ITALIEN Verschwörung in Rom
Ziemlich ungeniert wagte die römische Wochenzeitschrift »Espresso« jüngst die triste Prognose: »Wir stehen vielleicht am Vorabend eines neuen 1923, als die Sperrung der Bankkredite unsere Filmindustrie zerstörte, die auch damals eine glanzvolle Industrie zu sein schien.«
Was sich hinter dem Geraune über die schwere Finanzkrise der äußerlich so glanzvollen italienischen Fimindustrie verbirgt, offenbarte sich schlagartig an einem Diskussionsabend im Römischen Filmclub. Vor einem Forum von Fachleuten schmetterte Regisseur Roberto Rossellini wie ein anklagender Volkstribun: »Erst heute entdecken wir, daß die italienischen Produzenten in den letzten Jahren 35 Milliarden Lire (rund 235 Millionen Mark) Schulden angehäuft haben.« Die dem Film nahestehende Illustrierte »La Settimana Incom« berichtete: »Diese Ziffer fiel wie ein Stein in das bestürzte Schweigen der Anwesenden.« Melodramatisch fügte Regisseur Cesare Zavattipi hinzu: »Das Haus steht in Flammen.«
Italiens kinematographischer Generalstab, der Verband der italienischen Filmindustrie (Anica), gab zwar auf diese Alarmsignale beruhigende Parolen aus, aber hinter doppeltgepolsterten Türen löste unterdessen eine Sitzung die andere ab. Die Filmmänner versuchten in Reihum -Konferenzen das vielbeschworene Debakel von Italiens Flimmerproduktion abzuwenden.
Bereits Ende vergangenen Sommers hatte es - wenn auch nur den Eingeweihten vernehmlich - in den Stützpfeilern der römischen Filmstadt Cinecittà geknackt: Die Minerva, eine der größten römischen Produktionsfirmen, stand plötzlich vor dem Bankrott und konnte nur durch einen 500-Millionen-Lire-Kredit gerettet werden. Im Herbst trennten sich Carlo Ponti und Dino de Laurentiis, die Besitzer der bedeutendsten italienischen Filmproduktion. Kurz darauf beschloß Italiens größter Verleih, die Lux-Film, keine eigenen Filme mehr zu drehen.
Über den Hintergrund der Krise schrieb der »Espresso": »Von den zwischen 1946 und 1953 produzierten 685 Filmen brachte nur ein Fünftel die aufgewandten Kosten herein.« Das Blatt zählte eine Liste von Krankheiten auf, unter denen Italiens nur scheinbar großmächtige Filmproduktion dahinsiecht: »Übertriebener Starkult, überhastete Ausweitung der Produktion ohne ausreichende finanzielle Grundlagen und ruinöse Mammut-Projekte.« Wie Italiens Filmproduzenten trotz mangelnder finanzieller Basis in den vergangenen Jahren Filme drehen konnten, berichtete die italienische Presse ausführlich. Nach ihren Schilderungen ist das europäische Film-Dorado in den letzten Jahren ein Tummelplatz von Freibeutern gewesen, die nach einem verwegenen Prinzip arbeiteten: Mit Staatskrediten, die sie für neue Filmprojekte bekamen, bezahlten sie alte Schulden, um neue machen zu können. Ein großer Teil der Produktion wurde nach dieser Methode auf Pump aufgebaut. Das System mußte wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, als der Staat den Kredithahn zudrehte.
Das aber ist zu Beginn dieses Jahres geschehen. Am 31. Dezember lief das sogenannte Gesetz Andreotti aus, das nach dem filmfreundlichen Finanzminister Giulio Andreotti benannt ist und der pausenlos produzierenden nationalen Filmwirtschaft großzügig Staatshilfen, günstige Kredite sowie andere Förderungsmaßnahmen beschert hatte. Italiens Produzenten wurden plötzlich daran erinnert, daß die zum Gemeinbesitz der ganzen Welt gewordenen Italienerinnen-Büsten nicht die einzigen Geheimwaffen waren, mit denen Italiens Filme den internationalen Kinomarkt eroberten, sondern daß im Hintergrund der Fiskus viele Jahre lang Finanz-Hilfe geleistet hatte. Heute sehen die staatlichen Filmförderer auf der Debet-Seite eine Wechsel-Lawine von erschreckendem Ausmaß heranrollen.
Während die Produzenten nun Minister und Abgeordnete bestürmen, die Kredit -Kasse wieder aufzumachen, werden sie von dem wohlwollenden Schutzpatron Cinecittàs, dem Finanzminister Andreotti, auf die mit harten Bedingungen gepflasterte »Straße der moralischen Selbstreinigung« verwiesen.
Diese Straße sollen nach dem Willen der Regierung nicht nur die Traumfabrikanten, sondern auch die Stars in finanzieller Selbstkasteiung beschreiten. Sogar eine so ausgabenfreudige Volksvertretung wie das italienische Parlament erregte sich, als die Spitzengagen, die Roms pleitebedrohte Filmindustrie ihren Helden zahlt, Schlagzeilen in der Presse machten. Es waren Ziffern, die sogar Hollywoods Elite imponieren könnten. In Italien verdient je Film:
- Vittorio de Sica: 100 Millionen Lire (rund 670 000 Mark).
- Gina Lollobrigida: 80 Millionen Lire (rund 535 000 Mark),
- Sophia Loren: 55 Millionen Lire (rund 370 000 Mark).
Alle Gagenrekorde der Filmgeschichte seit den Flegeljahren des Kintopps brach jedoch die zeitweise nach Rom importierte Audrey Hepburn, die für ihre Rolle in dem Mammutfilm »Krieg und Frieden« 375 000 Dollar (1 575 000 Mark) bekam*.
Als erste Maßnahme zur »moralischen Selbstreinigung« fordert nun die Regierung, daß für Spitzenstars Höchstgagen festgesetzt werden. Der Höchstsatz soll für die sogenannte »internationale Klasse« 15 Millionen Lire (rund 100 000 Mark) betragen, für die anschließende »erste Kategorie« dagegen nur noch neun Millionen Lire (rund 60 000 Mark).
Die Idee, von Staats wegen Gagengrenzen festzusetzen, ist nicht gerade neu. Bereits in der faschistischen Ära, als Benito Mussolini Cinecittà als Konkurrenzbastion gegen die damals größte europäische Filmmacht, die deutsche Ufa, gegründet hatte, spiralten unter dem wohlwollenden Mäzenatentum des »Duce« die Spitzengagen in ähnlicher Weise in die Höhe.
Mussolinis Film-Diktator Alessandro Pavolini zitierte schließlich eines Tages die Produzenten zu sich und teilte ihnen mit, daß ab sofort die Höchstgagen für die Publikumslieblinge auf 150 000 Lire (damals rund 20 000 RM) festgesetzt seien.
Kaum hatte Pavolini die smarten Manager mit dem römischen Gruß verabschiedet, da sprangen sie schon, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppen des Ministeriums hinunter. Alle hatten die gleiche Idee: in der nächsten Espresso-Bar ans Telephon zu stürzen und mit dem damals beliebtesten Schauspieler Amadeo Nazzari einen langfristigen Vertrag zu der neuen Höchstgage abzuschließen - mit der vertraulichen Zusage, ihm unter der Hand einen Mehrbetrag zu zahlen.
In den vergangenen Wochen aber gerieten die Produzenten, als sie durch parlamentarischen Druck zur »Selbstreinigung« angespornt wurden, zwischen das Feuer der vergrämten Regierung und das der empörten Kino-Idole. Die vorläufige Liste der Stars, die nach dem Urteil eines Produzentenkomitees zur »Internationalen Spitzenklasse« gehören sollen, konnte nicht geheimgehalten werden und erregte den Zorn der schematisch eingestuften Diven, zumal als sich herausstellte, daß die zur Sparsamkeit angehaltenen Einstufer schärfste »Qualitätsmaßstäbe« angelegt hatten. Die Tabelle der weiblichen 15-Millionen-Lire-Klasse soll folgende Namen enthalten: Gina Lollobrigida, Sophia Loren, Silvana Mangano, Anna Magnani, Silvana Pampanini, Ingrid Bergman und Eleonora Rossi-Drago.
Aber selbst die Stars, die dieser 15-Millionen-Lire-Kategorie angehören, waren in Aufruhr. In den pompösen Villen der Film-Aristokratie organisierte sich bei Whisky und Martini Dry eine Widerstandsbewegung, die das Gagenstop-System über den Haufen zu werfen hofft.
In den letzten Wochen trafen sich in Rom 18 Filmgrößen - acht Regisseure, sieben Schauspieler und drei Drehbuchautoren -, um die Gründung einer gemeinsamen Produktionsfirma unter dem vielversprechenden Namen »Artisti Associati Italiani« zu erörtern. Dieser Firmentitel wurde in Anlehnung an das Vorbild der amerikanischen »United Artists« gewählt, die Mary Pickford, Charlie Chaplin und Douglas Fairbanks sen. seinerzeit gegen die großen Hollywood-Konzerne gegründet hatten.
Die Zeitung »Il Tempo« deutete an, daß zu den Verschwörern auch de Sica, Rossellini, Ingrid Bergman und Anna Magnani gehören.
Eine solche Fronde könnte die Reihen der schwachbrüstigen Produzenten, die zwischen Regierung und Stars nunmehr einen Zweifronten-Krieg zu führen haben, ernsthaft in Bedrängnis bringen. Die meisten Wechsel, die die staatliche Filmkreditbank den geldknappen Traumfabrikanten diskontierte, wurden bisher nämlich nicht durch die Namen der Firmen, sondern durch die Namen der Stars gedeckt.
Italiens Finanzminister Andreotti (r.): Empfehlung zu moralischer Selbstreinigung* Film-Verschwörer Rossellini, Anna Magnani, de Sica: Fronde gegen die Traumfabrikanten
* Die deutschen Spitzengagen liegen bei 100 000 bis 150 000 Mark.
* Links: Charlie Chaplin.