Umwelt Viele Bitterfelds
Eindringlich warnte der Betriebsleiter der Kupferhütte im sauerländischen Marsberg vor einer Verseuchung der Umwelt. Wenn der Konzern die Rückstände der Produktion, »Flugstaub« und »Chlor«, nicht ordentlich beseitigen lasse, werde »die hiesige Gegend verarmen«.
Das war vor über 50 Jahren. Die frühen Befürchtungen, schon 1939 der Spitze der damaligen Hermann-Göring-Werke vorgetragen, erweisen sich heute als gewaltige Untertreibung.
Vor einer Öko-Katastrophe noch unbekannten Ausmaßes steht nicht nur das westfälische Marsberg (20 600 Einwohner), auch viele andere Städte und Gemeinden müssen mit schlimmen Enthüllungen rechnen: Sie haben 20 Jahre lang, von 1955 bis 1975, Fußballfelder und Spielplätze, Fahrradwege und Schulhöfe mit giftiger Schlacke aus Marsberg, dem sogenannten Kieselrot, aufgeschüttet.
Das Zeug, das bei der Kupferproduktion anfällt, ist mit dem Supergift Dioxin hoch belastet. Die fällige Beseitigung wird Hunderte von Millionen Mark kosten.
In Marsberg, so stellt sich nun heraus, wurde früher ein Vielfaches jener Dioxin-Menge produziert und offen gelagert, die Jahrzehnte später im norditalienischen Seveso bei der Verpuffung in einer Chemiefabrik in die Umwelt gelangte. Das Seveso-Unglück galt als eine der schwersten Katastrophen in der Geschichte der chemischen Industrie.
Den neuen Dioxin-Alarm löste die sozialdemokratische Bremer Umweltsenatorin Eva-Maria Lemke-Schulte, 42, aus. Bei Routine-Messungen auf Bolz- und Spielplätzen waren ihre Beamten auf hohe Werte des Giftstoffes gestoßen und hatten rasch die Schlacke der sauerländischen Kupferhütte als Verursacher ermittelt.
Die »Dramatik der Meßergebnisse« (Lemke-Schulte) ist kaum zu übertreffen: 120 000 Quadratmeter Spiel- und Sportfläche in der Hansestadt, darunter auch der Trainingsplatz des Fußball-Bundesligisten Werder Bremen, müssen gesperrt und saniert werden. Je Kilogramm Boden sind bis zu 100 000 Nanogramm (milliardstel Gramm) des Supergifts enthalten.
Aus dem italienischen Seveso wurden Einwohner schon evakuiert, weil der Boden mit 1000 Nanogramm pro Kilo belastet war. Wird eine solche Verseuchung in Deutschland erreicht, fordert das Bundesgesundheitsamt einen völligen Bodenaustausch und die Entsorgung der vergifteten Erde, die als gefährlicher Sondermüll behandelt werden muß.
Als Chemiker im Boden des Bitterfelder Chemiekombinats, das sogar in der ökologischen Wüste der ehemaligen DDR als Extremfall gilt, knapp über 3200 Nanogramm Dioxin pro Kilo Erde fanden, war Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) noch sicher: Derlei Werte seien in Westdeutschland »unvorstellbar«. Nun gibt es plötzlich viele Bitterfelds im Westen. Mindestens eine Million Tonnen der rötlich-schwarzen Kupferschlacke aus Marsberg, so die Bremer Umweltbeamten, sind bis 1975 für Sport- und Spielplatzbau an westdeutsche Kommunen geliefert worden. Es könnten aber auch, nach den Produktionszahlen der Hütte, bis zu fünf Millionen Tonnen gewesen sein.
Wieviel Schlacke tatsächlich von der Marsberger Tiefbaufirma Möllman & Pohle vermarktet wurde, ist von entscheidender Bedeutung für das weitere Vorgehen der Behörden. Sie müssen womöglich nach rund 500 Kilogramm des Supergifts fahnden, die der Schlacke anhaften. Bei der Seveso-Katastrophe waren gerade zwei Kilogramm Dioxin in die Umwelt gelangt. _(* Anlage der Hermann-Göring-Werke in den ) _(vierziger Jahren. )
Weil in Marsberg kaum noch Unterlagen über die Empfänger der Schlacke existieren, müssen nun die Kommunen in allen westlichen Bundesländern nach dem roten Stoff suchen. In Bremen sind 5000 Tonnen des Materials geortet worden, als besonders belastet gelten nach Erkenntnissen der norddeutschen Rechercheure außerdem die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen.
In Marsberg ist nichts mehr zu finden. Dort sind die alten Schlackehalden längst geräumt und mit Bauschutt überdeckt. Dem Stadtdirektor Hans-Otto Hille, 45, schwant dennoch Böses. Die Gemarkungen rund um Marsberg müßten nun auf Dioxinbelastung aus der alten Kupferhütte untersucht werden.
Zudem ist auch der Marsberger Fußballplatz mit Kieselrot aufgeschüttet. Dem Stadtchef fielen nach den Bremer Enthüllungen vorige Woche wieder Berichte von Sportlern ein, die sich bei Stürzen auf dem Platz verletzt hatten: Die Schürfwunden, so übereinstimmende Beobachtungen, »verheilten praktisch erst nach Jahren«.
Die Kupferhütte war schon vor einem halben Jahrhundert eine Giftschleuder. Im Sommer 1938 jedenfalls, kurz nach Aufnahme der Produktion, war in der Gemarkung Marsberg das Vieh gleich reihenweise krepiert. Der Betriebsleiter der Hütte notierte den für damalige Zeiten monströsen Schaden von »600 000 bis 800 000 Reichsmark«. Der Bau eines Schornsteins in der Hütte, gedacht zur besseren Verteilung der Abgase, bewirkte nach Wissen eines Marsberger Heimatforschers nur, daß danach im benachbarten Waldecker Land das Vieh einging.
Eine großflächige Verseuchung im Sauerland, wie sie von den bremischen Umweltbeamten vermutet wird, wäre auch heute noch gefährlich. Im Boden braucht Dioxin 160 Jahre, bis es sich zur Hälfte abgebaut hat. o
* Anlage der Hermann-Göring-Werke in den vierziger Jahren.