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EUROPA »Verrückt nach Sicherheit«

EU-Justizkommissar Franco Frattini über seinen Kampf gegen Terroristen und für die perfekte Überwachung der Bürger
aus DER SPIEGEL 11/2008

Der Italiener Franco Frattini, 50, ist seit 2004 Vizepräsident der EU-Kommission und zuständig für den Bereich »Justiz, Freiheit, Sicherheit«. Zuvor war er Staatsanwalt, Richter, Abgeordneter und Minister in seinem Heimatland. Nach den Wahlen Mitte April könnte der Forza-Italia-Politiker als Innenminister nach Italien zurückkehren.

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SPIEGEL: Herr Vizepräsident, wenn Sie wirklich nach Italien zurückkehren, dürften viele Deutsche und andere Europäer aufatmen. Brigitte Zypries etwa, die deutsche Justizministerin, hat Ihnen kürzlich vorgeworfen, Deutschlands Verfassung zu missachten. Sind Sie ein Verfassungsfeind?

Frattini: Ich erfülle meine Aufgabe seit dreieinhalb Jahren, mit guten Ergebnissen und in guter Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten. Der Job macht mir großen Spaß ...

SPIEGEL: ... der selbst dann nicht aufhört, wenn ein deutscher Europaminister, Uwe Döring aus Schleswig-Holstein, Sie als »manischen Datensammler« beschimpft?

Frattini: Nun, ich bin durchaus verrückt. Ich bin verrückt danach, die Sicherheit der europäischen Bürger zu gewährleisten.

SPIEGEL: Die EU-Kommission will nach dem Vorbild der USA viele Daten aller Flugpassagiere sammeln lassen, von der Sitzplatznummer bis zum Namen des Reisebüro-Sachbearbeiters. Das klingt tatsächlich ein wenig verrückt. Muss das sein?

Frattini: Wir haben im letzten Jahr ein Abkommen über die Weitergabe solcher Daten an die Amerikaner geschlossen, damit die Sicherheit der Amerikaner gewährleistet wird. Da würde es auf mich merkwürdig wirken, wenn wir uns nicht auch um die Sicherheit der Europäer kümmern würden. Deshalb hat die Kommission einen solchen Vorschlag vorgelegt, der - ob nun mit mir oder ohne mich - diskutiert werden muss. Denn die Zeit ist gekommen, dass wir uns der Bedrohung durch Terrororganisationen stellen.

SPIEGEL: Und die lassen sich stoppen, indem man Flugdaten sammelt?

Frattini: Die Ermittlungen haben gezeigt, dass die Täter bei allen terroristischen Anschlägen Flugzeuge benutzt haben, entweder um zu entkommen oder um Kontakt zu Terrorgruppen zu halten. Nehmen Sie nur das Beispiel der Attentäter von London: Die Täter sind vor den Anschlägen nach Pakistan und zurück geflogen.

SPIEGEL: Aber um wenige Terroristen zu erwischen, sollen die Daten von Abermillionen Passagieren gespeichert werden.

Frattini: Ja. Doch in deren Privatsphäre greifen wir nicht ein. Wenn ich mir nichts zuschulden kommen lasse, werden meine Daten erhoben, gespeichert und dann vernichtet - so einfach ist das.

SPIEGEL: Die Daten sollen nach den Vorstellungen der Kommission sehr lange gespeichert werden, für 13 Jahre.

Frattini: Zugegeben, das ist lange. Aber die Ermittlungen bei internationalen Verbrechen nehmen viel Zeit in Anspruch. Das Wichtigste ist für mich, dass Terroristen vor Gericht gestellt werden können. Schauen Sie auf Spanien: Da hat es mehr als drei Jahre gedauert, bis die Urteile gegen die Bombenattentäter von Madrid ausgesprochen wurden.

SPIEGEL: Ein Mitarbeiter der Kommission soll vor einem Ausschuss des EU-Parlaments gesagt haben, dass die Daten auch genutzt werden könnten, um etwa einfache Diebstähle aufzuklären.

Frattini: Das entspricht nicht den Vorstellungen der Kommission. Ich könnte mir allenfalls vorstellen, dass man die Daten auch in Fällen länderübergreifender Verbrechen wie Kindesmissbrauch nutzt. Wer kann schon etwas dagegen haben, dass wir Pädophile bekämpfen, indem wir ihre Daten auswerten?

SPIEGEL: Aber wo ist dann die Grenze - und bleibt nicht die Gefahr, dass Daten entwendet werden? In Großbritannien haben die Steuerbehörden im Herbst zwei CDs mit Daten von 25 Millionen Bürgern verloren.

Frattini: Sie können sich darauf verlassen, dass die Daten gut geschützt werden. Ich bin auch bereit, strafrechtliche Sanktionen einzuführen, um jeden Missbrauch zu ahnden. Vergessen Sie eines nicht: Das Problem heißt nicht Datenspeicherung, das Problem heißt Terrorismus.

SPIEGEL: Glauben Sie nicht, dass Terroristen findig genug sind, solchen Fahndungsrastern zu entkommen? Dann fahren sie eben mit dem Schiff oder der Bahn.

Frattini: Das ist tatsächlich ein Problem, da müssen wir Schritt halten. Die Flugzeuge können nur die erste Stufe sein. In der nächsten Stufe müssen wir uns um die Züge kümmern. Sie wissen, dass einer der Londoner Attentäter im Jahr 2005 zunächst mit dem Zug über Frankreich nach Italien entkommen konnte. Das ist der Beweis dafür, dass wir neue Technologien brauchen, um auch Bahnpassagiere zu überwachen.

SPIEGEL: Wie soll das funktionieren?

Frattini: Etwa mit Videoüberwachung, wie wir es teilweise schon in Bahnhöfen oder Bussen machen. Schließlich dürfen wir natürlich auch die Schiffe nicht vergessen. Es wird nicht über Nacht gehen, ein solches System flächendeckender Überwachung der Transportwege zu installieren.

SPIEGEL: Aber das will die Kommission langfristig?

Frattini: Das Ziel Europas muss lauten: vollständiger Schutz der äußeren Grenzen und freier Verkehr innerhalb der Union. Wobei wir auch in der Lage sein müssen, Kriminelle zu fangen. Europa ist ein riesengroßes Gebiet, das grenzenlose Bewegungsfreiheit bietet. Wir müssen vermeiden, dass Verbrecher diese Freiheit ausnutzen.

SPIEGEL: Innerhalb der EU-Kommission sind Sie nicht nur für Sicherheit, sondern auch für Freiheit zuständig. Wenn die Kommission tatsächlich erreicht, dass Schiffe, Züge und Flugzeuge überwacht werden, erhöht sie vielleicht die Sicherheit - aber wo bleibt die Freiheit?

Frattini: Die erste Freiheit ist, lebendig zu sein.

SPIEGEL: Und dafür müssen Sie speichern, auf welchem Platz ich in den letzten 13 Jahren in einem Flugzeug gesessen habe?

Frattini: Ja, das kann notwendig sein. Die Amerikaner haben vor Jahren einen Fluggast nicht an Bord gelassen, weil sie in ihrer Datenbank verdächtige Informationen gefunden hatten. Ein Finger dieses Menschen

wurde fünf Jahre später in Afghanistan gefunden - er hatte dort einen Selbstmordanschlag verübt. Ohne die Kenntnis bestimmter Daten hätte man ihn in die USA gelassen.

SPIEGEL: In Europa verhindern unterschiedliche Interessen der Mitgliedstaaten häufig eine bessere Zusammenarbeit, Sie selbst haben einmal vor der Einbahnstraße nationaler Egoismen gewarnt. Ist Europa wirklich schon bereit für eine gemeinsame Innen- und Justizpolitik?

Frattini: Als ich mein Amt vor dreieinhalb Jahren antrat, war die Situation noch völlig anders. Man war sich schon über die Grundsätze - etwa in der Migrationspolitik - nicht einig. Heute haben wir die gemeinsame Grenzschutzagentur Frontex und den Fonds für die Integration von Drittstaatlern mit über 800 Millionen Euro für Fördermaßnahmen.

SPIEGEL: Aber die letzten Tage zeigen, dass viele Probleme bleiben. Tschechien hat soeben gegen den Willen der EU eine Visa-Übereinkunft mit den USA getroffen; Deutschland klagt, dass andere EU-Mitglieder nicht konsequent gegen Steuersünder vorgehen - von den EU-Partnern Schweiz und Liechtenstein ganz zu schweigen.

Frattini: Auch wenn Steuern nicht in meine Zuständigkeit fallen, muss ich sagen: Es ergibt Sinn, dass die Schweiz und Liechtenstein enger an uns heranrücken. Vergessen Sie nicht, dass insbesondere die deutsche und die österreichische Delegation vorangetrieben haben, dass die Schweiz und Liechtenstein bald dem Schengen-Raum beitreten. Und die Regierung von Liechtenstein hat versprochen, in Steuerfragen enger zu kooperieren.

SPIEGEL: Die EU hat bereits 27 Mitglieder und wird wohl weiter wachsen. Kann aus so vielen unterschiedlichen Staaten wirklich ein einheitlicher »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« entstehen, wie ihn die EU verspricht?

Frattini: Das geht natürlich nicht über Nacht. Aber wir haben schon viel erreicht: die Bewegungsfreiheit im Schengen-Raum, eine weitgehende Kooperation im Polizeibereich und große Fortschritte im Zivilrecht. Zugleich müssen wir in die Zukunft schauen und überlegen, wie Europa in 15 oder 20 Jahren aussehen soll.

SPIEGEL: Sind wir dann alle nur noch Unionsbürger und nicht mehr Italiener oder Deutsche?

Frattini: Nein, ich bin ein großer Verfechter lokaler wie nationaler Traditionen. Ich fühle mich zuerst als Florentiner, dann als Toskaner, dann als Italiener, dann als Europäer. Es gibt einen Mehrwert durch die zusätzliche europäische Unionsbürgerschaft. Aber wir werden keine Verschmelzung zwischen dem deutschen und dem italienischen Volk erleben. INTERVIEW: MARKUS VERBEET

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