UMWELT Vernageln, verschweißen
Petersilie und Rhabarber im Hausgarten der Berliner Familie Ziebuhr sind selbst amtlichen Umweltschützern nicht ganz geheuer. Der Genuß der Produkte, verriet einer von ihnen der verunsicherten Hausfrau, sei vergleichbar »mit dem Zigarettenrauchen« - da trage jeder sein eigenes Risiko.
Das ist nicht ohne. Die Marienfelder Grünzelle ist der Akkumulatorenfabrik »Sonnenschein« benachbart, die mit diffusem Bleistaubausstoß seit Jahren in der Umgebung »unfaßbar große Verunreinigungen« bewirkt, wie der TU-Professor Günter Axt es ausdrückt.
Am Mittwoch vergangener Woche erhielt Frau Ziebuhr in Sachen Küchenkräuter weitere Belehrung. »Eine Erhöhung der Blutbleiwerte«, dozierte diesmal der Zweite Senat des Berliner Oberverwaltungsgerichts (OVG), hänge »entscheidend von der Menge der verzehrten bleikontaminierten Gartenfrüchte« ab. Beschränkung auf den »üblichen gelegentlichen Verzehr« sei gefahrlos.
Die Ernährungs-Einlage ist Teil eines Spruchs, mit dem das Gericht den Antrag von Anwohnern auf sofortige Stillegung wesentlicher Anlagenteile des Betriebs abwies. Die Batteriefabrik, 235 Beschäftigte, 90 Millionen Mark Jahresumsatz und wie das hessische Stammwerk im Eigentum der Familie des Postministers Schwarz-Schilling, darf voll weiterproduzieren.
Nach den Feststellungen des OVG, getroffen im Eilverfahren, gibt es für »eine akute Gesundheitsgefährdung« keine Anhaltspunkte. Die betroffenen Bürger hätten nicht »glaubhaft« machen können, »daß ihnen ein Rechtsanspruch auf die Betriebsstillegung zusteht«.
Damit wurde, auf die Beschwerde der Firma hin, eine einstweilige Anordnung des Berliner Verwaltungsgerichts rechtskräftig aufgehoben. Die hatte wegen diverser Umweltverstöße - entgegen bindender Vorschriften des Bundesimmissionsschutzgesetzes waren unter anderem Bleischmelzöfen ohne Genehmigung betrieben worden - im Anwohner-Interesse die Schließung ganzer Betriebstrakte verfügt (SPIEGEL 26/1985).
Das OVG zog freilich weder aus dem illegalen Betrieb solcher Anlagen noch aus der Täuschung der Aufsichtsbehörden durch den Betrieb Konsequenzen. Faktum sei zwar die »nachhaltige Unbekümmertheit«, mit der »Sonnenschein« bis 1980 behördlichen Auflagen begegnete; auffallend auch die »Geduld, mit der die Behörde die unzulängliche Beachtung ihrer Anordnungen hinnahm«. Doch seither hätte Berlins Umweltbehörde umfassende Maßnahmen getroffen, mit denen sie die Umweltgefahren »unter Kontrolle halten« könne.
Der Verweis der Richter auf »differenzierte, weniger einschneidende Mittel« als einen Produktionsstopp, letztlich begründet mit der Hoffnung auf eine 1984 verfügte Betriebssanierung, entsprang simpler Güterabwägung. »Sonnenschein« hatte für den Fall richterlicher Fertigungs-Blockade die Fortexistenz des ganzen Zweigwerks in Frage gestellt. Der Verlust von Arbeitsplätzen gehöre, so das OVG, »zu den im privaten Interesse der Arbeiter und im öffentlichen Interesse ins Gewicht fallenden, möglicherweise irreparablen Folgen einer derartigen Anordnung«.
Sosehr der ökonomische Aspekt einleuchten mag - für das Umweltrecht _(Bei einem Ortstermin am ) _("Sonnenschein«-Gelände. )
bedeutet der Beschluß einen Rückschritt. Nach Ansicht des Gerichts hätten beispielsweise Gutachter zwar Belege für extreme Bleibelastungen in der Umgebung des Werks, aber in keinem Fall den Nachweis einer unmittelbaren Gesundheitsgefährdung erbringen können.
Der Berliner Anwalt Reiner Geulen, Rechtsvertreter der klagenden Bürger, verweist auf mehrere Entscheidungen westdeutscher Oberverwaltungsgerichte, die eine Betriebsstillegung auch ohne den Nachweis einer Umweltgefährdung billigten, wenn die vorgeschriebene Genehmigung fehlte. Auch der führende Kommentator des Immissionsschutzgesetzes Gerhard Feldhaus sieht im illegalen Betrieb einer solchen Anlage »stets eine Quelle erheblicher Gefahren«.
Geulen fürchtet schon, im Land Berlin würden künftig Nachbarn erst dann die Stillegung eines Betriebes erzwingen können, »wenn beispielsweise schon erhebliche Überhöhungen des Blutbleigehaltes bei Kindern eingetreten sind«.
Demonstrativ verließen »Sonnenschein«-Anrainer wie Mitstreiter einer Bürgerinitiative »Sonne statt Blei« die Beschlußverkündung durch den Senatsvorsitzenden Professor Albrecht Grundei - die Antragsteller haben auch noch die Verfahrenskosten von rund 30000 Mark zu zahlen. Trost mögen sie allenfalls darin sehen, daß trotz der Niederlage vor Gericht Schutzvorkehrungen in der Fabrik getroffen werden sollen.
Am Tag der Verhandlung hatte der Vertreter der Umweltbehörde ein Paket amtlicher Papiere aus der Aktentasche gezogen: 50 Einzelanordnungen an den Betrieb, alle mit ultimativem Inhalt.
Vom Einbau von »Hochleistungs-Gewebefiltern« war da die Rede bis hin zum »Vernageln oder Verschweißen« sämtlicher Fensteröffnungen in den Produktionsbereichen. Selbst die Werksdächer seien künftig »mit einem hochabscheidenden Industriestaubsauger zu reinigen und danach naß abzuwaschen« - im Falle der Nichterfüllung drohen Zwangsgelder und Geldbuße von 15000 bis 100000 Mark.
Einige dieser Vorkehrungen waren dem Unternehmen 1979 auferlegt worden. Damals wurden sie ignoriert. Werden die Auflagen nun erfüllt, müßte sich die Umweltbelastung im Berliner Süden drastisch mindern. Für Berlins FDP-Umweltsenator Horst Vetter würde das auch politisch Luft schaffen, nicht nur die parlamentarische Opposition bemängelte bei ihm in der Vergangenheit laxen Umgang mit den »Sonnenschein«-Leuten.
Aus dem Obligo wäre Vetter dabei ebensowenig wie der christdemokratische Bundespostminister, der 25 Jahre lang, bis 1982, den »Sonnenschein«-Betrieb führte. Neben dem Verwaltungsgerichtsverfahren laufen gegen beide Politiker wie auch gegen weitere »Sonnenschein«-Verantwortliche strafrechtliche Ermittlungen wegen des Verdachts von Umweltstraftaten.
Bei einem Ortstermin am »Sonnenschein«-Gelände.