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Artikel 18 / 98

DEBATTE VERSCHLEISS UND VERFALL

PEER STEINBRÜCKS ABSCHIEDSREDE IM SPD-VORSTAND
Von Peer Steinbrück
aus DER SPIEGEL 42/2009

Nach 16 Jahren als Landesminister, Ministerpräsident und Bundesminister ist - auch als Konsequenz aus dem Wahlergebnis - der Zeitpunkt gekommen, zu dem ich Platz für Jüngere mache und aus der ersten Reihe der Politik ausscheiden möchte. Es waren 16 Jahre, in denen ich gelegentlich die Erfahrung machen durfte, dass meine Wirkungsmöglichkeiten sowohl an der vielzitierten Basis unserer Partei als auch insbesondere über die SPD hinaus größer gewesen sind und ein positiveres Echo gefunden haben als auf der Ebene von Delegierten und Funktionsträgern der SPD.

Alle bisher gegebenen Deutungen des verheerenden Wahlergebnisses befriedigen mich nicht. Für mich steht die Tatsache rätselhaft im Raum, dass mitten in der größten Wirtschafts- und Finanzkrise seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland eine Mehrheit der Bevölkerung nicht etwa kapitalismuskritisch gewählt hat, sondern eine konservativ-liberale Bundesregierung, die partiell stramm markttheologisch orientiert ist. Ich will sagen: In einer Zeit, in der weite Teile der Bevölkerung Augenmaß und Balance anmahnen und daher sozialdemokratische Antworten eigentlich willkommen sein müssten, entzieht uns ein breites Publikum Vertrauen. Der Hinweis etwa auf die Agenda 2010, Hartz IV oder auf die Rente mit 67 reicht als Erklärung nicht aus. Denn in keinem dieser Konfliktpunkte ist von einer konservativ-liberalen Bundesregierung eher eine Korrektur zu erwarten als von der Sozialdemokratie. Im Gegenteil. Ebenso wenig lässt sich der Einbruch mit jenen 1,1 Millionen Wählerinnen und Wählern erklären, die zur Linkspartei abgewandert sind. Die eigentlich alarmierende Nachricht ist, dass fast 1,5 Millionen Wählerinnen und Wähler - also mehr als zur Linkspartei gingen - zur CDU/CSU und zur FDP gewechselt sind. Wenn in den Opel-Standorten Rüsselsheim und Eisenach Wähler von der SPD zur Union und FDP wanderten, nachdem wir uns für die Existenz dieses Autokonzerns und seiner deutschen Standorte krummgelegt haben, dann versagen eilfertige Deutungen.

Manche Analyse, die ich jetzt gehört habe, war erkennbar davon geprägt, für die eigene Kritik in der Vergangenheit nachträglich eine Bestätigung zu konstruieren. Im Übrigen fällt auf, dass nach diesem desaströsen Wahlergebnis mit der Folge einer schwarz-gelben Koalitionsregierung keineswegs ein Aufschrei der Empörung durch das Land fegt. Im Gegenteil weisen einige aktuelle Umfragen eine relativ hohe Akzeptanz der neuen Konstellation auf. Das heißt, viele Menschen in Deutschland erwarten von einer solchen Koalition keineswegs eine Verschiebung der Achse in unserer Gesellschaft oder soziale Demontage. Vielleicht liegt das auch daran, dass sie dort, wo es bereits schwarz-gelbe Landesregierungen gibt, nicht so niederschmetternde Erfahrungen gemacht haben, wie wir ihnen in unserer Wahlkampagne voraussagten. Es wäre näher zu untersuchen, ob uns die Sozialdemokratisierung der christdemokratischen Parteien weiter Raum in der Mitte der Gesellschaft abgeschnitten hat. Unter dem Strich müssen wir feststellen, dass die stärkere Identifizierung der CDU/CSU mit der sozialen Marktwirtschaft und vor allem auch die Beständigkeit ihrer Bekenntnisse zu diesem Wirtschafts- und Ordnungssystem erfolgreicher wirkt als eine nach neuen Ufern (und Partnern?) suchende Politik der SPD.

Vier Schlussfolgerungen gehen mir durch den Kopf, die natürlich den Charakter des Vorläufigen haben.

Erstens: Die sozialpolitische Kompetenz der SPD ist eine notwendige Bedingung, um eine Wahl zu gewinnen, aber keineswegs eine hinreichende. Die Kompetenzdefizite im Bereich Wirtschaft und Finanzen, die uns die Demoskopie ungeschminkt bestätigt, waren von ausschlaggebender Bedeutung. Ich habe mir darüber in den vergangenen vier Jahren den Mund fusselig geredet. Es geht hier um eine inhaltliche und personelle Kompetenz. Und es reicht nicht, eine Person ins Schaufenster zu stellen, wenn diese in der Breite von Fraktion und Partei nicht begleitet wird oder sogar gelegentlich für Ausflüge gemaßregelt wird, die angeblich einer parteipolitischen Räson (wer definiert die eigentlich?) widersprechen. Die entscheidende Frage für die nächsten Jahre lautet deshalb: Wo sind die Personen, die dieses Defizit abbauen können? Sind die Wirtschafts- und Finanzpolitiker der SPD nicht erst jüngst bei der Aufstellung von Landeslisten zur Bundestagswahl eher bestraft worden oder frustriert vorzeitig aus der Fraktion ausgeschieden?

Zweitens: Es mag sein, dass sich die SPD nach links öffnen muss - ich würde eher davon sprechen, dass sich die Partei in alle gesellschaftlichen Richtungen orientieren sollte. Aber wie dem auch sei, sie darf dabei um keinen Preis inhaltlich die Mitte aufgeben. Ich weiß, dass die »Mitte der Gesellschaft« ein sehr diffuser Begriff ist, über den man trefflich streiten kann. Aber dies ändert nichts an der nach wie vor richtigen Einschätzung, dass genau in dieser Mitte unserer Gesellschaft Wahlen gewonnen oder auch verloren werden. Die Addition von Minderheitsinteressen führt keineswegs arithmetisch zu einer politischen Mehrheit in Deutschland. Und bei einer Annäherung an die Linkspartei wäre nicht einmal ein Nullsummenspiel, sondern eher ein Verlust für die SPD wahrscheinlich, weil immer um einen Faktor höher Wählerinnen und Wähler zu den konservativ-bürgerlichen Parteien überlaufen. Das hat etwas mit der ausgeprägten Sehnsucht der Deutschen nach Stabilität und Sicherheit zu tun. Diese in meinen Augen tiefverankerte Sehnsucht geht auf die Brüche und traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zurück.

Drittens: Die SPD muss die Kraft sein, die den Fortschrittsbegriff ausfüllt. Sie muss so wie in den früheren Jahrzehnten mit Fortschritt identifiziert werden. Natürlich nicht allein in einem platten ökonomischen Verständnis, sondern auch in einem technischen, kulturellen und gesellschaftlichen Sinn. Uns ist die Definitionshoheit über den Fortschritt verlorengegangen. Worin liegt das Zukunftsversprechen und die Aufstiegsperspektive, welche die SPD insbesondere auch jüngeren Generationen machen kann? Welche Kommunikationsplattformen und Veranstaltungsformate bieten wir dafür an?

Viertens: Die SPD erlebt ohne Zweifel eine Glaubwürdigkeitskrise. Das hat viel mit dem Bild der Zerstrittenheit zu tun, mit dem, was der Journalist Heribert Prantl als Verfall der Führungskultur in der SPD bezeichnet hat. Gemeint ist der Verschleiß von Führungspersönlichkeiten, mangelnder Stolz auf Leistungen und Errungenschaften und damit zusammenhängend die häufig schnelle Relativierung von Positionen und Entscheidungen. Das liefert der Bevölkerung kein Bild von Verlässlichkeit und Beständigkeit. Wer glaubt, dass die SPD einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit dadurch zurückgewinnt, dass sie die meisten Schilder unserer Regierungspolitik der vergangenen Jahre flugs abmontiert, der irrt. Die eigene Politik quasi zu dementieren würde das Bild mangelnder Beständigkeit und Kalkulierbarkeit der SPD noch viel stärker prägen. Getreu der Aufforderung, tabulos zu diskutieren, weise ich auch auf die Entwicklung in Hessen hin. Wer will nach den Erfahrungen aus vielen Gesprächen und Veranstaltungen stillschweigend darüber hinweggehen, dass die Vorgänge dort einen Anteil an der Glaubwürdigkeitskrise der SPD haben?

Die Krise ist nach meiner Ansicht weit weniger programmatischer oder inhaltlicher Art, sie ist in erster Linie eine Führungskrise und eine Krise der Organisation. Die Führung der Partei war in den vergangenen Jahren einem permanenten Autoritätsverfall ausgesetzt. Das muss aufhören. Die neue Führung bedarf daher uneingeschränkter Unterstützung, aber sie wird sich auch selbst bewusst machen müssen, dass ihre Zusammenarbeit eine der letzten Chancen ist. Wenn einige der neuen Führungsmitglieder und die sie tragenden innerparteilichen Kräfte bereits im Kopf haben, dass mit dieser Aufstellung schon jetzt die Claims für die Bundestagswahl 2013 abgesteckt werden, dann wird der Absturz der SPD weitergehen.

Eine ehrliche Bestandsaufnahme der Parteiorganisation zeigt, dass von den Landes- und Bezirksverbänden wahrscheinlich nur drei oder vier als intakt und schlagkräftig bezeichnet werden können. Ich habe die gelegentlichen Hinweise von einigen von euch nach wie vor im Ohr, nach denen man wieder stärker eine »Kultur der innerparteilichen Demokratie« pflegen müsste. Dem widerspreche ich nicht. Aber ein ungetrübter Blick belegt, dass die Absender dieses kritischen Hinweises an die Bundesebene eine entsprechende Kultur in ihrer eigenen Verantwortung auf Landes- oder Bezirksebene keineswegs immer selbst befolgen.

Im Präsidium und in der Vorstandssitzung am vorigen Montag haben einige von euch nachdrücklich davon gesprochen, dass es kein »Weiter so!« geben dürfe. Das will ich nicht widerlegen - und habe, was mich betrifft, ja auch darauf reagiert. Ich weiß zwar nicht so ganz, was darunter im Einzelnen verstanden wird, aber nach einer solchen Wahlniederlage keine - und seien es auch schmerzliche - Konsequenzen zu ziehen wäre wohl falsch.

Ich frage mich allerdings, ob diese Aufforderung, dass es kein »Weiter so!« geben dürfe, auch für die Personen selbst gilt. Zum Beispiel für den Vorsitzenden des Landesverbands Schleswig-Holstein, der mit minus 13 Prozentpunkten gerade eine krachende Niederlage erfahren hat. Ich habe deiner Analyse, Ralf Stegner, genau zugehört. Dabei war der exkulpierende Fingerzeig von Kiel nach Berlin ja unübersehbar. Zwei wesentliche Faktoren für diese Niederlage kamen allerdings dabei nicht vor:

1. du selbst und

2. die maßgeblich von dir bestimmte Strategie in der Kieler Koalition mit der CDU während der vergangenen Jahre, die systematisch zum Verlust der Regierungsbeteiligung der SPD geführt hat. Deine verkürzte Interpretation passt nicht zu deinen Aufforderungen hier in Berlin und deinen Einlassungen, man müsse »hart in der Analyse sein«.

Und dann ist da ein Landesverband Berlin, der bei dieser Bundestagswahl 300 000 Stimmen gegenüber 2005 verloren hat. Dieser Landesverband und seine Spitzenvertreter haben noch am Freitag, den 25. September 2009, in der Abschlussveranstaltung vor dem Brandenburger Tor Frank-Walter Steinmeier zugejubelt. Drei Tage später, am Montag, den 28. September 2009, war es dieser Landesverband, der als erster das Revolutionstribunal einrichtete - über die drei Namen, die nun zur Verantwortung zu ziehen seien. Nämlich Franz Müntefering, der kürzlich noch bejubelte Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück. Das ist alles andere als stilsicher, eigentlich beschämend. Ich kann nur darum bitten, dass Frank-Walter Steinmeier als neuer Fraktionsvorsitzender gestützt und vor solchen anwidernden Abrechnungen geschützt wird. Der Umgang mit ihm sollte nicht jene bestätigen, die zwischen unserem Appell zur Solidarität und der Behandlung unseres eigenen Führungspersonals einen nicht aufzulösenden Widerspruch sehen.

Ich sprach von der eilfertigen Abrechnung mit Müntefering, Steinmeier und mir in der Sitzung des Berliner Landesverbandes. Ich kann mir nicht ganz verkneifen - wohl wissend um das Risiko, als eitel missverstanden zu werden -, darauf hinzuweisen, dass es exakt diese drei Personen sind, die bei Umfragen zur Wertschätzung von Politikern die führenden Positionen für die SPD einnehmen. Das berührt einen schon merkwürdig, wenn einem in Umfragen für die SPD eine gewisse Wirkungsmöglichkeit oder Anerkennung zugesprochen wird, dies aber in den eigenen Gremien offenbar völlig irrelevant ist. Das verbindet sich mit einer bei manchen Parteifreunden festzustellenden Neigung, möglichst im Fernsehen Definitionshoheit darüber zu beanspruchen, was parteipolitisch in der SPD korrekt ist und was nicht, welche Aussagen es sind und welche nicht. Ich fühle mich gelegentlich an eine Art Glaubenskongregation erinnert.

Dies alles wirft Schlaglichter darauf, wie stark die SPD mit sich selbst beschäftigt ist. Die innerparteiliche Sicht - und auch innerparteiliche Legitimationsbeschaffung in unseren Gremien - spielt eine unverhältnismäßig große Rolle gegenüber der viel wichtigeren Frage, wie uns die Wählerschaft sieht und wie wir durch den Wähler legitimiert werden können. Den Hinweis von klugen Beobachtern, dass sich Parteien zu selbstreferenziellen Systemen entwickeln können, würde ich in der Lage, in der wir jetzt sind, sehr ernst nehmen.

Die im Parteivorstand gehaltene Rede hat Peer Steinbrück für den SPIEGEL aus umfangreichen Notizen und der Erinnerung rekonstruiert. Der SPIEGEL hat sie leicht gekürzt - der vollständige Text ab Montag auf SPIEGEL Online.

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