VIETNAM
Seit Jahren bin ich der Meinung, daß es ohne Sie, Herr Augstein, und ohne den SPIEGEL - die einzige europäische Zeitschrift, die ich von cover to cover zu lesen pflege - so etwas wie Opposition in Deutschland überhaupt nicht geben würde. Dies nur, um Ihnen zu sagen, daß mir, was Sie schreiben, nicht gleichgültig sein kann, und daß, wenn Sie, wie mir scheint, sich fundamental irren, ich ernsthaft besorgt werde. Mißverstehen Sie also bitte das Folgende nicht als Polemik, sondern nehmen Sie es als - was es ist - eine Anfrage in einer Sache, die offenbar uns beide angeht.
In Ihrem Leitartikel »Die Moral des Schreckens« schreiben Sie von »unseren amerikanischen Freunden«, mit denen Sie nicht mehr reden können: Sie »meiden uns und wir sie«. Und zwar weil diese »Freunde« vermutlich nur »einen Teil« von dem wissen, was Sie wissen, und auf jeden Fall das Schreckliche, das Sie aufzählen, »nicht wissen wollen«. Seit ich diese Sätze mit einiger Verblüffung las, frage ich mich vergeblich, wen Sie eigentlich meinen, wenn Sie von »unseren amerikanischen Freunden« sprechen - nämlich wer ist »wir«, und wer sind die Freunde? Es klingt, als hätten Sie die gleichen »Freunde« im Sinn wie die Regierung in Bonn, und das kann doch nicht gut stimmen.
Ich zum Beispiel kannte alle von Ihnen erwähnten Tatsachen aus amerikanischen Publikationen. Sind Leute wie Senator Fulbright, George Kennan, Lewis Mumford, Robert Lowell, Walter Lippmann - um nur Namen zu nennen, von denen ich annehme, daß sie auch in Deutschland bekannt sind - diejenigen, welche Sie zu meiden wünschen? Wissen Sie nicht, wie gespalten das Land in dieser Frage ist? Kennen Sie nicht, was vor dem Senatsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten in aller Öffentlichkeit verhandelt wurde? Haben Sie nie eine Nummer der New Republic oder der NY Review of Books oder auch nur der NY Times In der Hand gehabt? Wissen Sie nicht, wie viele der sehr einflußreichen Nachrichtenredakteure der Fernseh-Stationen in Ihrem Sinne berichten und dem Publikum Tag für Tag am Bildschirm vorführen, was in Vietnam geschieht? Haben Sie nichts von den oft sehr erregten Diskussionen an den Universitäten gehört, an denen Studenten und, Fakultäten gleichmäßig teilnehmen?
Alle diese Amerikaner, zu denen ich mich auch rechne, haben Sie offensichtlich abgeschrieben. Warum eigentlich? Dies ist alles andere als eine rhetorische Frage. Es ist vielmehr die Frage, die das eigentliche Anliegen des Briefes ist.
New York HANNAH ARENDT
Hannah Arendt*
* Deutsch-amerikanische Schriftstellerin ("Eichmann in Jerusalem«, »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft").