STEUERN »Verschlungen und verknotet«
Es gehe um nichts weniger, als »Deutschland fit zu machen für Europa«, hatte Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) die Aufgabe beschrieben. Baden-Württembergs Landesvater Erwin Teufel (CDU) sah »zum ersten Mal seit 50 Jahren wirklich eine Chance für Veränderung«. Und Nordrhein-Westfalens Regierungschef Peer Steinbrück (SPD) erkannte: »Ohne eine Reform sind wir auf Dauer nicht mehr handlungsfähig.«
Doch immer wenn sich das Unternehmen Deutschland anschickt, ein bisschen moderner und effizienter zu werden, klaffen Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander. Die großen Worte verhallen, es bleibt bei kleinstaatlicher Besitzstandswahrung.
Dem Ritual aus Klage, Vorschlag, endloser und am Ende ergebnisloser Debatte zum Trotz rief Finanzminister Hans Eichel vorigen Donnerstag zur Revolution auf. Im Plenarsaal des Bundesrats präsentierte er den versammelten Landesfürsten - Ministerpräsidenten und ihren Beamten - einen sehr konkreten Vorschlag, um dem Patienten Deutschland auf die Beine zu helfen.
Nur eine einheitliche Steuerverwaltung, predigte Eichel den Mitgliedern der Föderalismuskommission, könne das fiskalische Chaos beenden. Die Belege für diese These hatte er seine Beamten in einem Arbeitspapier zusammentragen lassen, in dem als »Endstufe« der Reform eine »eigenständige nationale Steuerbehörde« vorgeschlagen wird. Kurz: Er wolle so etwas wie ein Bundes-Finanzamt einrichten.
Nicht, dass sich von Eichel über die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer bis hin zu den Praktikern in den über 600 Finanzämtern des Landes nicht alle einig wären, dass die deutsche Steuerverwaltung unstrukturiert, uneffizient und ungerecht ist. Doch schon beim Studium des Arbeitspapiers im Vorfeld hatten die Länderfinanzminister Eichels Vorstoß als blanke Provokation und Angriff auf den Föderalismus gewertet - und ihn mit 16:0 Stimmen rundweg abgelehnt.
So redete Eichel am Donnerstag denn auch gegen eine Wand. Und kaum war die Kunde von seinen zentralistischen Wünschen bis in die bayerische Landeshauptstadt gedrungen, hämte Bayerns Finanzminister Kurt Faltlhauser: »Nach der Pleite des Bundes bei Toll Collect
kann ich vor einem Projekt Tax Collect nur warnen.«
Bislang - und das stört Eichel - ist das deutsche Steuereintreibesystem kompliziert gebaut: Nicht der Bund, sondern die 16 Bundesländer bestimmen weitgehend, wie die 450 Milliarden Euro Steuern, die Bürger und Unternehmen jährlich zu entrichten haben, eingesammelt und verwaltet werden - und wie die Zahlungsmoral überwacht wird. So ist es im Grundgesetz geregelt. Zusätzlich kompliziert werden die Verfahren, die Eichel »an Laokoon erinnern, weil sie so verschlungen und verknotet sind«, noch durch eine Dreiteilung: Steuern, die allein der Bund erhält, Steuern, die den Ländern zustehen, und Steuern, die nach einem diffizilen Schlüssel zwischen ihnen und den Kommunen aufgeteilt werden.
Wann immer dieses Verfahren modernisiert oder vereinfacht werden soll, müssen die Länder es absegnen. Jede noch so unbedeutende Richtlinie oder Verwaltungsvorschrift muss unzählige Kommissionen und Arbeitskreise passieren. Und stets bedeutet dieses Netzwerk der Bedenkenträger die Beschränkung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner.
Derzeit, warb Eichel für die Systemveränderung, würden »die divergierenden Interessen der Länder« die deutsche Position bei Verhandlungen auf europäischer Ebene »immer wieder schwächen«. Der Bund könne auf nationaler Ebene »keinen einheitlichen Steuervollzug garantieren«, weil »seine Befugnisse zu schwach« seien. Deshalb sei es wichtig, dass die versammelten Föderalismus-Renovierer »erste pragmatische, politisch kurzfristig umsetzbare Schritte vereinbaren«.
Die Mehrzahl der Länderfürsten argwöhnt, dass es Eichel nicht nur um die Verwaltung, sondern viel mehr um die Steuern selbst geht, über die sie bislang im Bundesrat mitbestimmen dürfen. Und diesen Angriff auf ihre Steuerhoheit wollen sie nicht hinnehmen. »Eine solche Kompetenzverlagerung auf den Bund ist mit uns nicht zu machen«, poltert der Hesse Roland Koch (CDU).
Die Problemlösung ist längst keine parteipolitische Frage mehr. Angesichts der leeren Kassen wird um jeden Euro gekämpft. Die Fronten verlaufen dabei nicht, wie über Jahrzehnte geübt, zwischen A- und B-Ländern, also SPD- und Unionsregierten Ländern. Es geht auch um Arm und Reich, um Fortschritt und Schrumpfen.
Im Wettbewerb der Länder untereinander erweist sich nämlich die Steuerhoheit klammheimlich als ideales Steuerungsinstrument. So entscheiden allein die Länder, wo etwa die Steuerprüfer und Steuerfahnder genauer hinschauen. Und das ist nicht immer dort, wo vor allem der Bund mitverdient. »Mangels eigener Interessen«, heißt es in dem Eichel-Papier, würden manche Länder »den Vollzug vernachlässigen«. Dies wurde bereits vom Bundesrechnungshof
bei der Versicherungsteuer zweimal gerügt: Die Länder hätten zu wenig Beamte in die Versicherungsunternehmen geschickt, »eine flächendeckende Außenprüfung war nicht sichergestellt« - so seien dem Fiskus Millionenbeträge entgangen.
Diese Art von inoffiziellem Steuerwettbewerb bestätigt Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD): »Wir als armes Land ziehen alles knallhart und gnadenlos durch. Andere Länder können da großzügiger agieren.« Er hat dafür sogar ein gewisses Verständnis. Welches Interesse, fragt er, solle denn auch eine obere Finanzbehörde im reichen Baden-Württemberg haben, aus einem heimischen Unternehmen den letzten Steuer-Euro herauszuholen, wenn der dann über den Länderfinanzausgleich an das arme Berlin abgeführt werden müsse?
Noch mehr Entgegenkommen, und das ist in den Finanzministerien ein gut gehütetes Geheimnis, ist bei großen Steuerstreitigkeiten Usus. Dann werden Vergleichsverhandlungen geführt, in die auch die Oberfinanzdirektionen und die Ministerien eingebunden sind. Da fällt es kaum auf, wenn die Politik den Spielraum, den das Steuerrecht bietet, voll ausnutzt. Experten schätzen den von den Ländern so bewusst herbeigeführten Steuerverlust auf einen hohen einstelligen Milliardenbetrag.
Die Länderinteressen lassen auch Eichels Finanzministerkollegen von der SPD eher zurückhaltend reagieren. »Dem Bund mehr Rechte zu geben löst das Problem nicht«, glaubt der Rheinland-Pfälzer Gernot Mittler. Und NRW-Mann Jochen Dieckmann sieht noch lange nicht den Beweis dafür angetreten, »dass eine Steuerverwaltung in den Händen des Bundes effizienter und kostengünstiger ist«.
Genau dafür aber finden sich in dem Eichel-Papier genügend Belege. Die Brisanz ergibt sich nicht nur aus den provokanten Lösungsvorschlägen, sondern noch mehr aus der schonungslosen Darstellung der derzeitigen Praxis: »Rechtsrahmen und gegenwärtige Praxis des Steuerföderalismus in Deutschland«, so analysieren Eichels Beamte, »behindern die Steuerverwaltung im Alltagsgeschäft, erzeugen Reibungsverluste mit spürbaren finanziellen Folgen und beschränken die internationale Handlungsfähigkeit des deutschen Fiskus.«
Tatsächlich gleicht jeder Ausflug in die deutsche Steuer-Wirklichkeit einer Reise nach Absurdistan. Dutzende Kommissionen beschäftigen sich mit nichts anderem, als Verordnungen für Finanzämter und Oberfinanzdirektionen passgenau zu machen. Allein acht solcher Gremien entwickeln Formular-Vordrucke. Rund 20 Beamte aus den Landesfinanzverwaltungen treffen sich dafür fünfmal im Jahr und dann gleich zu jeweils einwöchigen Klausuren. Ein Großteil der 96 000 Verwaltungsvorschriften entstand nur, weil jedes einzelne der 16 Bundesländer darauf bestand, Schreiben des Bundesfinanzministeriums in eigene Ländererlasse mit identischem Inhalt umzusetzen. Erst vor einem Jahr wurde dieser Papier-Irrsinn gestoppt.
Doch da war es längst zu spät. Im Lauf der letzten fünfeinhalb Jahrzehnte war die einst als »Mittelweg« gepriesene Praxis um so viele Umwege, Irrwege und Abwege erweitert, dass es der Begriff »Steuerchaos« mittlerweile sogar in »Creifelds Rechtswörterbuch«, das nüchterne Nachschlagewerk der Juristen, geschafft hat.
Wie sinnlos dabei Geld verschleudert wird, zeigt das Projekt »Fiscus« besonders anschaulich. Vor 13 Jahren begann der Versuch, die EDV aller Finanzämter kompatibel zu machen. Im nächsten Monat wird das Vorhaben, zerredet in unzähligen Kommissionen, wohl endgültig gestoppt. Für die Reform, die nie kam, wurden 900 Millionen Euro verplempert.
Da gilt schon als Erfolg, dass nach 54 Jahren ein für alle Länder gültiges Steuererklärungsformular realisiert wurde. Ansonsten aber bleibt es bei der kostspieligen Vielfalt. Jedes Bundesland unterhält sein eigenes Datenzentrum mit insgesamt 1200 Beschäftigten. Zusätzlich setzen die Steuerverwaltungen 1300 Computerleute für die Steuerfestsetzung und -erhebung ein. Würde diese Arbeit zentral erledigt, könnten dreistellige Millionenbeträge gespart werden. Zusammenlegung von Steuer-Datenverwaltungen einzelner Oberfinanzdirektionen in Baden-Württemberg und Bayern in der Vergangenheit haben diese Rechnung eindrucksvoll bestätigt.
Die Vielfalt ist nicht nur teuer - die Länderfinanzminister haben jüngst neun Milliarden Euro Kosten für die Steuerverwaltung errechnet, also zwei Prozent des gesamten Steueraufkommens -, sondern auch weltweit nahezu einmalig. Von den europäischen Nachbarn haben alle mit Ausnahme der Schweiz zentrale Steuersysteme.
Dafür liegen die Deutschen bei den Fehlern ganz weit vorn. Eine Untersuchung des Wirtschaftsmagazins »Capital« ergab ein extremes Leistungsgefälle bei den 600 Finanzämtern; die befragten Steuerberater gaben an, dass bundesweit jeder siebte Bescheid falsch sei, etliche Finanzämter brachten es auf eine Fehlerquote von 30, manche gar von 40 Prozent.
Das ist angesichts des Verwaltungs- und Vorschriften-Dickichts nicht verwunderlich. So verschickt das Bundesfinanzministerium beispielsweise so genannte Schreiben des BMF an die Länder. Das sind Erläuterungen und Auslegungshinweise zu Bundessteuergesetzen. Weil die Länder dies nicht als Dekret akzeptieren, einigte man sich auf ein absurdes Verfahren: Die Schreiben werden auf Referentenebene verschickt. Verlangt auch nur ein Referent eine Abteilungsleiter-Runde, muss diese tagen. Und verlangt dann ein Abteilungsleiter eine Klärung auf Ministerebene, entscheidet die Finanzministerkonferenz. Bei so verschlungenen Wegen brauchte selbst eine banale Verwaltungsregel wie die über die steuerliche Behandlung von Waldwertminderungen über zehn Jahre, bis sie akzeptiert wurde.
Praktiker in den Steuerverwaltungen der Länder räumen ein, dass es billiger wäre, wenn die Finanzämter unter dem Bund zusammengefasst werden. »Wenn derjenige, der die Gesetze macht, auch für den Vollzug und die Kosten zuständig wäre«, sagt Dieter Riempp, Präsident der Oberfinanzdirektion
Stuttgart, »wäre vieles einfacher und wirtschaftlicher«.
Die Dienstherren sehen das anders. In Zeiten, in denen mit dem Versprechen Wahlkampf geführt wird, die Steuererklärung könne demnächst auf einem Bierdeckel abgegeben werden, sehen die Länderfinanzminister schon durch einheitliche Computerprogramme und Verwaltungsrichtlinien bereits »die bundesstaatliche Ordnung insgesamt in Frage gestellt«. So jedenfalls steht es in ihrer knapp drei Wochen alten Stellungnahme zu den Eichel-Plänen.
Dass der Finanzminister nun als Don Quichotte der Föderalismus-Mühlen endet, ist allerdings noch nicht ausgemacht. Mit Sarrazin ist bereits der erste Finanzminister aus der Front ausgeschert. Das Papier des Bundes, sagt der Berliner jetzt, sei zwar »stark übertrieben, aber es zeigt tatsächliche Defizite auf«. Und bei der Benennung des Kernproblems ist er auf Eichels Linie: »Die Länder verwalten überall mit und maßen sich deshalb das Recht zur Mitsprache an.« Der pragmatisch orientierte Finanzmann schlägt eine Paketlösung vor. Die Länder sollten die Steuergesetzgebung des Bundes zustimmungsfrei machen, »und im Gegenzug garantiert der Bund ein planbares Steueraufkommen für Kommunen und Länder«. Was das bedeutet, ist Sarrazin klar: »Der Bund würde dann die Finanzämter übernehmen.«
Ähnlich realitätsnah sieht auch Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck das Problem: »Dezentrale Steuereintreibung ist Scheinföderalismus.« Der ostdeutsche SPD-Regent, seinen Kollegen als Zentralist verdächtig, plädiert für eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung. Sein Fazit: »Zeit- und personalaufwendige Abstimmungsprozesse, mangelnde Vereinheitlichung und mangelhafte Nutzung datentechnischer Möglichkeiten sowie die 16fache Durchführung gleicher Verwaltungsaufgaben kosten viel und nutzen wenig.« Der Abstimmungsbedarf der Länder, hat der Regierungschef festgestellt, führe zu einem »Steuertourismus der zuständigen Referenten - ich brauche in meiner Steuerbehörde aber keine Reisekader«.
Der Standort Deutschland, verlangt Platzeck, dürfe nicht zum »steuerpolitischen und verwaltungsrechtlichen Flickenteppich« werden. Der Steuerpolitik komme eine besondere Bedeutung »als nationales Steuerungsinstrument für Wachstum und Beschäftigung« zu.
Was dem Preußen vorschwebt, wurde zum letzten Mal vor 85 Jahren exekutiert. 1919 zentralisierte Matthias Erzberger die Steuererhebung und -verwaltung beim Reich. Berlin sponserte die Länder und Gemeinden nur noch über den Finanzausgleich - als so genannte Reichspensionäre. STEFAN BERG, FELIX KURZ,
WOLFGANG REUTER, HEINER SCHIMMÖLLER, MARKUS VERBEET, ANDREAS WASSERMANN