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»VERSENKT DIE SHELL«

Mißmanagement beim Öl-Multi Shell: Mit seinem Versuch, das Meer als Müllkippe zu benutzen, hat der Konzern europaweit für Aufruhr gesorgt. In Deutschland und Holland boykottieren Verbraucher die Shell-Tankstellen. Die Umsätze schrumpfen, der Aktienkurs in London bröckelt, das Image ist ruiniert. Wann knickt der Multi ein?
aus DER SPIEGEL 25/1995

Alles klang ganz nach Greenpeace: Die Rede war frech, die Gesinnung schien gründlich grün.

Er und viele andere, begann der Mann mit bedächtiger Stimme, hätten das Gefühl, daß mit unserer Gesellschaft »etwas nicht in Ordnung ist«. Ihn bekümmere vor allem »der sorglose Umgang mit der Umwelt«.

Mit Leisetreterei, das war den Zuhörern schnell klar, wollte der Mittfünfziger sein Ziel nicht erreichen. Für ihn gelte es, »Flagge zu zeigen, durch beispielhaftes Verhalten Aufmerksamkeit zu erregen und damit gesellschaftlich etwas zu bewegen«. Er habe gelernt, daß auch der einzelne viel erreichen kann - »durch persönlichen Einsatz im Alltag«.

Die Botschaft saß. Die schönen Worte des Peter Duncan, Deutschland-Chef des Öl-Multis Shell, entsprachen der Stimmung im Lande. Die im März vorgestellte Werbekampagne der Shell AG (Motto: »Wir wollen etwas ändern") kam an - und zwar gewaltig.

Seit die britische Shell versucht, die Ölplattform Brent Spar im Meer zu versenken, zeigen die Kunden täglich Flagge - gegen den Öl-Multi. Millionen Menschen wollen etwas bewegen - am liebsten den Konzern zum Verzicht auf das Versenken. An persönlichem Einsatz herrscht kein Mangel - viele tanken bei der Konkurrenz, auch wenn der Weg zur Tankstelle dadurch länger wird.

Weil Shell sich stur stellte, blieben auch die Kunden hart. Den aus dem Autofenster gereckten Stinkefinger, ein Motiv der Shell-Plakatwerbung, bekamen die Pächter der Tankstellen nun selbst gezeigt.

Ein Sponti-Spruch aus den achtziger Jahren, als Shell wegen seiner Geschäfte in Südafrika ins Gerede kam, macht wieder die Runde: »Shell to hell«, zur Hölle mit Shell.

Die Shell-Pächter in deutschen Großstädten melden Umsatzrückgänge von teilweise über 50 Prozent. Selbst Pächter des Shell-Konkurrenten Agip, dessen Stationen überwiegend im shelltypischen Gelb gestrichen sind, registrieren plötzlich Kundenschwund: »Die Leute sehen das Gelb und fahren vorbei«, klagt der Münchner Agip-Pächter Hubert Felder.

Noch nie war die Front gegen einen Umweltfrevler so massiv wie diesmal. Der CSU-Generalsekretär und die Kirchen, Genossen, Gewerkschaften und selbst clevere Unternehmer wie der Strumpfhosenhersteller Kunert propagierten einen Boykott des Ölkonzerns. Der korrekte Kunert will das Shell-Öl, das bisher seine Strickmaschinen schmierte, gegen ein anderes Produkt austauschen.

In den Leserbriefspalten der Bild-Zeitung tobten sich die Freunde vom Stammtisch aus. Erregte Leser gaben rabiate Ratschläge, wie mit den Multi-Managern _(* Unter Wasserwerferbeschuß. )

und ihren Freunden in der britischen Regierung zu verfahren sei: »Schmeißt die Engländer aus der EU.« »Sperrt die Shell-Manager im Öl-Turm ein, danach versenken.« »Werft den Verantwortlichen von Shell Giftmüll in ihre Pools.«

Wenn der Volkszorn hochkocht, köcheln auch militante Autonome gern mit. In der Nacht zum Mittwoch beschossen Unbekannte eine Shell-Station in Mörfelden-Walldorf mit sechs Projektilen. Am Freitag morgen stand der Verkaufsraum einer Shell-Station in Hamburg-Volksdorf in Flammen.

Noch nie hat ein Weltkonzern so viele Menschen in so kurzer Zeit gegen sich aufgebracht. Das Image des Multis, der Öl, Benzin und Chemieprodukte verkauft, ist gründlich ramponiert.

Es war ein Paradebeispiel dafür, wie sich Empörung und politisches Handeln an einem einfachen Symbol festmachen ließen. Abend für Abend wurde das rostige Stahlgerippe, fast so hoch wie der Kölner Dom, in majestätischer Langsamkeit vor den Augen des Fernsehvolks vorbeigezogen - häßliches Sinnbild der Brutalität, mit der sich ein Industrieunternehmen seiner Ruinen aus Stahl und Dreck entledigt, wenn es sie nicht mehr braucht.

Das Monstrum sollte weggekippt werden, so, als führe jemand sein Autowrack einfach in den nächsten Baggersee - und das vor den Augen einer Nation, die gewohnt ist, Tag für Tag penibel ihre Joghurtbecher zu sammeln und sie in speziellen gelben Säcken zu entsorgen. In einem Land, wo jede Öllache in einem Park oder auf einer Wiese polizeiliche Ermittlungen nach sich zieht.

Gemessen an dem Dreck, der mit dem normalen Betrieb von Ölbohrinseln und Tankern, aber auch mit dem stinknormalen Autoverkehr und seinen Abgasen entsteht, waren die Giftmengen im Bauch der Tankplattform geradezu eine homöopathische Dosis.

Rund 20 000 Tonnen Öl gelangen jedes Jahr allein in die Nordsee, weil Fahrzeuge und Kraftwerke ihren Treibstoff nicht vollständig verbrennen; der unerledigte Rest entweicht in die Luft und geht zum Teil über dem Meer nieder.

Schiffsbesatzungen, die auf hoher See illegal ihre Treibstofftanks auswaschen, aber auch die Schmutzfracht von verdreckten Flüssen und direkte Einleitungen von Industrieanlagen an der Küste setzen dem Meer noch mal genauso zu.

Nach neuesten Schätzungen der Nordsee-Anrainer-Staaten summiert sich der jährliche Öleintrag allein in die Nordsee auf 86 000 bis 210 000 Tonnen - so als würde jedes Jahr ein Tanker von der Größe der »Amoco Cadiz« auf Grund laufen.

Aber diese ganz normale Form von Schändung der Natur bleibt im verborgenen. Das Ölinsel-Wrack Brent Spar hingegen und seine Medienpräsenz trafen das Umweltgewissen der Deutschen genau.

Wie eine Seeschlacht zwischen Gut und Böse nahm sich aus, was da vor den Shetland-Inseln ablief: bergsteigegeübte Greenpeacer, die in leuchtend roten Overalls auf schwankendem Schlauchboot den verhaßten Öl-Multi an seiner rostigsten Stelle attackierten. Das Wahlvolk, angeblich so politikmüde, nahm die Chance wahr, sich einzumischen - wenn es auch billig schien, nur die Tankstelle zu wechseln. Und staunend nahmen die Deutschen zur Kenntnis, wie ihre Abstimmung an der Zapfsäule den _(* Vor einer Shell-Tankstelle in ) _(Hamburg. )

skrupellosen Öl-Multi tatsächlich in die Enge trieb.

Die Umweltschützer von Greenpeace haben schon viele spektakuläre Aktionen veranstaltet: Sie haben sich von Brücken abgeseilt, Schornsteine erklommen und Walfänger gestoppt, und sie machen seit der vergangenen Woche auch noch gegen die französischen Atomtests mobil. Keine Aktion aber hat eine solche Dynamik entwickelt wie der Protest gegen die Versenkung der Shell-Plattform.

Greenpeace hat, keine Frage, einen Nerv getroffen. Natürlich wurde die Kampagne, wie immer, generalstabsmäßig geplant und mit den Mitteln des modernen Marketings verkauft. Aber das erklärt nicht, warum sich jetzt fast die gesamte Nation den Öl-Multi Shell zum Feind erklärt hat.

Im Protest gegen Shell entlade sich die ganze Wut der Bevölkerung gegen all die hohlen Öko-Sprüche der Industrie, glaubt Thilo Bode, Geschäftsführer der deutschen Greenpeace und aussichtsreicher Kandidat für den internationalen Chefposten. Alle reden ökologisch - und handeln dann doch rein ökonomisch.

Vielen Deutschen reicht es jetzt. Die Müllentsorgung im Meer ist zu offensichtlich ein Verstoß gegen die guten Sitten. Millionen fragen sich: Warum darf der Weltkonzern, was wir nicht dürfen? Wem, bitte schön, gehört der Ozean?

Ein erboster Korvettenkapitän rief letzte Woche bei Umweltministerin Angela Merkel an. Er müsse gegen einen Matrosen disziplinarisch vorgehen, klagte der Mann, weil der eine Cola-Dose über Bord geworfen hatte. Die Ministerin war ratlos.

Weltweit wurde der Shell-Konzern zur Chiffre für Profit um jeden Preis. Die wohlfeilen Sprüche zu Umweltschutz und gesellschaftlicher Verantwortung sind als billige Reklame entlarvt. Die Aktion, urteilt die Londoner Financial Times, habe sich für den Konzern zum »PR-Alptraum« entwickelt.

Die Fernsehbilder aus der Nordsee, wo Greenpeacer die letzte Reise der Brent Spar begleiten, heizen die Stimmung weiter an.

Mit Wasserkanonen, die pro Minute sechs Tonnen Wasser ausspucken, zielten die Shell-Schiffer auf gewaltfreie Greenpeace-Leute im Schlauchboot. Menschenleben, so muß es scheinen, spielen für den Öl-Multi Shell keine allzu große Rolle.

Via Satelliten-TV war in jedem Dorf zu sehen: Ein Weltkonzern reagiert wie ein bösartig verzogener Halbwüchsiger.

Die Greenpeace-Aktionisten hatten am vergangenen Freitag zunächst vergebens versucht, die Plattform zu besetzen. Erst im dritten Anlauf gelang es schließlich zwei Umweltschützern, sich vom Helikopter auf die Brent Spar abzuleinen.

Seit dem 11. Juni schon begleiten rund 30 Greenpeace-Mitglieder die Ölplattform, die von der Nordsee in den Atlantik geschleppt wird. Dort soll das schwimmende Tanklager, so der Shell-Plan, Ende dieser Woche für immer in den Fluten verschwinden.

Die Off-shore-Anlage Brent Spar, ein 14 500 Tonnen schwerer und 137 Meter hoher Stahlkoloß, wurde 1976 in Betrieb genommen. Sie diente als Speichertank, um das Öl der nahe gelegenen Bohrinsel »Brent A« so lange zwischenzulagern, bis Tanker es abholten.

Schon zwei Jahre später war der schwimmende Silo überflüssig: 1978 wurde das Brent-Ölfeld an das Pipelinenetz angeschlossen.

Unbeachtet rostete der schwimmende Koloß rund 190 Kilometer nordöstlich der Shetland-Inseln vor sich hin. 1995 endet die Lizenz der britischen Regierung für die alt gewordene Plattform.

Shell muß sie entsorgen - und will sparen. In 2000 Meter Tiefe, rund 850 Kilometer vom einstigen Einsatzort in der Nordsee entfernt, soll die Lagerplattform daher im Meer versenkt werden.

Radioaktive Salze, Ölschlämme, durchsetzt mit Schwermetallen und PCB-Resten aus zwei Transformatoren, würden gemeinsam mit dem Stahlgerippe auf Nimmerwiedersehen im Atlantik verschwinden - Müllkippe Meer.

Der Zoff um die Plattform hat vor allem Symbolcharakter. Weit mehr Nordseewasser wird durch den Betrieb der rund 420 Förderplattformen in der Nordsee verschmutzt. Knapp 30 000 Tonnen Öl entweichen jährlich aus den Off-shore-Stationen.

Schlimme Dreckschleudern sind die Bohrer, die wie Riesenmeißel den Meeresgrund aufstemmen. Für ihren Vorstoß Richtung Erdinneres benötigen sie Bohrschlamm, eine giftige Mixtur aus Öl, Mineralien und Chemikalien.

Greenpeace bestreitet nicht, daß die Sprengung der Brent Spar auf Flora und Fauna des Meeres kaum Einfluß hat. Die Umweltschützer fürchten den Präzedenzfall.

Viele Nordsee-Bohrinseln sind in die Jahre gekommen, die meisten stammen aus den späten Siebzigern und frühen Achtzigern. Bald beginnt in der Nordsee ein Abwrackprogramm ohne Beispiel. Nach Greenpeace-Berechnungen enthalten alle Nordsee-Plattformen zusammen 2,6 Millionen Tonnen Stahl, 1800 Tonnen Blei, 50 000 Tonnen Ölrückstände und 20 Tonnen hochtoxisches PCB.

Jahrelang hatten sich die Umweltschützer für die Reinhaltung der Weltmeere engagiert. Die Verklappung von Dünnsäure aus der chemischen Industrie ist heute verboten. Auch die Verbrennung von Giftmüll auf hoher See mußte eingestellt werden. Noch immer betrachten die Anrainer, die Briten vorneweg, das Meer als ihre persönliche Müllkippe: *___Die Abwässer von 30 Millionen Menschen, ____insbesondere in Großbritannien und Frankreich, fließen ____weiter ungeklärt ins Meer. *___Rund 500 000 Tonnen Stickstoffe aus ____Industrieschloten oder Autos werden über die Luft ins ____Wasser transportiert. *___Radioaktive Stoffe gelangen - ganz legal - über die ____britischen Wiederaufarbeitungsanlagen Thorp und ____Dounreay in den Atlantik. Die Strahlenbelastung durch ____flüssiges Tritium und Plutonium ist inzwischen bis zum ____norwegischen Eismeer nachzuweisen. *___Die Seeschiffahrt belastet jährlich mit 70 000 ____Tonnen Ölresten die Nordsee. Das Abkippen von Müll und ____die Einleitung von Fäkalien aus Fährschiffen ist noch ____immer gesetzlich ungeregelt.

Wenn die Brent Spar sich geräuschlos versenken ließe, so die Angst der Meeresfreunde, würden weitere Ölplattformen in das feuchte Grab folgen. Shell spricht von einem Ausnahmefall.

Doch diesen Ausnahmefall hätte sich die holländisch-britische Royal Dutch/ Shell-Gruppe dann besser verkniffen. An Geldknappheit leidet der Multi jedenfalls nicht. Im vergangenen Jahr setzte der Konzern 116 Milliarden US-Dollar um und verdiente dabei 6,3 Milliarden Dollar - soviel wie die deutschen Großkonzerne Daimler-Benz, Siemens, Hoechst, Veba, Bayer, BASF und Viag zusammen.

Das Unternehmen beschäftigt 106 000 Leute und erwirtschaftete zwischen 1992 und 1994 im Schnitt eine Kapitalrendite von 9,1 Prozent.

Das US-Wirtschafts-Magazin Fortune wird Shell nächsten Monat in seiner neuen Liste der 500 größten Unternehmen hinter den Automobil-Konzernen General Motors und Ford auf Position drei plazieren. Nach einer 1993 erschienenen Studie der Vereinten Nationen über »Transnationale Gesellschaften« besitzt Shell von 37 000 untersuchten Unternehmen mit 69,2 Milliarden Dollar mehr Auslandsanlagen als jede andere Gruppe.

Shell ist damit die bedeutendste globale Firma der Welt - der Mega-Multi unter den internationalen Konzernen. Das Unternehmen wird aus London und Den Haag geführt und ist in 130 Staaten der Welt präsent.

Die Statthalter der nationalen Gesellschaften können sich frei bewegen, solange die Zahlen stimmen. In sensiblen Ländern allerdings wird die politische Strategie etwas genauer abgestimmt. So war es bisher. Und so brachte es Shell zum Weltkonzern.

Eine politische Glanzleistung legte die Shell-Gruppe in Südafrika hin. Während sie in Westeuropa als Verbündete des Apartheid-Regimes boykottiert wurde, ging sie vor Ort auf kontrollierte Distanz zu den konservativen Kräften des Regimes und bandelte mit den Progressiven an.

Während viele US-Unternehmen Südafrika verließen, hielt Shell in Johannesburg und Kapstadt die Stellung. Nach dem Sieg der Schwarzen wird nun die Dankesprämie kassiert.

Stets handeln die nationalen Shell-Gesellschaften nach den Gesetzen und den Grundströmungen des Landes, in dem sie ihre Produkte verkaufen wollen. In Nigeria ließ sich die Firma von einer schießwütigen Regierung schützen.

Geht es um Deutschland, ist perfekter Umweltschutz Programm - Motto: »Wir wollen etwas ändern.« Gefühle und politische Grundhaltungen werden so zu Kalkulationsgrößen von Kaufleuten.

Bei der Brent Spar versagte das filigrane System. Die konzernübergreifende Kommunikation war langsamer als die der Medien: Die für das Plattform-Geschäft zuständigen Briten verfuhren nach dem alten Insel-Witz: »Fog in London - continent cut off.«

Zuständig für den Betrieb der Hochsee-Logistik ist die Shell Exploration and Production Company (Expro), eine von Shell (UK) kontrollierte Service-Gesellschaft. Sie hat es in schöner britischer Tradition mit schwerem Gerät zu tun, ihre Mitarbeiter kennen die See und beachten die Vorschriften. Mit Leuten ihres Schlages hat Britannien einst Indien beherrscht und 1940 gegen Hermann Görings Luftwaffe The Battle of Britain gewonnen.

Was hinter dem Horizont passiert, interessiert sie nicht so sehr. Die Sensibelchen auf dem Kontinent passen ohnehin nicht in ihr Weltbild.

Aus dem Golf von Mexiko wußten sie zudem, daß die Regierung der USA das Versenken von Bohrplattformen, nachdem der Dreck herausgepumpt und der giftige Lack abgekratzt war, in 44 einzelnen Fällen erlaubt hatte. In den seichten Gewässern des Golfs sollten sie als künstliche Riffs Brutstätten für Fische abgeben (siehe Kasten Seite 28).

Lustlos brachten die Briten den vorgeschriebenen Genehmigungsprozeß in Gang. Sie haben die Scottish Fishermen''s Federation konsultiert, die Scottish Natural Heritage, das Joint Nature Conservation Committee und die für die Genehmigung zuständige britische Regierung gefragt. Das war''s. Wer ist Greenpeace?

Die Firma Rudall Blanchard Associates Limited hatte im Shell-Auftrag alle Details der Entsorgung untersucht. Das interne Gutachten analysiert die politische Akzeptanz der insgesamt sechs Entsorgungs-Optionen sowie mögliche Umweltschäden - und kommt zu krassen Fehlurteilen.

Option 1, die von Umweltschützern geforderte Demontage der Anlage an Land, schneidet bei den Umweltauswirkungen am günstigsten ab. Die Prüfer testieren ein »vernachlässigbares Risiko für die Umwelt«.

Die heute vom Shell-Management als technisch nur schwer beherrschbar eingestufte Land-Entsorgung scheint in der Analyse kein Problem. Alle Phasen werden als »technisch durchführbar« eingestuft. Die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Unfalls scheint gering: Sie liegt zwischen 0,030 und 0,088 Prozent.

Nur die Kosten der Aktion sind enorm. Das politisch korrekte Recycling kostet viel Geld - 46 Millionen Pfund.

Option 3, die Sprengung der Anlage noch im Ölfeld, sei die »technisch einfachste Lösung«. »Unzweifelhaft« handele es sich auch um die »billigste Option«. Sie habe im Konzern nie ernsthaft eine Rolle gespielt, versicherte Shell-Manager Heinz Rothermund am vergangenen Mittwoch.

Die interne Studie enthüllt die Gründe: Selbst die laschen britischen Gesetze reichen für die Ex-und-hopp-Entsorgung, im Jargon der Off-shore-Industrie auch als Walk-away-Strategie bekannt, nicht aus. Das Versenken in der Nordsee wird als »nicht genehmigungsfähig« eingestuft.

Die später von Shell beschlossene Option 4, die »Tiefwasserentsorgung« im Nordost-Atlantik, erschien den Prüfern ökologisch unbedenklich. Die Folgen für Umwelt- und Ressourcennutzung seien »gering und bleiben auf den Tiefwasserstandort lokalisiert«.

Das Todesrisiko für die Arbeiter liege zwischen 0,005 und 0,014 Prozent. Auch die »vergleichsweise geringen Kosten« sprachen für diese Lösung. Nur 11,8 Millionen Pfund seien zu zahlen - ein Viertel der Entsorgung an Land.

Politisch sahen die Prüfer kein Problem für Shell: »Diese Option dürfte für Behörden und interessierte Dritte akzeptabel sein.« Die Expro-Manager waren beruhigt.

So gerüstet, sprachen die Shell-Leute aus dem schottischen Off-shore-Hauptquartier Aberdeen den Vorgang mit der Londoner Muttergesellschaft Shell UK ab. Als letzter formaler Akt fand noch ein Meeting bei der in Den Haag amtierenden zentralen Service-Abteilung des Gesamt-Konzerns statt.

Trotz der Umwelt-Sensibilität in den Niederlanden wurde das Entsorgungsprojekt gebilligt. Damit landete der Vorgang wieder auf der britischen Insel.

Die Regierung in London nickte nur - wie stets, wenn der Öl-Multi seine Wünsche vorträgt. »Vom ökologischen Standpunkt aus« sei die geplante Versenkung der Brent Spar »die sauberste Option«, sagte Umweltminister John Gummer.

Für den britischen Steuerzahler ist die Versenkung der Plattform im Meer auch die günstigste Lösung: Denn »bis zu 60 Prozent« der Abwrackkosten, rechnete Energieminister Tim Eggar den Briten vor, könnte der Multi über Steuerersparnisse der Staatskasse aufbürden.

Die Seebestattung, das leuchtet sofort ein, ist billiger für Shell und den Staat.

Die britische Feinabstimmung drang nie über den Kanal. In den entscheidenden letzten Monaten waren die Funktionsträger der Royal-Dutch-Shell-Gruppe mit einem Vorgang beschäftigt, der sie mehr forderte als das Entsorgungsprojekt Brent Spar: Der Konzern wird umorganisiert und verpaßt sich eine andere Personalstruktur, die modisch als »schlank« ausgewiesen wird.

Besonders betroffen von der Personal-Diät sind Verwaltungsabteilungen ohne meßbare Produktivität. Außergewöhnlich hoch wird die Freisetzungsquote bei der Public-Relations-Abteilung angesetzt. »Da bleibt kaum einer sitzen«, ahnt ein Insider. Jeder dachte an die blauen Briefe - und keiner dachte an Deutschland.

Der Deutsche-Shell-Chef Duncan erfuhr von dem Beginn der Brent-Spar-Entsorgungsaktion aus dem Fernsehen. Die Rückfrage nach London ergab die Bestätigung: Yes, Peter, es stimmt, die Plattform wird demnächst versenkt - so what.

Seither ist die deutsche Zentrale des Öl-Multis, die immerhin 11,5 Prozent zum Jahresumsatz beisteuert, in Aufregung. »Ein unglaublicher Flop, unverzeihbar«, sagt ein Manager der Deutschen Shell. »Eine Dummheit«, bekennt auch Chef Duncan (siehe Interview Seite 33).

Intern versuchte der Chef der Deutschen Shell, ein Neuseeländer mit Aufstiegs-Chancen, die Briten zur Umkehr zu bewegen. Sein Vorschlag an die Führung in London: ein Moratorium auf See. Der Stahlriese Brent Spar solle bis zum Ende von Verhandlungen bleiben, wo er ist.

Duncans Vermittlung hinter den Kulissen hatte bis Freitag nacht keinen Erfolg. Der internationale Widerstand ließ die selbstgewissen Briten nur noch sturer werden. Freitag nachmittag erhielt der rührige Deutschland-Chef sogar öffentlich eine Abfuhr aus London.

Vor der geladenen Presse in Hamburg verlas er eine Erklärung der Shell UK, in der es floskelhaft hieß: »Wir nehmen uns Zeit.« Auf Nachfrage schob Duncan seine Sicht der Dinge hinterher: »Ich interpretiere das als Verschiebung der Versenkung.« Duncan hoffte, die erhitzte Debatte würde so an Dampf verlieren.

Doch daran hatten die Konzernzentralen offenbar kein Interesse. Kaum lief die Meldung »Versenkung wird möglicherweise verschoben« über die Ticker der internationalen Nachrichtenagenturen, meldeten sich die Konzernzentralen in Den Haag und London mit ihrer Lesart zu Wort.

Die niederländische Shell, so dpa, »dementierte, daß die Versenkung verschoben« werde. London stellte »unmißverständlich« klar: »Shell bleibt bei ihrem Plan.« So ist noch kein deutscher Vorstandschef von seiner ausländischen Mutter vorgeführt worden. Duncan tauchte ab, er war danach nicht mehr zu sprechen.

Verblüfft verfolgten internationale Politiker und PR-Profis, wie der Multi sich immer mehr verhedderte.

Die komplizierte Eigentümerstruktur macht schnelles Entscheiden nicht leichter. Shell ist nicht, wie Coca-Cola, Walt Disney oder McDonald, ein Konzern aus einem Guß.

Das Ungewöhnliche fängt schon mit den zwei Wohnsitzen an. An der Börse können Anleger keine Royal Dutch/ Shell-Aktien kaufen, sondern nur Papiere der Nederlandsche Petroleum Maatschappij (Royal Dutch) in Den Haag und der The Shell Transport and Trading Company in London (siehe Grafik). Unterhalb dieses Doubles arbeiten die Shell Petroleum in den Niederlanden, The Shell Petroleum Company in Großbritannien und Shell Petroleum in den USA.

Als Gründer der Shell gilt der Londoner Geschäftsmann Marcus Samuel. Er hatte von seinem Vater ein Importgeschäft für Muschelkästen, die sich in bürgerlichen Salons gut machten, geerbt.

Daraus entwickelte er ein hübsches Handels- und Schiffahrtsunternehmen. 1897 gründete er die Shell Transport and Trading Company. Auf den Schornsteinen seiner Kohle- und Ölschiffe prangte schon bald eine Muschel aus Vaters Geschäft, bis heute das Firmenemblem.

Auf Royal-Dutch-Boß Henry Wilhelm August Deterding wäre er nie gestoßen, wäre nicht der friesische Bauernsohn Aeilko Jansß Zijlker vor einer enttäuschten Liebe aus Holland nach Indonesien geflohen, das damals Niederländisch-Indien hieß.

Mit 25 000 geliehenen Gulden begann Zijlker dort, nahe dem Kaff Talega Toengal, nach Öl zu bohren, und wurde fündig. Daraus entstand am 18. April 1890 die »Koninklijke Nederlandsche Maatschappij tot Exploitatie van Petroleumbronnen in Nederlandsch-Indie«.

Nach der Verleihung eines Privilegs durch König Willem III. der Niederlande hieß die Firma »Royal Dutch«. Willem reservierte fünf Prozent der Aktien für die Königsfamilie und legte damit den Grundstock für den industriellen Reichtum der Oranier.

Deterding galt schon bald als »Napoleon des Öls«. 1907 erwischte er eine Schwächephase von Marcus Samuel, der zwischendurch Londons Bürgermeister gewesen war, und fusionierte seine Royal Dutch mit der britischen Shell. Seitdem wird die Firma zu 60 Prozent von Den Haag und zu 40 Prozent von London aus regiert.

Shell wurde zu dem, was die Branche den »voll-integrierten Ölkonzern« nennt: Shell besitzt weltweit Ölquellen, Transport-, Verarbeitungs- und Vertriebsnetze, die sich global schalten lassen.

Da Öl und Ölprodukte überall auf der Welt gleich aussehen, also nichts mit den unterschiedlichen Kulturen zu tun haben, wurden die Ölgesellschaften zu den mächtigsten privatwirtschaftlich organisierten Global-Organisationen. Ihr Geschäft ist das Öl, der Schmierstoff der Zivilisation. Ihre internationalen Firmen sind die Blutader jedes Wirtschaftssystems.

Mit Shell und Standard Oil voran entstand ein oligopolistisches Verbundsystem rund um die Welt, das sich stets gegenseitig mit Rohöl, Ölprodukten und Schiffsraum aushilft und das bei Bohrkonzessionen, Bohrinseln und Rohrleitungssystemen untrennbar vernetzt ist.

Mehr als alle anderen hat Shell über die Jahrzehnte einen eigenen Menschenschlag entwickelt. Während den US-Multis immer noch etwas schlicht Amerikanisches anzumerken ist und BP sich britisch gibt, ist der Muschel-Konzern eine Welt für sich.

In den unteren und mittleren Hierarchie-Ebenen arbeitet das Unternehmen fast ausschließlich mit heimischem Personal, in den oberen mit den konzerneigenen Internationalisten.

Damit alles optimal gemischt wird, hat das Unternehmen einen pyramidenartigen Personalplan entwickelt. Und dem liegt ein rabiates Strickmuster zugrunde: Jeder weiß unter sich mindestens zwei Personen, die sofort seine Nachfolge einnehmen können.

Wie von allein ist so für die internationale Folgsamkeit des Top-Personals gesorgt. Extratouren lohnen sich nicht. Wer sich auf Kosten der Konzernspitze profiliert, kann seine Memoiren schreiben.

Öffentlich beachtet daher auch Deutschland-Chef Duncan die harte Linie der Multi-Mutter. Auf der Strecke bleibt seine Glaubwürdigkeit im Unternehmen. Selbst der Betriebsrat hat sich mittlerweile gegen die Versenkung der Brent Spar ausgesprochen.

Den 3000 deutschen Shell-Mitarbeitern wollte Duncan dagegen in einem Rundschreiben weismachen, daß in London »ein ehrlicher Versuch gemacht worden ist, das Beste für Umwelt und menschliche Sicherheit zu tun«. Es sei derzeit nur schwierig, in der Öffentlichkeit »einen ausgewogenen Standpunkt durchzubringen«.

Die Schwierigkeiten hat der Konzern vor allem in Deutschland: Nirgendwo sonst zeigte die Kampagne von Greenpeace eine vergleichbare Wirkung.

Britischen Zeitungen war der Wirbel eine Notiz wert. In Frankreich debattierten Politiker allenfalls verwundert darüber, warum sich die Deutschen, die doch kaum eine Meeresküste haben, so aufregten. Wieder einmal wurde deutlich, daß die vielleicht tiefste Kluft im gemeinsamen Europa das unterschiedliche Umweltbewußtsein ist.

Ende vergangener Woche aber schwappte der Protest auch in die Niederlande über. Und selbst im wenig umweltbewußten Großbritannien werden jetzt Shell-Tankstellen boykottiert.

Der Ölmanager Duncan will von seiner peinlichen Werbekampagne dennoch nicht abrücken. »Die Versenkung der Brent Spar und unsere Kampagne stehen keineswegs im Widerspruch«, behauptet Duncan: »Wir können sie guten Gewissens fortführen und werden dies auch tun« - allerdings nach einer kleinen Pause.

Soviel Stehvermögen hat der Neuseeländer von einem seiner Vorgänger, Cornelius Herkströter, gelernt. »Augen auf und durch« war dessen Devise.

Die derzeitige Krise läßt sich mit diesem Rüstzeug wohl kaum bewältigen. Schon jetzt ist der Imageschaden gigantisch, die gelbe Shell-Muschel ist für viele zum Symbol für Kaltschnäuzigkeit und Umweltfrevel geworden. Und mit jedem Tag, an dem der Konzern - »Augen auf und durch« - hart bleibt, wird der Schaden größer.

Zumindest Herkströter hat es mit seinem Motto weit gebracht: Er ist heute Chef der Shell-Gruppe in Den Haag.

[Grafiktext]

Brent Spar: Ursprünglicher Standort, geplanter Ort d. Sprengung

Brent Spar: Aufbau d. Verladeplattform

Öl- u. Gasförderung in der Nordsee

Der Shell-Konzern

[GrafiktextEnde]

* Unter Wasserwerferbeschuß.* Vor einer Shell-Tankstelle in Hamburg.

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