Vertauschte Rollen
Der Dichter Johannes R. Becher war einer der entschlossensten und robustesten deutschen Expressionisten des Gedichts. Um das Erlebnis des ersten Weltkrieges auszusprechen, erfand er eine neue lyrische Syntax, die keine Gewaltsamkeit scheute, revolutionär explosiv, das Sprachgefüge bis ins einzelne Wort erschütternd.
Er blieb immer noch ein »Neutöner«, ein nüchterner Ekstatiker, als er sich vom Kriege ab- und der sziologischern Situation der Zeit, dem Bürgerkrieg, der Welt der Arbeit und dem sowjetischen Arbeiterparadies zuwandte. Jetzt, da er aus Rußland zurückgekehrt ist, zeigt er sich als Bewahrer und Erneuerer jener alten Formen, die er einst zertrümmerte. Seine neue Lyrik ist sozusagen ganz normal. Kein Wortkrampf, keine »gehackten Sätze« mehr, Maß und Gleichmaß beherrschen die Strophen. Die Metaphern sind zumeist schlicht, Anklänge an eine bürgerliche Biederkeit fallen auf.
Ist sich der Dichter untreu geworden? In einem entscheidenden Punkte hat er sich nicht gewandelt: er ist der politische Dichter geblieben, der er war. Sein neustes Versbuch »Heimkehr"*) beweist es.
Von früh an gefangen von sowjetischen Visionen, verkündet Becher immer noch das Kommen der neuen Zeit, die im Zeichen des Menschen und des Geistes stehen soll. Doch diese gläubige Verkündigung ist heute nur ein Teil seiner politischen Mission. Noch stärker tritt der Anruf an das Gewissen der Deutschen hervor: die Schuld und Schande der Vergangenheit einzusehen. Schließlich bestimmt ein Drittes die Art und den Klang der neuen Verse: sie üben das, was Rilke als das eigentliche Amt des Dichters bezeichnet hat - das Rühmen. Der Heimgekehrte rühmt ehrfürchtig und hingebungsvoll das Entbehrte und nun Wiedergewonnene, die Heimat, das wahre unverdorbene Deutschland.
Aber er rühmt auch den Menschen überhaupt, die Hoheit und die Innigkeit des Geistes. In jener Gedichtgruppe, die mit den Worten »Ich bin des Rühmens voll« beginnt, preist er alle »guten Dinge« im »Heiligtum der Erde«, rühmt er das All, die unendliche Schöpfung. Und hier ist es, wo dem Dichter Becher der Becher dichterischer Begeisterung überschäumt und man in den langzeiligen Strophen den alten Ekstatiker wiedererkennt.
Eine im Grundsätzlichen verwandte Haltung der Zeit und dem Leben gegenüber bezeugt Wolfgang Weyrauchs Versbuch »Von des Glückes Barmherzigkeit"**) In ihm aber findet man in formaler Hinsicht wieder, was man bei Becher nicht findet: ein Zurückgreifen auf expressive Sprachexperimente.
Vor allem da, wo Weyrauch den Leser politisch »anspricht«, löst er den Vers auf. Da dankt er die gebaute Strophe ab, versucht er in einem kühlen Pathos und mit sachlichem Nachdruck eine »neue Rede«. In den anderen Gedichten klingt wiederum manches an bekannte Vorbilder an.
Man spürt eine starke anpassungsfähige Intellektualität, die sich auch schlicht zu geben versteht ("Schlafe, mein Bübchen«, »Der Rotarmist« u.a.). Wenn dann ein übermächtiges Gefühl durchbricht und in hochgestimmte Verse drängt, ist man ein wenig mißtrauisch, weil man der Ursprünglichkeit dieser Gefühle nicht ganz sicher sein kann.
*) Johannes R. Becher »Heimkehr« - **) Wolfgang Weyrauch »Von des Glückes Barmherzigkeit« (beide im Aufbau-Verlag, Berlin).