereinigung endgültig zu öffnen, schotten wir uns immer mehr ab. Anstatt Brücke zu sein zwischen dem westlichen und östlichen Europa, pflegen wir eine wiedererstandene Nationalstaatlichkeit.
Kostbare Erfahrungen werden immer leichtfertiger mißachtet: 40 Jahre galt in der alten Bundesrepublik ein großzügiges Recht auf Asyl für politisch Verfolgte. Nun, vier Jahre nach dem Fall der Mauer, ist es abgeschafft. Das ist die schlimmste Sünde des wiedervereinigten Deutschland.
40 Jahre lang war es Konsens, daß deutsche Soldaten außerhalb des Bündnisgebietes nichts zu suchen haben. Nun sind deutsche Soldaten in einem sinnlosen Einsatz in Afrika, und der Verteidigungsminister darf ungestraft tönen, daß die Bundeswehr wieder ein Mittel der deutschen Außenpolitik ist.
40 Jahre lang waren Kirche und Staat in der DDR getrennt. Nun hilft der deutsche Kanzler in Berlin bei der Weihe des Deutschen Doms. 40 Jahre lang flossen Rhein und Mosel demokratisch zusammen. Nun hält der Kaiser wieder die Wacht am Rhein. Das ewige Gestern droht alle Zukunft in unserem Land zu ersticken.
Es ist nicht gelungen, die Impulse, die von der friedlichen Revolution in der DDR ausgegangen sind, zu tiefen Veränderungen in ganz Deutschland zu nutzen. Im Gegenteil: Vielfach wurde bereits erkämpftes Terrain wieder aufgegeben.
Wir müssen begreifen, daß wir, die Ostdeutschen und die Westdeutschen, gemeinsam für dieses Land verantwortlich und sowohl Schuldner als auch Gläubiger sind. 40 Jahre Bundesrepublik sind nun auch meine Geschichte, ob ich es will oder nicht: Ich bin nicht nur Nutznießer dieser Geschichte, sondern hafte auch für alle Fehler und falschen Entwicklungen. Und auch die Westdeutschen sind in die Pflicht genommen für alles, was in der DDR geschah.
Die Deutschen im vereinigten Deutschland sind dieser Herausforderung nicht gewachsen. Es ist uns noch nicht einmal gelungen, die zwölf Jahre Nazidiktatur ehrlich und schonungslos in die Geschichte des eigenen Volkes zu integrieren, noch verdrängen oder beschönigen wir. Erst recht gilt das für die 40 Jahre der Trennung. Wir sind hilflos im Angesicht der Schuld, unfähig, uns wirklich in das andere Land zu begeben.
Was soll ich zu dem sagen, was in Bad Kleinen geschah? Was sich dort ereignete, war ausschließlich die Folge von nicht ausgetragenen Konflikten in Westdeutschland. Und doch habe auch ich nun dafür zu haften.
Was sollen andererseits die Westdeutschen zu all den Stasi-Verstrickungen der Ostdeutschen sagen, zu aller Angst und allem Mut der Opfer, zum brutalen und lächerlichen Eifer der Stasi-Knechte? Und doch ist das nun auch ihre Sache, auch wenn sie es ignorieren möchten - auch sie haften nun dafür.
Hier trennen uns immer noch Welten.
Wenn nun der Verteidigungsminister ausgerechnet die Bundeswehr als Beispiel für die gelungene Wiedervereinigung lobt, dann ist das eine unvorstellbare Torheit. Vor zehn Jahren noch wurde jeder kommunistische Briefträger und Lokführer gnadenlos aus dem Öffentlichen Dienst entlassen. Heute dienen überzeugte Kommunisten beim »Klassenfeind« in der Bundeswehr. Haben diese Offiziere sich wirklich gewandelt, sind innerhalb von Wochen zu Demokraten geworden?
Oder haben sie, die ausnahmslos Mitglieder der SED und besonders tüchtige Genossen waren, mit der Wiedervereinigung ihre Überzeugung wie die Uniform gewechselt, sind zum Feind übergelaufen, damit sie weiterhin Sold erhalten? Ich bezweifle nicht, daß mancher umgedacht und sich geändert hat. Die das wirklich getan haben, haben den Dienst quittiert.
Nicht weniger übel ist, was in der Wirtschaft geschieht. Natürlich ist es ein gigantisches Vorhaben, eine sozialistische Kommandowirtschaft in eine Marktwirtschaft zu transformieren. Und natürlich müssen dabei Fehler gemacht werden. Und natürlich ist ein solcher Umbruch auch die Stunde der Gauner und Gangster, denen es um den schnellen Profit geht.
Unverzeihlich aber ist, daß sich die westdeutsche Wirtschaft beim Umbau ohne Skrupel derer bedient hat, die für das Desaster verantwortlich sind. Daß kriminelle Wirtschaftsgenossen selbst in der Treuhand Unterschlupf fanden, Bürgerrechtler hingegen bei westdeutschen Unternehmen kaum eine Chance haben, weil sie als nicht angepaßt gelten.
Eine derartige Negativauslese muß zu Verwerfungen führen, die den Einigungsprozeß belasten. Die Erfahrung, daß der Rechtsstaat nicht Gerechtigkeit schaffen kann, war für viele Ostdeutsche überaus bitter und hat zu grundsätzlichen Zweifeln an dieser Gesellschaft geführt. Wie das mißachtet und mißbraucht wird, was die Bürgerinnen und Bürger in der DDR erarbeitet hatten, so bescheiden es auch gewesen sein mag, hat vielen die Freude an der Einheit verdorben.
Ich gebrauche das Wort von den Errungenschaften der DDR nur ungern, weil ich weiß, welchen Preis wir zu zahlen hatten. Aber nichts davon gelten zu lassen, statt dessen das westdeutsche Modell bis ins dümmste Detail hinein zu kopieren, ist entwürdigend und verletzend für uns im Osten. Y _(Konrad Weiß, 51, kommt aus der ) _(ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung. Der ) _(Filmregisseur ist Abgeordneter des ) _(Bündnis 90/Grüne im Bundestag. )
»Das ewige Gestern droht alle Zukunft in unserem Land zu ersticken«
Konrad Weiß, 51, kommt aus der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung.Der Filmregisseur ist Abgeordneter des Bündnis 90/Grüne imBundestag.