Kirche Viel Böses
Der erste Eindruck trügt, und das soll er auch. »Menora« steht auf russisch auf dem Titelblatt des Heftchens, und auch drinnen erscheint der siebenarmige Leuchter auf jeder Seite. Doch das jüdische Religionssymbol, das zum Staatswappen Israels gehört, führt in die Irre: In den Texten geht es um Werbung für das Christentum.
Stapelweise bringen Juden, die gerade erst aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert sind, die auf russisch verfaßten christlichen Traktate in die Stuttgarter Jüdische Gemeinde. Die Blättchen sind in den Aufnahmelagern des Landes Baden-Württemberg verteilt worden, zusammen mit Einladungen zu Sabbat-Feiern oder Festen wie Chanukka ("Lichterfest") oder Passa - jüdische Feiertage, die jedoch für christliche Unterweisungen genutzt werden.
Hinter den Einladungen und Artikeln, die ähnlich auch in Norddeutschland kursieren, stecken evangelische Gemeinden sowie Mitarbeiter des Missionsbundes »Licht im Osten« und des »Evangeliumsdienstes für Israel« (EDI) - beides freikirchliche Organisationen, die der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nahestehen.
Eigentlich haben die christlichen Kirchen im Nachkriegsdeutschland auf die Missionierung unter Juden verzichtet. Die EKD-Spitze sprach sich im Herbst 1995 nach einem Treffen mit dem Zentralrat der Juden noch einmal gegen verdeckte oder offene Werbung aus. Doch kirchennahe Einrichtungen und einzelne Pastoren halten sich nicht mehr daran, seit jüdische Emigranten - insgesamt sind es bisher rund 40 000 - nach Deutschland kommen dürfen.
Auch mit milden Gaben versuchen eifrige Christen die Zugezogenen für das Christentum zu ködern. Zwar bestreitet EDI-Vorsitzender Rainer Uhlmann, daß seine Organisation »wirtschaftliche Notlagen jüdischer Menschen« ausnutze. Doch in Stuttgart hat der württembergische Landesrabbiner Joel Berger bemerkt, daß jeder, der sich für die christliche Botschaft interessiert und vielleicht sogar taufen läßt, schnell Wohnung und Job bekommt.
Auch in Bremen, wo ebenfalls Schriften des Evangeliumsdienstes an jüdische Einwanderer verteilt werden, wird praktische Hilfe mit religiöser Sinnstiftung kombiniert. So vermittelt die Maklerin Brigitte Teichert, die in der St.-Matthäus-Gemeinde im Bremer Stadtteil Huchting einen »Israel-Arbeitskreis« eingerichtet hat, Wohnungen an jüdische Neuankömmlinge. Sie holte sogar selbst ein Ehepaar aus der Ukraine von einem Übergangsheim ab und brachte es bei sich zu Hause unter.
Wunderbar habe am Anfang alles geklungen, erinnert sich das Ehepaar. Die »großen Nachteile« zeigten sich nach dem Einzug: Mal war es ein christlicher Text, auf russisch verfaßt, den die jüdischen Mitbewohner unbedingt lesen sollten, dann wieder lud Teichert sie nachdrücklich ein, auf ihr »jüdisches« Fest zu kommen, das sie in der St.-Matthäus-Gemeinde ausgerichtet habe.
Dort baut Pfarrer Jochen Müller den Juden auch selbst »eine Brücke zum Christentum«. Der evangelische Pastor predigte beispielsweise im September dieses Jahres in den Räumen seiner Gemeinde zum jüdischen Versöhnungsfest Jom-Kippur: »Wir Christen haben im Neuen Testament die Erfüllung gefunden.«
Für die Zuwanderer aus der Ukraine oder Rußland ist die christliche Werbung nur schwer zu durchschauen. In der atheistischen Sowjetunion war Judentum keine Frage der Religion, sondern der (in die amtlichen Papiere einzutragenden) Nationalität. Allenfalls zu Hause haben einige Familien heimlich jüdische Feste gefeiert.
Den meisten Neuankömmlingen fehlt jedes religiöse Wissen. Erst nach und nach, erzählt ein 56jähriger Mann aus Moskau, der mit seiner Mutter in Bremen lebt, habe er in seinem »Atheismus« geahnt, daß bei den Festen »irgend etwas nicht stimmt«.
Aber auch wer versteht, worum es in Wahrheit geht, wagt oft nicht, sich zu wehren. Zu protestieren, meint eine Einwanderin, sei »für Juden nicht gut«. Und natürlich müßten sie für Hilfe und Anteilnahme dankbar sein.
In Stuttgart beschäftigt der Evangeliumsdienst für Israel mittlerweile eigens einen Mann aus Kiew als Evangelisten, um so die Juden aus der untergegangenen UdSSR abzuwerben. Anatoli Ouchomirski, sagt EDI-Vorsitzender Uhlmann, sei schon in der Ukraine mit dem Christentum in Verbindung gekommen und verstehe sich seither als »messianischer Jude«. Für messianische Juden, von denen auch einige tausend in Israel auftreten, ist Jesus Christus auch der jüdische Messias.
Ouchomirski, ein gelernter Fotograf, lädt regelmäßig zu religiösen Festen in russischer Sprache ein. Mal findet die Feier in den Räumen einer Bank, mal im Saal einer Kirchengemeinde statt.
Bis zu hundert Einwanderer, berichtet Uhlmann, wollten den selbsternannten Prediger aus Kiew hören. Etwa 50, glaubt der Pfarrer, gehörten inzwischen »zum harten Kern«.
Proteste der Jüdischen Gemeinde läßt Uhlmann, der hauptberuflich evangelischer Pfarrer im schwäbischen Gaildorf ist, nicht gelten. Die Deutschen, argumentiert der EDI-Vorsitzende, hätten den Juden »so viel Böses« angetan, was nun wiedergutzumachen sei. »Dazu gehört für mich, sie am Besten, was ich kenne, der Botschaft des Juden Jesus Christus, teilhaben zu lassen.«
Ganz ähnlich sieht das auch der Bremer Pastor Müller. Seine Kirche, sagt der Pfarrer, dürfe nicht aus »voreiliger Rücksichtnahme auf den Holocaust« auf das Missionieren verzichten.