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ASYLANTEN Verweigerte Gerechtigkeit

Weil so viele Ost-Aussiedler einwandern, wollen Bonns Christdemokraten das Asylrecht ändern.
aus DER SPIEGEL 8/1989

Jahrelang waren die Bonner Regierenden stolz darauf, daß die Verfassungsväter Konsequenzen aus der unheilvollen deutschen Vergangenheit gezogen und deshalb im Grundgesetz den Anspruch aller politisch Verfolgten auf Asyl verankert hatten. Nun aber, nach dem Erfolg der rechtsradikalen Republikaner in West-Berlin mit ihren ausländerfeindlichen Parolen, mehren sich die Stimmen in der Christen-Union, dieses Grundrecht möglichst weit und rasch einzuschränken.

Kanzler Helmut Kohl sprach in der CDU-Vorstandssitzung in der vergangenen Woche von »raschen Koalitionsentscheidungen« gegen Wirtschaftsasylanten, der FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff sekundierte und kündigte im FDP-Präsidium Maßnahmen gegen den »Mißbrauch des Asylrechts« an.

Doch was geschehen soll, weiß derzeit in Bonn keiner so recht. Denn so liberal, wie viele verängstigte Wähler meinen, ist das deutsche Asylrecht längst nicht mehr. Nach immer neuen Einschränkungen und Verfahrensänderungen wird nicht einmal mehr jeder zehnte Bittsteller, wie die Statistik ausweist, als politischer Flüchtling anerkannt und erhält damit unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis - weniger als in vielen westeuropäischen Ländern.

Für die aufgeregten Diskussionen in der Bundesrepublik sorgen die von CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann Monat für Monat im Land-unter-Stil gemeldeten Zugangszahlen der Asylbewerber, die sich 1988 auf über 100 000 addierten. Doch richtige Panikstimmung herrscht erst, seit viele Ostblockstaaten, voran Polen und die Sowjet-Union, Deutschstämmige und solche, die es zu sein vorgeben, zu Hunderttausenden ausreisen lassen (siehe Seite 72).

Die Aussiedler konkurrieren, anders als die in Sammellagern untergebrachten und mit Arbeitsverbot belegten Asylsuchenden, schon bald nach Ankunft mit den minderbemittelten Einheimischen um knappe Arbeitsplätze und karge Wohnungen.

Das löst Angst- und Neidgefühle aus - der ideale Nährboden für Schönhubers Anti-Fremden-Republikaner, die mit ihrem Berliner Wahlerfolg (7,5 Prozent) die Unionschristen um die Macht in Bonn bangen lassen. Da bietet sich, auch wenn es bei Aussiedlern nicht paßt, das schon immer emotionsgeladene Asylthema förmlich an, um Entschlossenheit zu demonstrieren.

Im hessischen Kommunalwahlkampf agitierte die CDU in Zeitungsinseraten gegen »Scheinasylanten«. Und in Bonn wurden eilends Arbeitsgruppen gebildet, die zum wiederholten Mal Vorschläge erarbeiten sollen, wie die Flüchtlingsströme begrenzt, die Verfahren beschleunigt und abgelehnte Asylbewerber konsequenter abgeschoben werden können.

Besonnenheit wäre geboten, denn im riskanten Spiel mit der Humanität sind viele Karten gezinkt. So gibt es nur eine verläßliche statistische Größe: die der Zugänge. Wie viele Asylbewerber vor Erledigung ihres Antrags zurückkehren oder weiterwandern, kann nur geschätzt werden. Experten rechnen mit bis zu 30 Prozent. Daß manche von ihnen untertauchen, ist ebenso gewiß, wie die bisweilen gewagten Zahlenangaben darüber unsicher sind: Die Asylanten könnten auch längst wieder außer Landes sein.

Daß die Verfahren abgekürzt werden müssen, gehört zum Bonner Konsens. »Herausgezögerte Gerechtigkeit«, sagt Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble, »ist verweigerte Gerechtigkeit.« Doch warum es oft Monate dauert, bis Asylbewerber von der Ausländerbehörde des ihnen zugewiesenen Aufenthaltsorts erstmals gehört werden, bleibt unerfindlich. Das Protokoll dieser Einvernahme ist in der Regel die Grundlage dafür, daß das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge entscheidet.

Andererseits werden Angehörige, die mit dem Asylbewerber in die Bundesrepublik kommen, von den Kommunen geradezu gedrängt, ebenfalls einen Antrag zu stellen, weil nur dann das jeweilige Bundesland den verschuldeten Gemeinden die Sozialhilfekosten abnimmt. In der Statistik erscheinen sie dann als Scheinasylanten, obwohl sie selbstverständlich bleiben können, wenn dem Antrag eines Familienmitglieds stattgegeben wird.

Oder die Polen, die 1988 mehr als ein Viertel der Asylbewerber stellten: Sie konnten sich jahrelang darauf verlassen, daß die Bundesrepublik Flüchtlinge aus Ostblockstaaten grundsätzlich nicht abschob. Wenn sich Einwanderer aus Polen überhaupt die Mühe machten, waren ihre möglichst dürftig begründeten Asylanträge auf Ablehnung angelegt. Dann verzichteten sie auf Rechtsmittel und genossen den Schutz vor Abschiebung für eine mehr oder minder lange illegale Beschäftigung, kehrten in die Heimat zurück und wiederholten in der nächsten Reisesaison die Prozedur.

In Anbetracht der gewandelten politischen Verhältnisse beschlossen die westdeutschen Innenminister 1987, das Nicht-Abschiebungsprivileg für Polen (und Ungarn) aufzuheben. Doch in der Praxis änderte sich nichts. Als der FDP-Rechtsexperte Burkhard Hirsch dies im Bundestag monierte, schrieb ihm Bayerns Innen-Staatssekretär Günther Beckstein im vergangenen Dezember einen Brief. Kernsatz: »Bei der gegenwärtig absehbaren Dauer der Verfahren aufgrund unserer Verfassungsrechtslage . . . werden sich Rückführungen nach Polen und Ungarn in größerer Zahl erst ab 1990 ergeben.«

Da war der Bayer an der falschen Adresse. Keß schrieb der liberale Verteidiger des Grundrechts auf Asyl nach München zurück:

Wer zwingt eigentlich die Verwaltungsbehörden und die Verwaltungsgerichte, die eingehenden Anträge wie ein Grundbuchamt in der Reihenfolge des Eingangs zu behandeln? Warum können in der Behandlung nicht die offensichtlich unbegründeten Fälle vorgezogen werden? In diesen Fällen beträgt die durchschnittliche Verfahrensdauer vor Gericht 3 1/2 Monate. Die Abschiebung kann bereits vor Rechtskraft des Urteils erfolgen.

Natürlich weiß Hirsch, daß er einen Balanceakt wagt. Wenn er konsequente Abschiebung fordert, will er damit den Generalangriff auf den Asylrecht-Artikel des Grundgesetzes abwehren. Und er will jenen Antwort erteilen, die den europäischen Binnenmarkt zum Vorwand nehmen, um nach 1992 ein harmonisiertes Asylverfahren in Europa unterhalb der Grundgesetzgarantie zu verwirklichen.

Nach dem angestrebten Euro-Prinzip sollen künftig Asylentscheidungen eines Vertragsstaates für alle andern verbindlich sein. Daß dann die Bundesrepublik erst recht zum Zielland avancieren würde, wie Konservative fürchten, ist keineswegs ausgemacht. Die Attraktivität der Bundesrepublik liegt derzeit an der langen Verfahrensdauer, an der Chance, nach oft mehrjährigem Aufenthalt trotz abgelehnten Asylantrags geduldet zu werden, und an der relativ milden Abschiebepraxis.

Durchaus möglich ist, daß nach einer EG-Regelung die Flüchtlinge in Länder streben, in denen ihre Aussichten auf Asyl größer sind als in Westdeutschland mit seinen vergleichsweise niedrigen Anerkennungsquoten - was wiederum die Gefahr birgt, daß dann in Europa »ein Wettlauf um das schäbigste Asylrecht« (Hirsch) einsetzt.

Das Hauptproblem für die Bundesrepublik: Sie könnte angesichts ihrer Verfassungslage ein solches europäisches Verfahren gar nicht mitmachen. Weil nämlich das deutsche Asylrecht jedem Flüchtling - ausgenommen jene, die auf ihrem Fluchtweg schon anderswo Schutz gefunden haben - einen individuellen Anspruch auf Prüfung seines Antrags garantiert, hätten von anderen EG-Ländern abgelehnte Bewerber auch künftig die Möglichkeit, ihr Glück anschließend im gelobten Westdeutschland zu versuchen.

Wenn in Europa »die Grenzen fallen«, folgert Kohls Schäuble, werde Bonn deshalb in den neunziger Jahren »nicht umhinkommen«, den Grundgesetz-Artikel ("Politisch Verfolgte genießen Asylrecht") »mit einem Gesetzesvorbehalt zu versehen«, aus dem hervorgeht, daß Asylentscheidungen europäischer Partnerstaaten auch für die Bundesrepublik verbindlich sind.

Die Freidemokraten spüren den Druck und überlegen längst, wie dem Problem auch ohne Grundgesetz-Ergänzung beizukommen wäre. Der Abgeordnete Wolfgang Lüder hält diese Variante für möglich: Begehrt ein anderswo abgelehnter Ausländer in der Bundesrepublik Asyl, prüft das Bundesamt anhand der Akten des Erstaufnahmelandes; bei einem dann aufs unabdingbare Minimum verkürzten Rechtsweg müßten die Fälle in wenigen Wochen zu erledigen sein. Die Gefahr, daß Westdeutschland zum »Reserve-Asylland« (Unionsparole) wird, sieht Lüder nicht: »Ich bin sicher, es werden nur wenige den Versuch machen.«

Das Grundgesetz soll, darüber wenigstens waren sich der Kanzler und die FDP in der vergangenen Woche einig, jetzt nicht angetastet werden; manche Unionspolitiker - etwa der CSU-Abgeordnete Wolfgang Bötsch - wollten die Einigkeit letzte Woche bloß noch nicht wahrhaben. So schnell wie möglich sollen aber Maßnahmen ergriffen werden, die einen Mißbrauch des Asylrechts einschränken - zunächst bundes-, dann EG-weit. Wie diese Maßnahmen aussehen sollen, ist zwischen den Koalitionspartnern weiter umstritten.

Einmütigkeit besteht nur in der Absicht, die Einreisehürden zu erhöhen. So werden Jugoslawen nur noch mit Visum die Grenze passieren dürfen; an Polen sollen weniger Visa ausgegeben werden, Türken nur noch mit Transitvisum die Republik durchqueren. Alleinreisende Kinder, so eine weitere neue Einreise-Regel, werden nur noch mit Visum in die Republik gelassen.

Alle neuen Bestimmungen folgen einem Ziel: Die nötigen Visa werden in aller Regel nicht erteilt.

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