HANUSSEN-MORD Viel drin
An einem trüben Freitagmorgen - es war der 7. April 1933 - alarmierten Holzsammler den Landjäger des märkischen Fleckens Baruth: In einem Waldstück lag die Leiche eines gutgekleideten Mannes, der mit mehreren Schüssen niedergestreckt worden war. Ausweispapiere fand man nicht bei dem Toten.
Aber bereits am nächsten Tag wußte Kriminalkommissar Albrecht von 'der zuständigen Berliner Mordkommission, wer der Unbekannte war: Herrschel Steinschneider alias Erik Jan Hanussen, damals 43, von Beruf Hellseher. Hanussen-Sekretär Dzino hatte seinen als vermißt gemeldeten Chef am Zahnersatz identifiziert.
Der von Zeitgenossen gleichermaßen als magisches Genie gefeierte wie als Scharlatan und Taschenspieler verunglimpfte Hanussen war lebend zum letztenmal am 24. März gesehen worden. Als er das Künstlerlokal »Grüner Zweig« verlassen wollte, so bekundete ein Kellner, hätten ihn zwei Männer zum Mitkommen aufgefordert.
Ein paar Tage nach dem Fund von Baruth wurde der Fall Hanussen noch einmal in der Presse erwähnt: Berlins Blätter meldeten,. »die Hintergründe dieser Bluttat« seien »noch nicht aufgeklärt« worden. Dabei blieb es. Aufgeklärt sind die Hintergründe bis heute nicht. Und es steht nicht einmal fest, ob die Ermittlungen von der damals gerade von den Nationalsozialisten übernommenen Polizei überhaupt weitergeführt wurden.
Jetzt, 33 Jahre danach, müssen sich Berliner Kriminaler erneut mit den letzten Stunden des Hellsehers Hanussen befassen - aufgrund einer mit Maschine geschriebenen anonymen Anzeige, die dem Ersten Staatsanwalt am Landgericht Berlin, Gerhard Spletzer, Anfang letzten Jahres zuging: Ein Sturmführer Karl Becker vom Berliner »SA-Sturm 33« wird darin beschuldigt, den jüdischen Hellseher umgebracht zu haben**.
Zur Fahndung setzte Spletzer die Abteilung I (politische Verbrechen) der West-Berliner Polizei ein. Da alle alten Protokolle verschwunden sind, versuchten die Beamten zunächst einmal, durch historische Studien Anhaltspunkte für die Jagd nach dem Täter zu finden.
Aber aus zeitgenössischen Skandalchroniken, die Hanussens pompösen Lebensstil, wahre oder auch erfundene Affären mit Damen der Gesellschaft und
die Beziehungen des Magiers bis hinauf in Regierungskreise schildern, ließen sich ebensowenig Tatverdachtsmomente und Mordmotive herauslesen wie aus neuen Publikationen.
Alle Tatsachenberichte der -Nachkriegszeit über den Hanussen-Mord sind unbelegt. So
- die Schilderung der »Frankfurter Hefte«, wonach Hanussen Initiator des Reichstagsbrandes war;
- die Mitteilung der Düsseldorfer Zeitschrift »Fortschritt«, der Hellseher habe im SA-Auftrag dem Holländer van der Lubbe per Hypnose befohlen, den Reichstag anzuzünden;
- die in einem Hanussen-Film (Titelrolle: O. W. Fischer) aufgestellte Behauptung, das Eindringen in die Intimsphäre hoher Nationalsozialisten sei dem Magier zum Verhängnis geworden.
So mußte die Kripo zum Ausgangspunkt ihrer Ermittlungen zurückkehren - zu der anonymen Anzeige. Sie konzentrierte die Fahndung auf den früheren »SA-Sturm 33«, und Zeugenvernehmungen brachten sie tatsächlich
bald auf die Spur mehrerer möglicher Tätergruppen.
Zwei alte Kämpfer vom Sturm 33, deren Namen die Polizei vom alliierten »Document Center« bekam, beteuerten zwar, in ihrem Sturm habe es nie einen Karl Becker gegeben. Aber sie erinnerten sich, damals gehört zu haben, daß der Mord an Hanussen von dem während der Röhm-Revolte umgebrachten SA-Gruppenführer Karl Ernst befohlen worden sei.
Ein anderer Zeuge bezichtigte den ehemaligen Berliner Polizeipräsidenten und SA-Führer Graf Helldorf, der nach dem 20. Juli 1944 gehenkt wurde, Anstifter der Bluttat gewesen zu sein. Der Zeuge will das einer Akte Helldorf entnommen haben, die ihm während seiner Tätigkeit in einer parteiinternen Untersuchungskommission für Verstöße von NS-Parteimitgliedern zu Gesicht gekommen sei.
Der ebenfalls einvernommene Polizeikommissar außer Dienst Kurt Geißler wußte wiederum vom Hörensagen zu berichten, daß »der SA-Sturmführer Schmidt, genannt Schweinebacke, den bekannten Hellseher Hanussen erschossen haben soll«. Schmidt gehörte damals zur SA-Standarte 3. Diese wiederum unterstand dem Gruppenführer Karl Ernst.
Schließlich meldete sich auch ein junger Berliner und erzählte, sein inzwischen verstorbener Onkel habe den Wagen gesteuert, in dem Hanussen von seinen Mördern abgeholt worden sei: Der Hellseher habe im Fond zwischen zwei SA-Leuten gesessen und sei während der Fahrt »von dem SA-Mann Stenzel niedergemacht« worden.
Aufgrund des bisherigen Untersuchungsergebnisses glaubt die Kripo, daß »höchstwahrscheinlich politische Gründe« zum gewaltsamen Tod Hanussens geführt haben und der Magier -Mord noch zahlreiche Ermittlungsmöglichkeiten eröffnet.
Kriminalrat Alfred Eitner, stellvertretender Leiter der Polizeiabteilung I: »Da ist viel drin.«
** Mord verjährt normalerweise nach 20 Jahren. Bei allen politischen Verbrechen, die während der NS-Zeit begangen wurden, wird die Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 31. Dezember 1949 auf die Verjährung jedoch nicht angerechnet.
Hellseher Hanussen (M.), Freunde bei einer okkultistischen Sitzung (1932)*: Tod im Fond?
* In der Hausbar der Hanussen-Villa in Berlin-Charlottenburg.