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WEISSRUSSLAND Verschwundene Widersacher

Staatschef Lukaschenko lässt wählen. Nachbar Putin hält noch zu ihm, der Westen stützt den Gegenspieler.
aus DER SPIEGEL 36/2001

Ruhe lautet der oberste Wunsch in dem gebeutelten Staat zwischen Polen und Russland, seit Jahrhunderten Durchmarschland fremder Armeen. Nun ist sie angeblich erreicht, nur keine Experimente mehr.

Der Weißrusse Sergej Posochow war einst als Sowjetoberst in der DDR stationiert, heute berät er den exzentrischen Staatschef Alexander Lukaschenko und preist dessen höchste Errungenschaft: »Wir sind die ruhigste Republik in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten«, dem Verbund früherer Sowjetrepubliken.

Ist es die Ruhe des Kirchhofs oder die vor dem Sturm? Am Sonntag stellt sich Lukaschenko nach sieben Jahren Amtszeit noch einmal zur Wiederwahl, die 1999 fällig war und die er hatte verschieben lassen. Als der ehemalige Leiter eines sowjetischen Staatsgutes 1994 angetreten war, hatte er mit Parolen gegen die Korruption 81,7 Prozent der Stimmen gewonnen, fortan aber die zehn Millionen Einwohner im alten Sowjetstil geschurigelt.

Auch diesmal sieht der Diktator gute Chancen, sich durchzusetzen, obwohl der Westen die Opposition stützt. Die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der Lukaschenko unbedingt zugehören möchte, hat eine ständige Mission in der letzten Diktatur auf dem Kontinent installiert; sie soll auf Einhaltung demokratischer Grundregeln achten. Ihr gelang es, ein landesweites Netz von Wahlbeobachtern aufzubauen und die Oppositionsparteien von halbrechts bis halblinks auf einen Gegenkandidaten zu einigen: Wladimir Gontscharik, 61.

Dem fiel im Juli eine Waffe gegen Lukaschenko in die Hand: Ermittlungsunterlagen, die den Verdacht nähren, das Minsker Regime lasse politische Gegner durch Todesschwadronen ermorden, darunter den ehemaligen Innenminister Jurij Sacharenko und den früheren Parlamentsvorsitzenden Wiktor Gontschar. Die beiden profilierten Lukaschenko-Widersacher waren 1999 spurlos verschwunden.

Ein Oberst Oleg Alkajew vom Innenministerium flüchtete nach Deutschland und erhärtete solche Vorwürfe. Jetzt erscheinen plötzliche Umbesetzungen, die Lukaschenko Ende vorigen Jahres vornahm, in neuem Licht. Damals entließ er den Generalstaatsanwalt, der in Sachen Todesschwadronen gegen Spezialpolizisten ermittelt hatte, und ersetzte ihn durch seinen Vertrauten Wiktor Schejman.

Kritischen Offizieren des Minsker Staatssicherheitsdienstes, der noch immer KGB heißt, gilt Schejman als der böse Geist des Regimes: Er dränge den wohl paranoiden Staatschef in Ängste vor Feinden und Verrätern. Als KGB-Chef Wladimir Mazkewitsch vorschlug, Schejman zu verhaften, entließ ihn Lukaschenko.

Das weißrussische KGB agiert als Ableger des russischen Dienstes, der die Kader ausbildet und einsetzt. Mazkewitsch ist dem russischen Präsidenten Wladimir Putin aus dessen Zeit als Direktor des Föderalen Sicherheitsdienstes FSB verbunden. Zu der Wahl in der kleinen Nachbarrepublik hat Putin bislang geschwiegen, anders als Moskaus KP-Chef Gennadij Sjuganow und der Polit-Polterer Wladimir Schirinowski, die Lukaschenko besuchten und in höchsten Tönen lobten.

Zwar wird der Machthaber von Minsk in Moskau als Belastung empfunden. Doch sein Regime übt außenpolitische Loyalität, pflegt engsten Kontakt mit Russland in einer speziellen »Union« und empfängt dafür Zollpräferenzen und Öl. Durch Nichtbeachtung der Opposition praktiziere Moskau »eine positive Neutralität zu Gunsten Lukaschenkos«, bedauert ein Mitarbeiter der OSZE in Minsk.

Deshalb, so fürchten viele OSZE-Beobachter, sei die Zeit für einen Machtwechsel in Minsk noch nicht gekommen und möglich nur mit Hilfe der Sponsoren aus den USA und der EU. Von ihren Mitgliedsbeiträgen konnten die weißrussischen Demokraten nicht mal die Lautsprecheranlage für ihren Spitzenkandidaten bezahlen. Die Boxen und einen Kleinbus stiftete eine US-Gewerkschaft.

Die Amerikaner haben einen Mann nach Minsk entsandt, der Erfahrungen im Einsatz gegen Regimes gesammelt hat, die Washington nicht genehm sind. In Nicaragua hatte US-Botschafter Michael Kozak sogar den Sturz der Sandinisten mit Hilfe von Wahlen koordiniert.

Sein Schützling Gontscharik ist allerdings kein mitreißender Redner, noch zählt er zum demokratischen Urgestein. Der Absolvent der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der KPdSU, zu Sowjetzeiten Chef der örtlichen Staatsgewerkschaft, hatte sich noch 1996 einer Lukaschenkotreuen Parlamentsfraktion angeschlossen. Die Staatsmedien verhöhnen ihn als »typischen Nomenklaturkader«.

Vor gerade mal 500 Zuhörern im Stadtpark von Molodetschno, einer Stadt mit 100 000 Einwohnern, ruft Gontscharik zum Aufstand der Anständigen. Bieder beklagt er, »dass in Friedenszeiten Leute spurlos verschwinden«. Ohne viel Überzeugungskraft verspricht er: »Wir finden die Schuldigen.« Vor allem ältere Weißrussen, die bei ihren Nachbarn den Ruf gutmütiger und genügsamer Hinterwäldler genießen, möchten sich einen solchen Blick in die Abgründe ihres in sowjetischer Lethargie erstarrten Gemeinwesens lieber ersparen.

Bei monatlichen Durchschnittslöhnen von umgerechnet 220 Mark verlassen viele junge Leute das Land. Doch Ruheständler, ein Drittel der Wahlberechtigten, könnten dank pünktlicher, wenn auch kümmerlicher Rentenzahlung Lukaschenko zu weiteren fünf Amtsjahren verhelfen: Ruhe über alles.

Geschickt appelliert der slawophile National-Sozialist Lukaschenko an das »Gefühl nationaler Würde« und rühmt die »kostenlose medizinische Versorgung« in seinem Staat. Auch mit Warnungen vor fremder Einmischung hat er bei einfachen Gemütern umso mehr Erfolg, als das russische Beispiel von »Reformen«, die allzu oft nur ein Synonym für Raub und Plünderung des Volksvermögens waren, in Weißrussland abschreckend gewirkt hat.

Und ohne Unterlass würdigt die Nachrichtensendung »Panorama« des staatlichen Fernsehens den Präsidenten, derweil die Opposition nur Alibi-Sendeminuten bekommt. Vor allem auf dem Land ist das Staatsfernsehen, gelenkt von einem früher in der DDR aktiven Polit-Offizier, samt dem offiziellen Nachrichtenblatt »Sowjetisches Weißrussland« vielerorts einzige Informationsquelle. Die Zeitung wird vom Präsidialamt herausgegeben. Oppositionsblätter werden dagegen immer wieder beschlagnahmt, ihre Redaktionen von der Steuerfahndung traktiert.

Lukaschenkos Polizeiapparat von rund 150 000 Mann konnte allerdings neben dem politischen Widerstand auch die Alltagskriminalität stutzen. Eine richtig gute Tat hat der Diktator überdies vollbracht: Er hält seine Soldaten von Kriegsgebieten wie Tschetschenien fern - das zählt in einem Land, das im Zweiten Weltkrieg über ein Viertel seiner Bevölkerung verlor.

Das Blatt »Sowjetisches Weißrussland« trommelt zur »schicksalsträchtigen Wahl": Lukaschenko sei es, der »uns Zuversicht für den morgigen Tag gibt« - die Aussicht auf eine sanfte Ruhe. UWE KLUßMANN

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