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»Vielleicht ist das die Strafe«

aus DER SPIEGEL 43/1992

Von seinem Todesurteil erfuhr der Krankenpfleger Wolfgang Behrens am 26. Juni 1986: An diesem Tag wurde ihm eröffnet, daß er HIV-positiv sei.

Seitdem veranstaltet Behrens jedes Jahr zu diesem Datum eine Feier. Er nennt es »meinen Positiven-Geburtstag«. Er feiert, daß er noch am Leben ist.

Als der kleinen Maria, 4, das geliebte Meerschweinchen starb, reagierte sie tapfer. Sie weinte nur wenig, legte das tote Tier in eine Schachtel und begrub es im Garten. »Nicht so schlimm«, sagte sie, »es kommt ja jetzt in den Himmel zum lieben Gott.«

Maria weiß nicht, daß ihre Eltern an Aids erkrankt sind. »Im Moment ist es nicht angebracht, mit ihr darüber zu reden«, glaubt Marias Mutter.

Der Angestellte Ingo war nie sentimental. Privat und in seinem Job galt er als beherrscht, als Mensch ohne heftige Gefühlsausbrüche.

Seit Ingo mit dem Virus infiziert ist, hat sich das geändert. Wenn ihm auf der Straße hinfällige oder behinderte Menschen begegnen oder wenn ein trauriger Film gezeigt wird, verliert er die Fassung: »Mir laufen dann die Tränen, und die Stimme bricht.« Letztes Jahr hat sich Ingo eine Grabstelle gekauft.

»Das Leben ist so geil, so schön, man kann so viel damit machen«, schwärmt Martin - der Schüler, Graffiti-Maler und Fan von Rap-Musik. Über Aids will der 18jährige nicht nachdenken, »ich hab' eigentlich andere Sorgen«.

Lernt Martin ein Mädchen kennen, sagt er zwar, daß er Bluter ist, aber nicht, daß er durch verseuchtes Blutplasma tödlich erkrankt ist. Die Freundinnen, fürchtet er, würden »dann dumm reagieren, Tür zu, raus«.

Rund 50 000 Menschen, schätzen Experten, sind in Deutschland mit dem Aids-Virus infiziert. Wie lange sie mit dem Virus leben, überleben können, ist ungewiß - 5 Jahre, 10 Jahre, 15 Jahre? Sicher ist nur, daß sie, wenn nicht zuvor ein Unfall oder eine andere Krankheit sie dahinrafft, an Aids sterben müssen, es sei denn, Mediziner finden ein Medikament.

Die Krankheit, deren Verlauf unberechenbar ist, zwingt die Betroffenen zu einem Leben voller Widersprüche. Einerseits müssen sie den Alltag bewältigen, organisieren und für die Zukunft planen. Andererseits lähmt sie das Wissen um das absehbare Ende.

Lohnt es sich, eine Ausbildung zu beginnen, den Arbeitsplatz zu wechseln, eine andere Wohnung anzumieten? Hat es Sinn, sich auf eine neue Partnerschaft einzulassen? Zeit, für viele Gesunde eine scheinbar unendliche Manövriermasse, wird zur limitierten Größe. Unklar ist nur, wann die Frist ablaufen wird.

1987 hat der SPIEGEL in einer Serie ("Ich bin positiv") HIV-Infizierte über ihr Schicksal berichten lassen. Sie schilderten ihre Todesängste, ihre Verdrängungsversuche, ihre Hoffnungen auf ein Wundermittel.

Einige, die damals Auskunft gaben, sind mittlerweile gestorben. Der Krankenpfleger Behrens, die Eltern der kleinen Maria, der Angestellte Ingo und der Schüler Martin leben noch. Der SPIEGEL hat die Überlebenden besucht, um herauszufinden, was ihnen in den letzten fünf Jahren widerfahren ist. Wolfgang Behrens war bereit, unter seinem richtigen Namen aufzutreten. Alle anderen baten, wie schon damals, um Namensänderung, redeten dann aber genauso offen wie 1987.

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