CDU Verrat in Münster
Außenpolitik machen, das muß gelernt sein. Konrad Adenauer auf einer Wahlkundgebung In Recklinghausen.
Der alte Mann, der den westdeutschen
Staat geschaffen und 14 Jahre lang regiert hat, CDU-Vorsitzender Konrad Adenauer, 89, ist ausgezogen, das Vaterland, seine Partei und den Wahlkampf zu retten. Seit vorletzter Woche reist der frühere Kanzler durch rheinische Lande und predigt über seine alten Thesen: Die Lage sei ernst und Deutschland vom Untergang bedroht.
Konrad Adenauer ist der einzige Politiker, der in dem bisher unpolitischsten Wahlkampf der bundesrepublikanischen Geschichte noch Politik machen will. Wie der Schriftsteller Günter Graß, der auf eigene Faust unter dem Motto »Dich singe ich, Demokratie« und zum Kummer der Sozialdemokraten für die SPD wirbt, kämpft Adenauer im Alleingang und ohne Rücksicht auf die Wünsche seiner Parteigenossen für die CDU. CDU/CSU-Fraktionschef Rainer Barzel letzte Woche: »Alle umstrittenen Wahlkampfthemen haben wir bislang selber geliefert.'
Im Unterschied zu früher sieht der Altkanzler die Gefahr diesmal nicht im
Osten, sondern im Westen. Er klagt die Angelsachsen, die Amerikaner, Engländer und Kanadier an, auf der Genfer Abrüstungskonferenz Europa an die Sowjets zu verraten: »Der amerikanische Abrüstungsplan ist so ungeheuerlich, so schrecklich, daß Europa damit den Russen überantwortet wird.«
Es begann in der vorletzten Woche. Konrad Adenauer hatte am Mittwochmorgen in der Zeitung gelesen, daß die Bundesregierung den amerikanischen Entwurf für einen Vertrag gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen als »einen wichtigen Beitrag für die Lösung des (Abrüstungs-) Problems« bezeichnete, der »den Verteidigungsinteressen des atlantischen Bündnisses Rechnung trägt«. Er beschloß, der Bundesregierung und den Amerikanern eine Lektion zu erteilen.
Abends ließ er durch seinen Referenten, den Ministerialdirigenten Selbach, dem Bonner dpa-Korrespondenten Franz Hange ausrichten, es lohne sich, anderntags mit nach Münster zu fahren; Adenauer habe Wichtiges zur Außenpolitik zu sagen.
Fraktionschef Barzel und der geschäftsführende CDU-Parteichef Dufhues erfuhren wenig später auch von Adenauers Plänen: Noch am Mittwochabend versuchte Barzel mit Adenauer zu telephonieren. In Rhöndorf nahm jedoch niemand den Hörer ab.
Dufhues, zugleich CDU-Landesvorsitzender von Westfalen, empfing Adenauer am Donnerstag in Münster. Vorsichtig erkundigte er sich, was der Altkanzler vorhabe. Adenauer antwortete knapp, er wolle seine Sorgen über die Genfer Verhandlungen ausbreiten.
Zwischen sechs und sieben Uhr, beim Abendessen zu dritt mit Bischof Höffner in dessen Palais am Münsterer Domplatz - die mitreisende Adenauer-Schwiegertochter Ulla-Britta mußte mit Journalisten speisen -, mühte sich Dufhues, den alten Herrn friedlicher zu stimmen. Dufhues zum SPIEGEL: »Mir war klar, was da für Sprengstoff lag.«
Eine Stunde später in der Münsterland-Halle wußte Dufhues, daß es ihm nicht gelungen war, den Sprengstoff zu entschärfen. Adenauer über den amerikanischen Vertragsentwurf. »Ich hoffe, daß sich niemals eine deutsche Regierung findet, die einem solchen Vertrag beitritt.« Und: »Was sich in Genf abspielt, ist eine Tragödie für uns Deutsche.«
Dann führte er den gröbsten Schlag: »Es gibt gute und andere Amerikaner Zu den guten gehörte John Foster Dulles, zu den anderen Herr Morgenthau, der Deutschland 1945 in ein Weideland verwandeln wollte.«
Die Erinnerung an seinen toten Freund und Eisenhowers Außenminister John Foster Dulles war Adenauer im Zusammenhang mit den Genfer Abrüstungsverhandlungen schon Anfang August gekommen. Er wurde von Mitarbeitern gefragt, wie es denn seinerzeit 1954 auf der Londoner Konferenz zugegangen sei, als über den Beitritt Westdeutschlands zurNato verhandelt wurde und Adenauer die Verpflichtung unterschrieb, daß die Bundesrepublik in ihrem Gebiet keine ABC(atomare, biologische und chemische)-Waffen herstellen werde.
Adenauer antwortete, Dulles sei während der Konferenz zu ihm gekommen und habe ihm für diesen Verzicht gedankt. Dulles habe aber hinzugefügt, er nehme an, daß auch für diesen Verzicht die »clausula rebus sic stantibus« gelte*. Darauf habe er Adenauer erklärt: »Meine ganze Politik steht unter dem Vorbehalt dieser Klausel.«
Solange Dulles lebte, vertraute Adenauer den Amerikanern. Aber seit dieser Kampfgefährte aus der Zeit des Kalten Krieges tot ist (1959) und insbesondere seit der demokratische Präsident Kennedy den Republikaner Eisenhower 1961 im Weißen Haus abgelöst hatte, mißtraute Konrad Adenauer im Kielwasser seines Freundes de Gaulle den Amerikanern mehr und mehr.
Immer häufiger und immer vehementer beschuldigte er sie, hinter seinem Rücken und ohne Rücksicht auf die deutschen Interessen mit den Sowjets eine Ost-West-Entspannung anzustreben. Adenauer vorletzte Woche in Münster: »Es ist völlig unmöglich, daß in Genf ohne uns über uns verhandelt wird, während wir im Wahlkampf sind.«
Sofort nach Schluß der Kundgebung in Westfalens Metropole alarmierte Dufhues telephonisch die Spitzen seiner Partei und verlangte eine Sitzung des Präsidiums. Als Erhard von den Ausfällen Adenauers erfuhr, entsetzte er sich: »Was wird Präsident Johnson dazu sagen, wo er gerade mit Vietnam so belastet ist.« Der Kanzler befürwortete, daß eine Sitzung des Parteipräsidiums für den Montag letzter Woche einberufen wurde.
Dufhues sprach auch mit dem Außenminister Schröder meinte: »Dieser Faux pas gefährdet die Sachlichkeit der auswärtigen Geschäfte. Von einem Ausverkauf Europas kann doch gar keine Rede sein.«
Bereits am Sonntagmorgen, gleich nach dem Frühstück, trafen sich Dufhues und Barzel mit Erhard in dessen Wahlkampf-Sonderzug, der auf Gleis 3 des Bahnhofs von Paderborn abgestellt war. Barzel, der den Wahlkreis Paderborn-Wiedenbrück vertritt und bereits nachts in Pforzheim zugestiegen war, als der Kanzler mit seiner Begleitung noch beim Whisky saß, brachte zu der morgendlichen Besprechung eine formulierte Marschroute mit, die von Erhard und Dufhues genehmigt wurde. Tenor: Bonn vertraut Washington, verlangt aber, daß »eine jederzeit wirksame und adäquate Verteidigung« gewährleistet bleibt.
Eine Stunde später verkündete der Kanzler im offenen Gegensatz zu seinem Vorgänger bei strömendem Regen auf dem Marktplatz von Paderborn: »Die Deutschen können sicher sein, daß sie in der Stunde der Not mit den gleichen Waffen Verteidigt werden, wie sie Deutschland bedrohen.«
Aber Adenauer steckte nicht auf. Vor dem Parteipräsidium, das am Montagvormittag im Bundeshausbüro des Fraktionschefs Barzel zusammentrat, drohte der Parteivorsitzende mit dem Rücktritt: »Ich lege größten Wert darauf, daß meine Haltung hier Anerkennung findet. Sonst kann ich nicht mehr weitermachen.«
Darauf Erhard: »Auch ich hege Sorgen wegen dieser amerikanischen Pläne. Aber wir müssen das in einer Sprache ausdrücken, die zwischen Verbündeten und Freunden gehörig und würdig ist.«
Bundestagspräsident Gerstenmaier, der gern Außenminister werden möchte und sich seit einiger Zeit von einem Generalstabsoffizier Nachhilfe-Unterricht in Strategie geben läßt, sekundierte Adenauer und beschwerte sich über den Außenminister Schröder, der nicht anwesend war, weil er dem Parteipräsidium nicht angehört: Die Informierung durch das Auswärtige Amt über die deutsch-amerikanischen Konsultationen sei völlig unzureichend gewesen, außerdem sei die Stellungnahme der Bundesregierung zu den US-Plänen viel zu weich ausgefallen; man habe versäumt, die Bonner Forderung nach einem Junktim zwischen Abrüstung und deutscher Wiedervereinigung hineinzuschreiben.
Adenauer stimmte zu: »Der Herr Schröder hat mich auch nicht auf dem laufenden gehalten.«
Erhard und die Minister von Hassel und Krone nahmen Schröder in Schutz. Der Kanzler meinte, man solle doch erst einmal abwarten, ob sich die Großmächte überhaupt einigen würden.
Obwohl Krone Adenauers Befürchtungen teilt, wies er darauf hin, daß Schröder immerhin schon Anfang Juli in einem Zeitungsinterview als erster die deutschen Bedenken gegen einen totalen Atomverzicht angemeldet habe (SPIEGEL 33/1965). Im übrigen habe das Auswärtige Amt seine Pflicht getan und immerhin erreicht, daß die Amerikaner versprochen hätten, sie würden keinen Vertrag mit den Russen unterschreiben, der einen Verzicht auf eine atlantische oder europäische Atomstreitmacht enthalte, an der auch die Bundesrepublik beteiligt werden könne. Es sei allerdings nicht gelungen, die Bonner Forderung durchzusetzen, daß ein Vertrag gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen mit Schritten zur Wiedervereinigung Deutschlands gekoppelt werde.
Am Schluß der Aussprache einigten sich die ehristdemokratischen Parteiführer, wenigstens bis zum Wahltag politische Einigkeit zu wahren. Die beschlossene Harmonie dauerte keine 24 Stunden.
In Genf boten die Kanadier an, es solle mit den Sowjets über eine Nato -Atomstreitmacht verhandelt werden; mit anderen Worten, Moskau solle über den Aufbau einer Streitmacht mitbestimmen, die zur Verteidigung gegen die Sowjets geplant ist. Und fast zur selben Stunde wurde bekannt, daß die Engländer taktische Atomraketen aus der Bundesrepublik abziehen wollen (siehe Seite 24).
Altkanzler Adenauer sah sich durch den Gang der Ereignisse bestätigt und sprach nicht mehr von Rücktritt. Schon am Dienstagabend zielte er in Recklinghausen auf Erhard und Schröder: »Ohne gute Außenpolitik gibt es keine gute Wirtschaftspolitik.«
Auf allen Wahlversammlungen der folgenden Tage rief er aus: »Das deutsche Volk muß sich auf ernste Zeiten gefaßt machen. Ich habe den Eindruck, daß ich nötig bin, wenn die außenpolitische Lage sich zuspitzt.«
* Ein aus dem Zivilrecht stammender Vorbehalt, daß ein Vertrag nur so lange Gültigkeit hat, wie die Umstände fortbestehen, die bei seinem Abschluß gegeben waren.
Wahlkämpfer Adenauer, Barzel, Erhard: »Eine Tragödie für uns Deutsche«
Wahlkampf-Sonderzug des Kanzlers: Sonntagmorgen auf Gleis 3
Die Zeit
Distanzierung