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»Verwirrte Zeitverhältnisse«

Die meisten NS-Täter entgingen der Strafverfolgung.
aus DER SPIEGEL 11/2008

Der Christdemokrat Max Güde stand nicht im Verdacht, ein Sympathisant der Nazis gewesen zu sein, im Gegenteil. Als junger Richter hatte er sich 1933 mit der Hitler-Administration angelegt, und als er in der Bonner Republik Generalbundesanwalt war und damit der oberste Strafverfolger, brandmarkte er im zornigen Blick zurück das Versagen seines Berufsstandes: »Wir haben für das Recht nicht gekämpft, als es zugrunde ging.«

Für das Recht der jungen Demokratie kämpfte Güde aber auch nicht so richtig - wenn es um die strafrechtliche Verfolgung der Nazi-Täter ging.

Der Top-Jurist, der 1961 für die CDU in den Bundestag einzog, war ein Freund der Verjährung. Als er erfuhr, frühere Staatsanwaltskollegen würden im Ostblock nach Verbrecherakten suchen, reagierte er ausgesprochen heftig. »Die Russen halten die Unterlagen 20 Jahre zurück«, donnerte Güde, »und unsere Idioten fahren hin und holen sie noch ab.«

Güde war für Ruhe an der juristischen Front, wie so viele, auch der Bundeskanzler. Es seien doch »so verwirrte Zeitverhältnisse« gewesen, klagte Konrad Adenauer, selbst ein Leidtragender der NS-Zeit. Deshalb: Schlussstrich.

Für die Nachgeborenen ist das kaum verständlich, zur Amnesie kam bald die Amnestie. Auch deshalb ist das Gros der Mörder in Deutschland davongekommen - ein schwerer Makel für die Republik. Bis heute, 63 Jahre nach Kriegsende, sind in Westdeutschland nur etwa 1200 Männer und Frauen wegen eines NS-Tötungsdelikts verurteilt worden.

Hunderte Ermittlungsverfahren sind noch anhängig, aber zu Anklagen oder gar Hauptverhandlungen wird es kaum kommen. Denn die, gegen die ermittelt wird - sofern der Name überhaupt bekannt ist -, sind Greise, kaum noch fähig, einen Prozess durchzustehen.

Erst kürzlich hat die Staatsanwaltschaft München I Anklage erhoben gegen den 89-jährigen früheren Leutnant Josef S. aus Ottobrunn. Er soll als Kompaniechef einer Gebirgsjäger-Einheit im italienischen Falzano di Cortona die Ermordung von 15 Zivilisten angeordnet haben - 11 von ihnen wurden in ein Haus getrieben, das dann mit Dynamit in die Luft gejagt wurde, ein junger Bursche überlebte. S. ist in Italien bereits zu lebenslanger Haft verurteilt worden, in Abwesenheit.

Ob ihm jetzt auch in Deutschland der Prozess gemacht wird, ist weniger ein Rechtsproblem, eher ein medizinisches.

Das dürre Zahlenwerk der Berliner Justizministerialen weist 6498 bislang in der Bundesrepublik von deutschen Gerichten verurteilte Personen auf. 13-mal sprachen Richter, vor der Änderung des Grundgesetzes, die Todesstrafe aus, 167- mal lebenslange Freiheitsstrafe und 6201- mal Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen. Etliche kamen mit einer Geldstrafe davon. Aber eben weniger als ein Fünftel der Täter waren Mörder und Totschlä-

ger. Die meisten wurden zum Beispiel wegen Landfriedensbruchs oder Misshandlungen verurteilt, vor allem während der November-Pogrome.

Ein mageres Ergebnis angesichts der über 100 000 geführten Ermittlungsverfahren. Zum Teil sind Staatsanwälte schuld, die mit wenig Engagement etwa gegen belastete Kollegen und Richter ermittelten - allein in Nordrhein-Westfalen kam seit 1957 keines der einschlägigen 70 Verfahren zur Anklage. Polizisten empfanden es oft als Belastung, gegen Kollegen vorgehen zu müssen.

Entscheidend freilich war die Politik. Zwei Amnestiegesetze, 1949 und 1954 verabschiedet, sorgten dafür, dass etliche Straftäter außer Verfolgung gesetzt wurden - oft konnten sie unwidersprochen für sich reklamieren, lediglich die Befehle anderer befolgt zu haben. Einige SPD-Abgeordnete versuchten 1960 noch, die Verjährung von Totschlag zu verhindern, die Tausende Hitler-Helfer vor dem Gefängnis rettete. Doch blockierte eine Allparteien-Koalition den Vorstoß. Juristen sprachen offen von einer Verfahrensbehinderung. 1968 sorgte Bonn dann mit einer winzigen, ganz versteckten Gesetzesänderung dafür, dass von nun an die sogenannten Schreibtischtäter nahezu unbehelligt blieben.

Natürlich, es gab den Auschwitz-Prozess in Frankfurt, das Majdanek-Verfahren in Düsseldorf, den Einsatzgruppenprozess in Ulm - aber der Tod von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener in deutschen Lagern blieb nahezu ungesühnt. Und das Verfahren wegen der Ermordung von 20 jüdischen Kindern am Bullenhuser Damm in Hamburg wurde mit der bemerkenswerten Begründung eingestellt, »über die Vernichtung des Lebens hinaus« sei ihnen »kein weiteres Übel zugefügt worden«.

Die Ludwigsburger Zentralstelle, die als Sammelknoten für alle NS-Ermittlungen vor einem halben Jahrhundert eingerichtet worden war, steht vor ihrem Ende. Im Dezember sollen die Akten im Bundesarchiv eingemottet werden. GEORG BÖNISCH

* Angehörige der Leibstandarte Adolf Hitler im Malmedy-Prozess am 16. Juli 1946 in Dachau.

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