UNGARN Viel Wein
Die Zigeunergeiger ziehen frische Saiten auf, die Piroschkas schaffen neue rote Tanzstiefel an. Denn 1984 soll das westdeutsche Ferienvolk in Massen nach Ungarn kommen.
Schon 1983 flossen die Devisen reichlich in die Staatskasse des kommunistischen Landes. »Sind wir sehr zufrieden mit Gästen aus BRD«, freut sich Jozsef Czegledi, Generalsekretär des ungarischen Fremdenverkehrsrates.
Die 700 000 bundesdeutschen Besucher standen klar an der Spitze im diesjährigen Urlaubsgeschäft der Magyaren. Sie übernachteten rund sechsmillionenmal und hinterließen über 104,5 Millionen Dollar (284 Millionen Mark) - 40 Prozent der ungarischen Gesamteinnahmen aus dem Westtourismus.
Alles in allem kassierte das 93 000 Quadratkilometer kleine Ungarn, das kaum ein Prozent der europäischen Fläche ausmacht, 261 Millionen Dollar von den westlichen und 270 Millionen Transferrubel _(Verrechnungseinheit innerhalb des ) _(Ostblocks. )
von den östlichen Besuchern. Der Fremdenverkehr sicherte ihm ein volles Drittel seines Außenhandelsvolumens, einsame Spitze im sozialistischen Lager.
Es reicht aber bei weitem nicht, um die akuten Wirtschaftsschwierigkeiten zu überwinden: Kadars Ungarn muß 1984 um die 2,8 Milliarden Dollar an Tilgung plus Zinsen für die Westkredite abstottern.
Während der nächsten zwölf Monate will das Land mit allen Mitteln um Gäste aus Hartwährungsländern werben, wobei ihm die Bundesrepublik als größtes Reservoir erscheint.
Julia Nagy, Chefredakteurin des amtlichen Budapester »Reisemagazins«, lokalisierte Ungarn auf dem respektablen Platz acht unter den 23 bevorzugten Zielländern der Bundesdeutschen. Dies werde sich jedoch bald ändern: »Wir können uns einen besseren Rang erobern.«
Die Erfolgschancen für diesen Versuch scheinen in der Tat nicht schlecht zu sein, weil die Ungarn systematisch einen Qualitätstourismus mit Westkomfort, aber fast noch zu Ostpreisen zu organisieren versuchen.
Ein 300-Millionen-Dollar-Kredit, den Österreich einräumte, wurde gänzlich
für den Fremdenverkehr genutzt. Allein in Budapest entstanden sieben neue Hotels der höheren Kategorien. Die vielen Thermalbäder - Ungarn besitzt 500 heiße Quellen - von Heviz nahe dem Plattensee bis hin zum unaussprechlichen Hajduszoboszlo bei Debrecen - putzen sich zunehmend heraus. Der hauptstädtische Flugplatz Ferihegy gewinnt etwas internationale Kontur.
Ideologische Hemmungen zählen kaum noch. Freilich untersagen die Zollvorschriften den Import von »Presseerzeugnissen, die sich gegen die sozialistische Ordnung richten beziehungsweise gegen die Moral verstoßen«. Doch in der Praxis wird Toleranz geübt. Ungarn hat sich als erster Staat der Ost-EG Comecon ein Kasino zugelegt und neuerdings sogar einen FKK-Strand.
An Phantasie fehlt es ohnehin nicht. Das reichhaltige touristische Angebot schließt unter anderem dörfliche Schlachtfeste, lautstarke Bauernhochzeiten mit wohltrainierten Dauerbräuten, Anglerprogramme, Bridge-Turniere, Kutschfahrten, romantische Lagerfeuer in der Pußta, feuchte Nachmittage im Tokajer-Keller des Fürsten Ferencz Rakoczi II. und eine schier pausenlose Folge von Csardas-Abenden »mit viel Wein« ein, wie der offizielle Prospekt verheißt. Sogar ein römisches Festmahl wird in Aussicht gestellt, bestehend aus »Fogasch a la Apicius und Entenbraten a la Lukretius«.
Für zusätzliche Anreize sorgt ein eben beschlossenes Maßnahmenpaket. Es reicht von einer weiteren Verbesserung des sowieso schon vorteilhaften Wechselkurses bis zu angenehmeren Anmeldeformalitäten. Hauptpunkt der neuen Reiseerleichterungen: Kurzurlauber aus dem Westen dürfen fortan ohne Visum einreisen, sofern sie an der Grenze 100 Forint (knapp sieben Mark) zahlen, maximal 48 Stunden bleiben und die Dienste eines österreichischen Reisebüros in Anspruch nehmen. Als solches gilt auch die Wiener Filiale der offiziellen ungarischen Agentur IBUSZ.
Erstmals können nun auch die Westdeutschen im vollen Ausmaß an besonders preisgünstigen Busfahrten der Österreicher ins nachbarliche Ungarn profitieren. Zehn Mark reichen für eine Tagestour von Wien über Sopron ins Thermalwasser von Bük, Mittagessen inbegriffen; für 20 Mark bekommt man neben Györ auch noch die tausend Jahre alte Benediktinerabtei Pannonhalma zu sehen; für 40 Mark darf man sich tagelang im feudalen Hotel »Löver« von Sopron vollessen.
Wer planerisches Geschick an den Tag legt, kann sich auf solcher Blitzreise noch billig Dauerwellen legen lassen, Krimsekt, Schweinespeck, neue Brillen oder Zahnersatz einkaufen. Der Magyarenstaat hilft dabei durch strategisch gut placierte Lebensmittelmärkte, Augenambulanzen und Zahnkliniken. Ob derartige Billigangebote für Ungarn überhaupt
rentabel sind? »Selbstverständlich«, antwortet Marxist Czegledi wie ein westlicher Kaufmann: »Sobald sich ein Gast kurz bei uns wohl fühlt, kommt er irgendwann für längere Zeit wieder.«
Daß ihr entschlossenes Werben um konvertierbares Geld das Touristenheer der Habenichtse aus den sozialistischen Brudervölkern zwangsläufig vergrämt, nehmen die Budapester Funktionäre gelassen hin.
Auch das Minus von 20 Prozent DDR-Urlaubern im Sommer 1983 hat ihnen allenfalls geringen Kummer bereitet. Tourismus-Generalsekretär Czegledi: »Ungarn gehört nicht zum Gebiet des Sozialtourismus.«
Verrechnungseinheit innerhalb des Ostblocks.