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VERTEIDIGUNG Viel zu spät

Mit seiner Forderung nach frühzeitigem Einsatz taktischer Atomwaffen steht Georg Lebers künftiger Staatssekretär, General Schnell, im Widerspruch zur Nato-Doktrin.
aus DER SPIEGEL 48/1976

Noch ist die Affäre um die Luftwaffengenerale Krupinski und Franke nicht ausgestanden, da gerät Verteidigungsminister Georg Leber erneut ins Gedränge: Sein künftiger Rüstungs-Staatssekretär, der Vier-Sterne-General Karl Schnell, forderte für den Kriegsfall einen möglichst frühen Einsatz der unter US-Verschluß lagernden taktischen Atomwaffen, Genau das aber lehnt die Bonner Regierung strikt ab.

In einer als »geheim« eingestuften Rede hatte Schnell, 59, schon im Juni vor der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg beklagt, alle bisherigen Planspiele und Übungen der Nato hätten bewiesen, daß die kleineren Atomwaffen des Bündnisses »nicht am ersten Kriegstag, sondern viel zu spät oder überhaupt nicht« zum Einsatz kämen. Deshalb müsse das komplizierte politische Genehmigungsverfahren geändert werden.

Obwohl Georg Leber von diesem Schnell-Schuß postwendend erfuhr, blieb die von der Generalität erwartete Rüge aus. Auch als Schnell im Oktober im Nato-Hauptquartier in Brunssum/Niederlande vor FDP-Wehrpolitikern seine Forderung wiederholte, erkannten weder Leber noch sein Parlamentarischer Staatssekretär Hermann Schmidt die politische Brisanz.

Und als jetzt einige Kernsätze der Schnell-Rede in Bonn umliefen, diktierte Leber vom Krankenbett aus seinem Pressesprecher Armin Halle die schwammige Erklärung, der derzeitige Nato-Oberbefehlshaber Europa-Mitte habe nur »pflichtgemäß Überlegungen angestellt, ob er seinen Auftrag ... auch weiterhin erfüllen kann«.

Mit diesem Freibrief für seinen zukünftigen Staatssekretär riskiert Leber freilich nicht nur einen politischen Konflikt mit den Amerikanern. Er desavouiert auch seinen Amtsvorgänger, Bundeskanzler Helmut Schmidt, der seine Generale immer wieder vor militärischen Gedankenspielen mit der Atombombe gewarnt hatte. Schmidt: »Man spricht nicht über Waffen, die man nicht hat.«

Atomwaffen, so die auch von Bonn vertretene Nato-Doktrin, sind in erster Linie politische Waffen, die der Abschreckung dienen. Sie gelten als Ultima ratio, wenn ein Angreifer mit konventionellen Kriegsmitteln nicht mehr zu stoppen ist. Vom amerikanischen Präsidenten persönlich zu genehmigende, demonstrative atomare Warnschüsse sollen in einem solchen Fall dem Gegner signalisieren, daß er von nun an den allgemeinen Atomkrieg riskiert.

Diese politische Grundüberzeugung stellte Lebers neuer Mann ohne erkennbaren Anlaß in Frage. Der General will, darauf laufen seine Überlegungen hinaus, die Verantwortung für den Einsatz der »kleinen Atomwaffen« den Politikern entziehen und in die Hände der Militärs legen. Für Karl Schnell sind die in der Nato heftig umstrittenen Atomminen und die Atom-Sprengköpfe für die Nike-Hercules-Flugabwehrraketen nichts anderes als modernisierte konventionelle Waffen.

Damit vertritt Schnell genau jenen Standpunkt, den der langjährige Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, General a. D. Johannes Steinhoff, im März in einem SPIEGEL-Interview als »makaber« bezeichnet hatte. Steinhoff: »Wir haben uns zu sehr an Kriegsbilder gewöhnt, in denen nach dem atomaren Trommelfeuer der Leutnant aus dem Graben springt, den Staub vom Ärmel schüttelt und seine Soldaten zum Angriff führt.«

Schon zu seinen Amtszeiten hatte Steinhoff die Offiziere immer wieder vor der Ansicht gewarnt, daß ein Nuklear-Krieg in Europa überhaupt geführt werden könne:. » Kein Mensch weiß doch, welche Folgen das haben wird, wenn so"n Ding eingesetzt wird. Das sind doch Dimensionen, die sich niemand vorstellen kann.«

Schnell dagegen knüpft geradewegs an eine Denkschule an, die seit mindestens zwölf Jahren als überwunden galt. Just zur Weihnachtszeit 1964 hatte der damalige Generalinspekteur Heinz Trettner die deutsche Öffentlichkeit mit einem später in der Nato abgelehnten Plan erschreckt, entlang der Zonengrenze eine Atomminen-Sperre zu verlegen. Der damalige SPD-Oppositionschef Fritz Erler nannte den Plan eine »Selbstmord-Strategie«. Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel mußte zum Rückzug blasen.

Daß es sich bei der Neuauflage dieser »Selbstmord-Strategie« durch Karl Schnell nicht um einen einmaligen Ausrutscher handelt, scheint fast sicher zu sein. Alte Kameraden des Generals erinnerten sich in der vergangenen Woche, daß Schnell schon 1968 während der (SSR-Krise wenig politisches Fingerspitzengefühl zeigte. Als Verteidigungsminister Gerhard Schröder damals anordnete, das an der CSSR-Grenze geplante Großmanöver »Schwarzer Löwe« nach Baden-Württemberg zu verlegen, gehörte Schnell zu einer kleinen Generalsgruppe, die heftig dagegen opponierte.

Während damals der Generalinspekteur Ulrich de Maizière mit Nachdruck die um Entspannung bemühte Politik der Regierung Kiesinger-Brandt unterstützte, drängte Schnell auf die Einberufung von Reservisten und sofortigen Manöveraufmarsch.

Mit seiner neuen Forderung nach schneller Freigabe der Atomminen machte Schnell nun deutlich, daß er noch immer in Kategorien denkt, die eher an die Kanonenboot-Politik Kaiser Wilhelms als an zeitgemäßes Krisenmanagement erinnern. Und noch vor Seinem Amtsantritt lieferte er jenen Kritikern neue Munition, die Georg Lebers Entscheidung, erstmals in der bundesdeutschen Geschichte einen Militär zum Staatssekretär zu berufen, für falsch halten.

Auch Kanzler Schmidt, der die Schnell-Beförderung gebilligt hatte, zeigte sich nun alarmiert. Vorige Woche forderte er den Text der jüngsten Rede des Generals an.

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