Die Fünfjährige, der die Hände mit den verstümmelten Fingern an den Schultern sitzen und die Unterschenkel am Rumpf, sagte dieser Tage zu ihrer drei Jahre alten Schwester, die ihr schon über den Kopf gewachsen ist: »Du hast mir meine Knochen weggenommen.«
Der Vater erfuhr 1962 die Geburt der heute Fünfjährigen telephonisch: »Die Mutter ist gesund. Das Kind sollten Sie sich anschauen kommen.«
Der Vater stand in der Entbindungsstation. »Wir hätten es ja in den Eimer fallen lassen können. Nur waren zu viele herum.« Doch hieß man den Vater hoffen: » Vielleicht überlebt es die ersten Tage nicht. Vielleicht haben Sie Glück.«
Fünf Jahre lebt nun das Mädchen, dem auch das Zwerchfell zu hoch in der Brust sitzt und dessen Lebenserwartung niemand berechnen kann. Einige Male ist es beinahe ertrunken in flachem Wasser, in das es gefallen war, etwa in einem Zierbecken im Garten.
Dann lernte es, sich aus eigener Kraft aufzurichten, indem es den Kopf auf den Boden preßt und das Gesäß hochstemmt.
Manchmal schließt das Kind heute die Augen und hält die Luft an, wirft sich in flaches Wasser und richtet sich wieder auf. Es ist stolz, des flachen Wassers Herr geworden zu sein.
Mitunter aber muß das Mädchen mit Blaulicht in die Klinik gefahren werden, in Atemnot, am Ersticken. Seine Lungen entwickeln sich nur schwer. Und oft wird es operiert, an den verstümmelten Händen vor allem, damit ihm Prothesen angepaßt werden können, die ihm zu größerer Selbständigkeit helfen sollen.
Es ist übrigens nicht überall leicht, einen Termin für solche und andere Operationen zu erhalten. Die Ärzte, die über die notwendigen, speziellen Erfahrungen verfügen, sind überlastet. Sie sollen nicht allzu weit vom Elternhaus des Kindes entfernt wohnen, damit sie seine körperliche Entwicklung ständig betreuen können.
So kommt es zu Ballungen. Einer dieser Ärzte brach unlängst zusammen. Die Zahl der angemeldeten Eingriffe, die noch in diesem Jahr vorgenommen werden müssen, war seiner Kapazität zu weit voraus.
Die Fünfjährige ist ein sogenanntes Contergan-Kind. Ihre Mutter nahm während der ersten Wochen der Schwangerschaft das Schlaf- und Beruhigungsmittel ein, das allein oder unter Mitwirkung anderer Faktoren oder unter besonderen Umständen die Geburt von in bestimmter Weise mißgestalteten Kindern verursacht haben soll.
Es wird, wenn die Große Strafkammer hei dem Landgericht Aachen gemäß der Anklageschrift vorn 13. März dieses Jahres die Hauptverhandlung eröffnet, einen Strafprozeß gegen neun gegenwärtige beziehungsweise ehemalige Mitarbeiter des Contergan-Herstellers geben. Vielleicht haben die neun vorerst nur Angeschuldigten vorsätzlich oder fahrlässig schuld daran, daß zwischen 1958 und 1962 in der Bundesrepublik ein Unglück geschah, für das die Bezeichnung »Mißbildungs-Epidemie« ein unglückliches, aber zutreffendes Wort ist.
Die Fünfjährige wird vielleicht, wenn sie zehn, elf oder zwölf Jahre alt ist, finanzielle Ansprüche an den Contergan-Hersteller haben, nach einem Schuldspruch, nach Revision und eventuell neuer Verhandlung, nach einem rechtskräftigen Urteil und nach Zivilprozessen. Doch dieses »vielleicht« ist groß und umringt von anderen »vielleicht«.
Vielleicht wird das Mädchen nicht 18, 19 oder 20 Jahre alt. Wie aber wird es leben, wenn es dieses Alter erreicht? Abhängig von steter Betreuung oder leidlich fähig, aus eigener Leistung Kraft zu schöpfen? Wird es einen Partner finden können, muß es mit jedem Tag neue, größere Bescheidungen auf sich nehmen und ertragen? Man muß ihm alles geben, was man ihm nur geben kann, jetzt, so früh wie möglich, solange es körperlich, geistig und seelisch bildbar ist; alles, was ihm einmal verfügbar sein kann, wenn es nur noch zu bestehen, zu ertragen hat.
Die Fünfjährige ist ein sogenanntes Contergan-Kind. Denn die Schläge, die keiner überlebt, mit denen dennoch weitergelebt werden muß, um der am härtesten Getroffenen, der Kinder, willen, sollen einen Namen haben. Eine Bezeichnung scheint etwas über das »Warum« zu sagen. Und das »Warum« gilt als eine Deckung, als ein kleiner Wall, hinter dem sich der Mensch vor dem Streufeuer des Unbegreiflichen verbergen kann.
In einer Million Kinder, die jährlich in der Bundesrepublik geboren werden, ist jedes achte Kind körperlich oder geistig beeinträchtigt. Es leben ständig fast 200 000 körperlich oder geistig behinderte Kinder unter uns. Hinzuzufügen ist die Dunkelziffer, die anonyme Schar der Kinder, von deren Leid falsche Scham, regionale Abgelegenheit und unausrottbare Vorstellungen des Mittelalters die Kenntnis verhindern.
Für die überlebenden sogenannten Contergan-Kinder, deren Zahl weiterhin mit 2394 anzunehmen ist (mangels einer Meldepflicht, gegen und für die es gewichtige Argumente gibt, sind alle Zahlen ungenau, aber immer nur kleiner als in Wirklichkeit), mag es eine Antwort auf das »Warum« geben. Eine kümmerliche freilich, denn warum etwa erfuhr eine werdende Mutter nicht, daß von Contergan Gefahr drohte, als die anderen das schon erfahren hatten?
Es gibt keine Antwort für die Eltern behinderter Kinder, auch nicht aus dem Bereich der Vererbungslehre, die nicht Verzweiflung darüber hinterließe, daß möglich ist, was ihrem Kind widerfuhr; daß sie nie mehr wissen werden, was Glück ist: »Vielleicht haben Sie Glück.«
Die Angst davor, Vater und Mutter eines körperlich oder geistig geschlagenen Kindes zu werden, ist eine Urangst. Die Bundesrepublik begann 1962, als sich die Belege für eine Mißbildungskatastrophe im Zusammenhang mit Contergan verdichteten, einen Prozeß der Bewußtmachung, was diese Urangst angeht. Die Jagd auf den Schuldigen war lange Zeit eine Ausflucht. Man war zuerst nur bereit, sich vor Arzneimitteln zu fürchten. Schritt für Schritt faßte dann die Erkenntnis Fuß, daß die Zahl und Art der Schicksalsschläge, die mit Sicherheit niemals durch Vorsorge und durch Ausmerzen von Fehlern und Versäumnissen zu verhindern sind, zu groß und vielfältig ist.
Schon auf dem Therapiekongreß 1962 in Karlsruhe sprach Dr. Herbert Schrader, »Hamburger Abendblatt«, einen Vertreter des Grünen Kreuzes art. Drei Professoren seien am Überlegen, gemeinsam mit einem Rechtsanwalt, der die Interessen der Contergan-Eltern vertrete, wie ein Hilfswerk zu organisieren und ob dies nicht etwas für das Grüne Kreuz sei. Es kam zu Gesprächen, zu einem Versuch, aber noch war die Fixierung auf den frischen Eindruck einer speziellen Arzneimittelkatastrophe zu groß.
Während sich mannigfache Bemühungen zugunsten der sogenannten Contergan-Kinder ausbreiteten, ließ das Grüne Kreuz, bestärkt von Wissenschaftlern und Politikern, nicht von der Idee eines Hilfswerks ab, das schlechthin allen behinderten Kindern dienen soll. Als schließlich immer deutlicher wurde, daß der Kampf um Hilfe für eine besondere Gruppe behinderter Kinder zu einer heillosen Zersplitterung führt, war die Zeit für eine umfassende Stiftung für das behinderte Kind reif.
Stifter ist das Grüne Kreuz, ein gemeinnütziges, nach 1945 entstandenes Unternehmen mit der Aufgabe, Mensch und Tier durch Vorsorge vor Schäden zu bewahren. Als Startkapital stehen der Stiftung eine Million Mark aus Spenden zur Verfügung. Ihre erbten Veröffentlichungen schmückt das Bild eines Kindes von Pablo Picasso aus dem Jahre 1903, worin sich kein geringer Vorsatz ausdrückt: Denn diese Zeichnung ist als Symbol der amerikanischen National Foundation bekannt, deren Erfolge im Kampf gegen die Kinderlähmung und seit 1958 auch gegen Geburtsschäden noch lange ein fernes Ziel bleiben dürften.
Es sind dem SPIEGEL die Umstände bekannt, die zur Folge hatten, daß erst am Montag dieser Woche in Bad Godesberg die Stiftung für das behinderte Kind konstituiert werden konnte. Spätestens vom Sommer 1966 an wäre ihre Ausrufung möglich gewesen. In einem Augenblick, in dem es gilt, sich endgültig zur Anerkennung einer Drohung zu überwinden, der nicht nur ausgesetzt ist, wer auf das Kruzifix gespuckt hat, soll über das geschwiegen werden, was verzögert hat.
Nicht verschwiegen werden darf, daß die Stiftung für alle behinderten Kinder vorerst eine Hoffnung ist. Sie wird erst davon überzeugen müssen, daß sie das Sammelbecken ist. Die zusammengeschlossenen Elternverbände werden befürchten, daß die Stiftung in erster Linie der wissenschaftlichen Forschung, an deren Notwendigkeit niemand zweifelt, und nur in zweiter Linie der akuten Hilfe dient.
Auch hoffen die Eltern der behinderten Kinder weniger auf eine Institution als auf Personen, die es verstehen, für sie einzutreten und ihnen zu helfen. Das Kuratorium der Stiftung für das behinderte Kind weist klangvolle Namen auf. Wer weiß, ob man nicht um sie mit dem Versprechen geworben hat, daß ihnen Arbeit erspart bleibt. Die Stiftung wird einen Mann brauchen, der nicht nur das Büro wahrnimmt, sondern eine Art Ombudsmann ist, an den sich alle Eltern behinderter Kinder wenden können. Der Verbindungen herstellt, Hinweise gibt. Der im unübersichtlichen Gelände der vorhandenen Möglichkeiten, etwa des Sozialhilfegesetzes, Ratschläge und Adressen für jeden Einzelfall weiß, und den niemand sich scheut, anzusprechen.
Dieser Mann muß schon wer sein. Er muß erkennen und durchsetzen können, wo jeweils das Nächste mit dem Vorhandenen zu tun ist. Er muß es verstehen, den Wohlfahrtsverbänden, an deren unermüdlicher, bewundernswerter Arbeit für das behinderte Kind nicht gedeutelt werden darf, die Sorge zu nehmen, daß die große Versammlung in der Stiftung für das behinderte Kind sie abdrängen könnte.
Und dann wird auch die Haltung der Öffentlichkeit zu berücksichtigen sein, die, wie die Aktion Sorgenkind des ZDF gezeigt hat, durchaus zu gewinnen ist. Die aber kaum bereit ist. eine Stiftung zu unterstützen, die sie verdächtigt, eine gut getarnte Unternehmung zu sein, über die sich Staat und Länder ihrer Verpflichtungen zu entledigen trachten. Die Stiftung wird klarzumachen haben, daß in ihr der Bürger über den Staat hinaus persönlich für den Mitmenschen eintritt.
Es gibt viele Arten von Glück. Doch wohl in Wahrheit keines, weil es immer noch Unglückliche gibt. Die Aufrufe zur Hilfe, zum Engagement gehen wie Regen täglich nieder. Die Bitte, dem behinderten Kind zu dienen und noch in seiner schrecklichsten Gestalt das Kind aller Menschen zu sehen, ist ein sehr stiller Aufruf; die Bitte um nicht mehr als darum, ein Mensch zu sein.