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FRANKREICH / ANTI-AMERIKANISMUS Verrat im Dschungel

aus DER SPIEGEL 14/1964

Mit einem Ruck öffnete der Fallschirmspringer die Kabinentür des Flugzeugs. Pierre Messmer, Hauptmann im französischen Generalstab, sprang im Hochsommer 1945 über dem von japanischen Truppen besetzten Französisch-Indochina ab. Langsam segelte er zu Boden.

Immer wieder prägte sich der Hauptmann die Instruktion ein, die ihm sein Chef Charles de Gaulle mit auf den Weg gegeben hatte: Hauptmann Messmer sollte wenige Tage vor der Kapitulation Japans an der Spitze eines Einsatztrupps in Französisch-Indochina zur Stelle sein, um die japanischen Besatzer durch eine französische Verwaltung abzulösen.

Der Emissär de Gaulles kam nicht weit. Schon wenige Stunden nach Messmers Landung umstellten ihn kommunistische Rebellen, die sich die letzten Stunden der Herrschaft des Tennos für eigene Pläne zunutze gemacht hatten, und verhafteten den Hauptmann.

Die Rebellen schleppten Messmer in ihr Hauptquartier und sperrten ihn in einen Bambuskäfig. Dort schöpfte der Häftling neue Hoffnung: Er erfuhr, daß sich im Hauptquartier der Rebellen ein Kommando des amerikanischen Geheimdienstes OSS aufhielt, das den Nachschub für die Kommunisten regelte.

Messmer kontaktierte die Amerikaner und bat, seine Freilassung zu erwirken, Doch die US-Geheimdienstler lehnten ab. Frankreich, so belehrten sie den Gefangenen, habe in Indochina ausgespielt; es werde kein französisches Kolonialreich mehr geben.

Zur gleichen Zeit saß Résistance -Führer Jean Sainteny, von de Gaulle zum Kommissar der Französischen Republik für Tongking und Nordannam ernannt, in der südchinesischen Stadt Kunming und mühte sich, nach Indochina durchzukommen.

Während Depeschen aus Paris bereits den Anmarsch einer französischen Truppe unter dem Oberstleutnant Jacques Massu ankündigten, verweigerte das Kommando der US-Luftwaffe in Kunming dem Kommissar Sainteny jede Unterstützung. Als der Franzose endlich über eigene Flugzeuge verfügte, verbot das US-Kommando deren Start.

»Wir haben es«, funkte Sainteny an seine Vorgesetzten, »mit einem bewußten Manöver der Alliierten zu tun, das bezweckt, die Frarnzosen aus Indochina zu verjagen. Im Augenblick schadet uns die Haltung der Alliierten mehr als jene der (kommunistischen) Vietminh.«

Noch heftiger reagierten Tausende französischer Soldaten und Beamter, die in Indochina hinter dem Stacheldraht japanischer Gefangenenlager saßen. Im März 1945 von den japanischen Besatzern eingekerkert, wurden die Franzosen nun von kommunistischen Freischärlern unter Kontrolle amerikanischer Offiziere bewacht.

Erst die Intervention de Gaulles und die Hilfe Englands öffneten Indochina im Herbst 1945 wieder den Franzosen freilich nur auf kurze Zeit, denn 1954 fiel Frankreichs Kolonialreich in Südostasien vollends an Nationalisten und Kommunisten.

Viele Franzosen konnten nie verwinden, was ihnen als amerikanischer Verrat erschien. Zudem sind die Bedrängten von damals die Regenten von heute: Charles de Gaulle steht als schier allmächtiger Staatschef an der Spitze Frankreichs, Pierre Messmer ist sein Verteidigungsminister, Jean Sainteny dient in der Regierung als Minister für Veteranen und Kriegsopfer, und General Massu, Befehlshaber des »Corps de Bataille« in Elsaß-Lothringen, gehört zu den prominentesten Soldaten der Fünften Republik.

Mehr noch: In der Armee des heutigen Frankreich kommandieren Hunderte von Obersten und Majoren, die als junge Leutnants in den US-verwalteten Gefangenenlagern von Indochina saßen und bei jedem Kameradschaftstreffen die Abneigung gegen Amerika aufs neue kultivieren.

»Das alles«, urteilt ein amerikanischer Experte, »muß einmal öffentlich gesagt werden, denn es klärt bis zu den Wurzeln hin die Frage, warum es heute keine westliche Einheitsfront in Südostasien gibt und warum sich de Gaulle als so schwierig erweist. Sieht man die Vergangenheit, dann hat Frankreich nicht den geringsten Grund, amerikanischen Taten zu trauen.«

Der Experte heißt Bernard B. Fall, ist Professor für Internationale Politik an der amerikanischen Howard University, gilt als Vietnam-Spezialist der USA und hat das Verdienst, in seinem kürzlich erschienenen Buch »Die zwei Vietnams« ein historisch-psychologisches Motiv der gaullistischen Amerikafeindlichkeit freigelegt zu haben*.

Fall behauptet: »Bis zur Veröffentlichung meines Buches wurde das vorhandene Material (über die Episode von 1945), obwohl es keineswegs auf der Liste der Staatsgeheimnisse steht, vor der amerikanischen Öffentlichkeit versteckt, vermutlich deshalb, weil es so gar nicht in das klischeehafte Bild des 'ehrlichen Maklers' paßt, das die amerikanische Diplomatie gerne von sich zeichnet.«

Polit-Professor Fall bearbeitete die Akten des Historischen Archivs der französischen Armee, interviewte amerikanische und französische Indochina -Veteranen und benutzte die 1962 vom State Department veröffentlichten Papiere über die amerikanische Fernostpolitik während des Zweiten Weltkrieges.

Aus diesen Mosaiksteinen setzte sich Fall das Gesamtbild einer amerikanischen Außenpolitik zusammen, die seit dem Kriegseintritt der USA das Ziel verfolgte, der französischen Herrschaft in Indochina, die nach dem Einmarsch japanischer Truppen im September 1940 ohnehin nur noch eine Farce war, ein Ende zu setzen.

Autor des Plans war Amerikas demokratischer Präsident Franklin Delano Roosevelt, der - im Unterschied zu der Francophilie vieler seiner Landsleute - schon in seiner Jugendzeit Frankreich als eine morbide, hochmütige und imperialistische Nation erkannte.

»Glaube nur nicht, daß heute Amerikaner sterben würden, wären die Franzosen nicht von einer kurzsichtigen Gier (nach fremden Völkern) besessen«, sagte der Präsident im Jahre 1943 zu seinem Sohn Elliott. Der 53jährige General de Gaulle erfuhr, Roosevelt habe gefordert, »jeder, der älter als 40 Jahre ist«, müsse »aus einer künftigen französischen Regierung entfernt werden«.

Die besondere Abneigung des Präsidenten aber galt dem französischen Kolonialregime in Indochina. Antikolonialist Roosevelt: »Die Eingeborenen von Indochina sind (von den Franzosen) so übel niedergetreten worden, daß sie sich selber sagen, jedes andere Schicksal müsse besser sein, als weiterhin unter französischer Herrschaft zu leben.«

Warum dem Staatschef Roosevelt gerade die Franzosenherrschaft in Indochina so verhaßt war, kann Geschichtsdetektiv Fall kaum rational erklären. Er erwähnt allerdings den französischen Historiker Georges Taboulet, der eine »interessante Theorie« aufgestellt habe.

Taboulets Theorie: Roosevelts Franzosenhaß stamme von seinem Großvater mütterlicherseits, dem China-Kaufmann Warren Delano, der im Jahre 1867 eine riesige Geldsumme in Indochina eingebüßt habe, weil er zwei ihm gehörende Ländereien in der Nähe des Saigon -Flusses voreilig verkaufte - Ländereien, die heute zu den teuersten Plätzen Saigons gehören.

1943 schlug Roosevelt vor, Frankreich alle Hoheitsrechte über Indochina abzuerkennen und die Kolonie unter eine Treuhand-Verwaltung Amerikas, Chinas und Großbritanniens zu stellen.

Später redete er dem chinesischen Staatschef Tschiang Kai-schek ein, das Reich der Mitte solle sich Indochina einverleiben. Tschiang erwies sich als besserer Kenner der Geschichte: Eingedenk des jahrtausendealten Kampfes zwischen China und seinen südlichen Nachbarn lehnte er dankend ab.

Daraufhin brachte Roosevelt die Russen ins Spiel; sie sollten ebenfalls einen Sitz im Treuhänderrat erhalten. Begründung: »Die Russen wohnen auch an der Küste des Pazifik.«

Roosevelts Projekte verblaßten jedoch schnell, als die Franzosen in Indochina zur Gegenoffensive schritten. Denn die französische Indochina-Armee war trotz der japanischen Besetzung des Landes intakt geblieben, wenn auch die Japaner die Poilus mißtrauisch beobachteten**.

Ende 1944 liefen in den alliierten Generalstäben Meldungen ein, die einen Aufstand des französischen Heeres gegen die japanischen Besatzer in Aussicht stellten.

Die drei französischen Indochina-Generäle Mordant, Alessandri und Sabattier hatten sich zu einer Oppositionsgruppe zusammengeschlossen und den Plan für einen Zweifrontenkrieg gegen die Japaner ausgearbeitet: Die französische Armee wollte sich gegen die japanischen Truppen in Indochina erheben, während die Alliierten von Burma oder Yünnan aus nach Französisch-Indochina vorstoßen sollten.

Roosevelt legte sofort sein Veto ein. US-Außenminister Hull erfuhr von ihm: »Hinsichtlich der Widerstandsgruppen in Indochina sollten wir nichts unternehmen.« Am 3. November 1944 befahl Roosevelt, gegenüber allen militärischen Plänen Frankreichs sei Distanz zu halten.

Folgert Fall: »Übersetzt in konkrete militärische Kategorien, bedeuteten diese Instruktionen ein automatisches Todesurteil für jeden französischen Versuch, im Falle eines japanischen Angriffes organisierten Widerstand zu leisten. Und genauso geschah es.«

Denn auch dem japanischen Geheimdienst waren die Vorbereitungen der französischen Indochina-Generäle nicht verborgen geblieben. Am Abend des 9. März 1945 gegen 21.30 Uhr umstellten japanische Truppen schlagartig die Kasernen der französischen Verbände.

Nur die Generäle Sabattier und Alessandri wurden rechtzeitig gewarnt. Sie alarmierten sofort ihre Truppen und brachen mit ihnen in Richtung der Thai -Berge durch. Auf den Flugplätzen von Dien-Bien-Phu und Son-La igelten sich die Franzosen gegen die nachsetzenden Japaner ein und forderten von den

Amerikanern Nachschub und Waffen an. Der Befehlshaber der nächstliegenden US-Luftstreitkräfte, General Claire L. Chennault in der benachbarten China -Provinz Yünnan, sandte umgehend seine Aufklärer aus, um den bedrängten Franzosen zu helfen. Da lähmte Washington die Initiative Chennaults.

»Ich erhielt den Befehl«, bezeugt der mit einer Chinesin verheiratete Chennault, »unter keinen Umständen seien Waffen und Munition an die französischen Truppen auszugeben. Die Befehle, den Franzosen nicht zu helfen, kamen direkt vom Kriegsministerium. Offenbar war es damals die Politik Amerikas, Indochina nicht wieder an die Franzosen zurückzugeben.«

Die freien französischen Truppen aber waren der Vernichtung preisgegeben. General Sabattier fing den letzten Funkspruch

des von Japanern heftig angegriffenen Forts Lang-Son auf: »Halten noch drei Viertel der Zitadelle - kein Wasser - erbitten Luftunterstützung und Versorgung - wo sind die Amerikaner? »

Als in letzter Minute die britische Luftwaffe der Garnison von Lang-Son zu Hilfe zu kommen versuchte, verbat sich das US-Kommando in China den vermeintlichen Eingriff in die amerikanische Kompetenz. Lang-Son mußte sich ergeben.

Die japanischen Eroberer von Lang -Son machten jeden Franzosen nieder. Fall: »Nur ein Mann überlebte. Man hatte ihn für tot gehalten und bei dem Leichenhaufen gelassen, der in einen offenen Graben geworfen worden war.«

Sabattier gab schließlich seinen restlichen Truppen den Befehl, sich auf chinesisches Gebiet durchzuschlagen. Wochenlang bahnten sich die Franzosen, vom Malariafieber geschüttelt und von den japanischen Verfolgern gehetzt, ihren Weg durch den Dschungel.

Mit 13 000 Mann hatte sich Sabattier im März der japanischen Verhaftungsaktion entzogen - nur 320 Offiziere und 5450 Soldaten erreichten lebend das rettende Yünnan,

Doch Charles de Gaulle war entschlossen, Indochina für Frankreich zu retten. Es war höchste Zeit: Noch ehe die japanischen Truppen am 15. August 1945 kapitulierten, rissen die Rebellen des KP-Chefs Ho Tschi-minh die Macht an sich und bildeten eine »Regierung der Demokratischen Republik Vietnam«, unbehindert von Frankreichs Alliierten.

Während chinesische Truppen Indochina nördlich und britische Truppen das Land südlich des 16. Breitengrades besetzten, erwärmten sich die amerikanischen Antikolonialisten immer mehr für die roten (damals noch in nationalistischer Gewandung operierenden) Rebellen, in denen Washington den Vortrupp des neuen, entkolonialisierten Asien sah.

Fünf Abteilungen des US-Geheimdienstes OSS hielten engsten Kontakt mit den Rebellen, US-Flugzeuge brachten aus China, Thailand und von den Philippinen amerikanisches Kriegsmaterial für Ho Tschi-minh, und amerikanische Berater saßen im Stabe des KP -Chefs.

Da kamen die Briten de Gaulle zu Hilfe. Englands kolonialstolzer Premier Winston Churchill hatte von Anfang an die Indochina-Projekte Roosevelts bekämpft, und ein Brite war es denn auch, der für den französischen Kolonialismus votierte: Generalmajor Gracey, Kommandeur der für Südindochina zuständigen britischen Truppen, befreite die Franzosen aus den Gefangenenlagern seiner Zone.

Kurz darauf trafen auch die von de Gaulle nach Indochina entsandten Truppen in der Kolonie ein. Zusammen mit den befreiten Poilus stellten die gelandeten Truppen bald die französische Herrschaft in Indochina wieder her.

Doch noch immer ließ Amerika nicht davon ab, Ho Tschi-minh zu unterstützen. Die Waffensendungen für die Rebellen waren zwar inzwischen gestoppt worden, aber an ihre Stelle traten sogenannte private US-Hilfsaktionen, die von den Philippinen ausgingen.

General Pierre Boyer de Latour, Befehlshaber der französischen Truppen im südlichen Indochina, kam auf eine waghalsige Idee: Er errichtete auf den Philippinen »ein gut arbeitendes Netz von Nachrichten- und Verbindungsagenten« (so der General) und ließ alle Schiffstransporte für die Vietminh-Rebellen beobachten. Außerhalb der philippinischen Hoheitsgewässer vernichteten dann französische U-Boote und Bomber die Transporter des amerikanischen Verbündeten.

»Die amerikanischen Kontakte zu Ho Tschi-minh«, kommentiert Professor Fall seine Geschichte, »kühlten sich ab, je mehr der kommunistische Charakter der Vietminh hervortrat. Aber der Kurswechsel kam zu spät, um das französische Mißtrauen zu beseitigen.«

* Bernard B. Fall: »The Two Viet-Nams«. Verlag Frederick A. Praeger, New York und London; 496 Seiten; 7,95 Dollar.

** Im September 1940 zwang Japan die Franzosen in Indochina, japanischen Truppen in der Kolonie ein Durchmarschrecht und andere militärische Privilegien einzuräumen. Japan entsandte 6000 Mann nach Indochina und besetzte in Tongking drei Stützpunkte, ließ aber formal die französische Oberhoheit bestehen.

Verbündete Roosevelt, de Gaulle, Churchill in Casablanca (1943): Alliierte verjagt

Indochina-Kämpfer Massu

Frankreichs Offiziere

Indochina-Kämpfer Messmer

... in einen Käfig gesperrt

US-General Chennault, Ehefrau*: Frankreichs Soldaten Waffen verweigert

KP-Chef Ho Tschi-minh, Sekretärin: US-Berater im Hauptquartier

* Bei Unterzeichnung der US-Einbürgerungspapiere 1950.

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