Vietnam: Die Moral vom Hackfleisch-Hügel
Die drei olivgrünen Bronzefiguren wirken nur auf den ersten Blick wie monumentale Rekrutierungswerbung der U. S. Army: wehrhafte Männer auf einem Denkmal-Podest mitten in Washington. Doch dann fällt ihre Körpersprache auf - die Denkmal-GIs sind in Wirklichkeit erschöpft. Sie strahlen keine Siegeszuversicht aus - im Gegenteil: Ihrer Haltung haftet etwas Verlorenes an.
Gleichwohl können mit diesem konventionellen Denkmal auch jene amerikanischen Patrioten leben, deren Erinnerung an den Vietnamkrieg, »dieses edle Anliegen« (Reagan), marmorgetäfelt ist wie eine Ruhmeshalle: In ihren Köpfen gibt es die endgültige amerikanische Niederlage nicht mehr; vergessen ist der schmachvolle Abflug des letzten US-Hubschraubers in der Nacht vom 29. zum 30. April 1975 vom Dach eines amerikanischen Apartmenthauses in Saigon. Ein schlechter Traum - vorbei. _(Präsident Reagan auf dem ) _(Soldaten-Friedhof Arlington am 28. Mai ) _(1984. )
Indes, eine genauere Erinnerung an jene Zeit wird nur wenige Meter vom monumentalen Bronze-Team entfernt aufbewahrt - auf einer 150 Schritte langen, schwarzen Granitwand. Es ist die Klagemauer Amerikas, »The Wall«.
58 022 Namen sind in die Granitplatten geätzt worden - die amerikanischen Gefallenen und Vermißten des Krieges in Südostasien. Dazu zwei Daten: Kriegsanfang 1959, Kriegsende 1975. Eine entsprechende Mauer für die 1,5 Millionen vietnamesischen Kriegsopfer wäre mehrere Kilometer lang.
Vor der schlichten Wand stehen Freiwillige mit dicken Nachschlagewerken. Auf Anfrage nennen sie Todestage, ihre Geburtsdaten, Heimatstaat. Rund 22 000 der Gefallenen waren nicht einmal 21 Jahre alt - Vietnam war ein Krieg der US-Teenager, zumal der Arbeiterkinder gegen erfahrene Guerrilleros. Studenten wurden vom Dienst befreit, viele Kinder der Mittelklasse drückten sich.
Die Eltern der Toten kommen an diese Mauer, tasten die Namen ab, küssen das Gestein. Manche weinen auch, hemmungslos, inmitten der Menge - an Feiertagen sind es bis zu 12 000.
Die Einweihung des Denkmals 1982 hatte Reagan versäumt - das Monument, von einer jungen Amerikanerin chinesischer Abstammung entworfen, entsprach nicht seinem verfälschend heroischen Bild jenes Dramas, in dem Amerika, so Henry Kissinger heute, »seine außenpolitische Unschuld verlor«.
Die USA, die 1917 und 1941 nach langem Zögern in die Weltkriege eingetreten waren, um Europa von den Plagen diplomatischer Narreteien und faschistischer Verbrechen zu befreien - in den Vietnamkrieg glitten sie mit der falschen Sicherheit von Schlafwandlern. Schon als Frankreich seine indochinesische Kolonie 1954 in der Schlacht von Dien Bien Phu an die Vietminh-Partisanen unter Ho Tschi-minh verlor, finanzierte Washington 80 Prozent der Kriegskosten. Die Ergebnisse der Genfer Indochina-Konferenz - ein unabhängiges Vietnam - wurden von den USA niemals anerkannt; südlich des 17. Breitengrads etablierte sich mit US-Hilfe eine bürgerliche, korrupte Regierung.
Von Diem bis Thieu: Die diktatorischen Machthaber von Saigon hielten sich kraft amerikanischer »Berater": Erst 500 (1958), dann schließlich 538 000 (1969) - alle waren sie verstrickt in einen Kampf gegen Vietcong und Nordvietnamesen, die andere Taktiken beherrschten als jene, die Amerikas Offiziere an ihren Militärakademien gelernt hatten.
US-Marineinfanteristen, die 1965 in der Nähe von Khe Sanh einen Hügel namens »Hackfleisch« eroberten, ließen nach ihrem Abzug ein kleines Schild zurück: »Vietnam - war es das wert?«
Die Frage gilt immer noch: *___Im längsten Krieg ihrer Geschichte verzichteten die USA ____auf ihren selbstgestellten moralischen, ____anti-imperialistischen
Führungsanspruch und übten sich in hemmungsloser, materialreicher Machtprojektion. Die Bombardierung der Zivilbevölkerung von Hanoi galt als »strategischer Bekehrungsversuch«, der Einsatz neuer Horrorwaffen wie »Agent Orange«, ein dioxinhaltiges Entlaubungsmittel, schien vertretbar. Über sieben Millionen Tonnen amerikanischer Bomben und Granaten wurden auf das Land abgeladen - mehr als dreieinhalbmal soviel wie die Alliierten im Zweiten Weltkrieg auf Deutschland und das besetzte Europa abwarfen. Doch die Sprengkörper zeigten auch bei den fernen Verbündeten ungewollte Wirkung - über Westeuropa zog eine Welle des Antiamerikanismus. An die Stelle des 1963 ermordeten Kennedy (der kurz vor seinem Tod ein Ende des Vietnam-Engagements erwogen hatte) rückten andere Heilige der jungen Generation - Ho Tschi-minh in Asien, Che Guevara in Südamerika. *___In der ärgsten binnenamerikanischen Konfrontation seit ____dem Bürgerkrieg teilte sich die Nation in feindliche ____Lager. Die Konservativen um Goldwater und Reagan ____wollten Nordvietnam am liebsten atomar bombardieren ____("let''s nuke ''em"); die Liberalen um Robert Kennedy ____sahen keinen Sinn darin, an einem »Bürgerkrieg unter ____Asiaten teilzunehmen«, der, in den Worten des ____US-Staatssekretärs George Ball, »auf ____Dschungelterritorium geführt werden muß inmitten einer ____Bevölkerung, die die Zusammenarbeit mit den weißen ____Truppen ablehnt«. *___Als Berater von John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson ____verschliß sich die liberale Ostküsten-Elite unter ____McGeorge Bundy, Rusk und Walt Rostow an dem fernen ____Krieg. Verteidigungsminister Robert McNamara, ein ____frommer Protestant, zerbrach an seiner Verantwortung, ____zog sich aus der Politik zurück und sagte bis zum ____Beleidigungsprozeß des Ex-Generals Westmoreland gegen ____die TV-Gesellschaft CBS kein Wort mehr zu Vietnam - ____weder privat noch öffentlich. Die »Pentagon-Papiere«, ____von der »New York Times« veröffentlicht, dokumentierten ____die »Arroganz der Macht« (Senator Fulbright). *___Amerikas politische Kultur radikalisierte sich: Linke ____"Yippies« sprengten beinahe den Parteitag der ____Demokraten in Chicago (1968); Nationalgardisten ____schossen auf demonstrierende Studenten der Kent State ____University (vier Tote). Das Ansehen der ____US-Präsidentschaft verfiel unter der öffentlichen ____Kritik. »Hey, hey, LBJ, how many kids did you kill ____today?« sangen die Armeen demonstrierender ____Wehrpflichtiger - und der entnervte Präsident Johnson ____verzichtete auf eine zweite Kandidatur. *___Nachfolger Nixon ebnete mit der verfassungs- und ____völkerrechtswidrigen Bombardierung Kambodschas den Weg ____für den kommunistischen Massenmörder Pol Pot und seine ____Khmer-Rouge-Guerrilleros. Mit strategischem ____Bombenterror aus B-52-Flugzeugen hoffte Nixon, ____günstigere Abzugsbedingungen für die geschlagene U. S. ____Army herauszuhandeln. Berater Kissinger hatte es Nixon ____beigebracht: Der Krieg war für Amerika nicht zu ____gewinnen. Ein womöglich kriegsentscheidender Einmarsch ____in Nordvietnam - Moskaus Partner - kam nicht in Frage. *___Amerikas wahre Niederlage, so behaupten heute die ____Generale von einst, fand in den Wohnzimmern der Nation ____statt. In jahrelanger live-Berichterstattung von den ____südostasiatischen Schlachtfeldern verwandelte das ____US-Fernsehen die Vietnam-Ereignisse in einen endlosen ____Anti-Kriegsfilm. Fernsehstationen und ihre Ansager ____stiegen zu tonangebenden, moralischen Instanzen auf: ____Was sie zeigten, schien glaubwürdiger als die endlosen ____Friedens-Versprechungen der Politiker.
Als der Krieg schließlich vorüber war, hatte sich das ganze Land verwandelt; die 50er Jahre, der glückliche Provinzialismus der Eisenhower-Jahre, all das war endgültig versunken. Auf den Bildschirmen hatten asiatische Kinder im Napalm-Feuer gebrannt. Amerikaner waren als Massenmörder an vietnamesischen Müttern und Babys entlarvt worden. Die Daheimgebliebenen hatten bunte Abbilder ihrer eigenen Gewalt gesehen, und ihnen war speiübel geworden.
In einer Kraftanstrengung bemühte sich Amerika fortan, Vietnam zu vergessen wie eine überstandene Infektion.
»Niemand wühlt wirklich gern in bösen Erinnerungen herum«, sagt heute US-Senator John Kerry, 41. Er diente einst freiwillig in Vietnam und wurde dreimal verwundet. Weil er nach seiner Armee-Entlassung Veteranenproteste gegen den Krieg organisierte und obendrein »aus Gewissensgründen« um vorzeitige Entlassung aus dem Militärdienst gebeten hatte, verhöhnten ihn im Senatswahlkampf politische Kontrahenten als einen »Sympathisanten der Kommunisten« und »Verräter«.
Doch auch solche Verleumdungen verhallten - es fehlte ihnen der Bezugspunkt. Das Publikum hatte »Vietnam« und alles, was damit zusammenhing, in Windeseile weggeschoben, wollte jahrelang nichts mehr davon wissen.
»Nahezu über Nacht verschwand Vietnam aus dem nationalen Bewußtsein«, wunderte sich der neo-konservative Publizist
Norman Podhoretz. Kein General, kein Admiral trat nach der ersten Niederlage in der US-Kriegsgeschichte zurück: »Kollektiver Gedächtnisverlust« diagnostizierte damals das »New York Times Magazine«. Aber das Unglück war zu groß, um für immer begraben zu bleiben: Vietnam kehrt wieder wie ein Alptraum, der sich nicht vertreiben läßt. Noch vor wenigen Wochen mußte sich Vietnam-Befehlshaber Westmoreland in einem von ihm angestrengten Prozeß gegen die TV-Anstalt CBS bescheinigen lassen, mit der statistischen Feind-Einschätzung aus politischen Gründen fahrlässig umgegangen zu sein. Indes, beharrte Westmoreland, an seinem Patriotismus dürfe niemand zweifeln - ein tragischer Verlierer, der immer noch nicht weiß, warum der Sieg ihm eigentlich versagt blieb.
»Ob wir im moralischen Sinne etwas gelernt haben«, bezweifelt angesichts solcher Generale der Kennedy-Berater und Historiker Arthur Schlesinger. Möglich sei, daß »Amerika nun wisse, welch großer Fehler es ist, in der Geschichte der Menschheit Gott spielen zu wollen«.
Tatsache ist auch, daß sich niemand zu diesem Fehler bekennen wird. Die US-Senatoren und -Abgeordneten, sonst für jeden telegenen Auftritt in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen dankbar, forderten nach 1975 kein einziges Vietnam-Tribunal, sondern propagierten Vergeßlichkeit.
150 Milliarden Dollar im Krieg verpulvert? Kein Parlamentarier fragte mehr danach. Vier Millionen tote und verletzte Vietnamesen? Schwamm drüber! Eine amerikanische Armee, die zu 80 Prozent aus Nachschub-Fürsten, Etappen-Königen und Kasino-Kaisern bestand, in der _(Bei der Evakuierung aus Hue während ) _(der Tet-Offensive 1968. )
nie mehr als 80 000 Infanteristen in der wirklich kämpfenden Truppe standen? Nicht der Rede wert!
In den Worten des damaligen Fraktionsführers der Demokraten im Senat, Mike Mansfield: »Es ist niemandem damit gedient, darüber zu grübeln, was in der Vergangenheit hätte sein können oder sein sollen.«
Der demokratische Präsident Jimmy Carter verkündete 1977, Stunden nur nach seinem Einzug ins Weiße Haus, es sei an der Zeit, »mit dem Vietnamkrieg zu Ende zu kommen«. Jene 500 000 »Abtrünnigen«, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland, zumal nach Kanada, entzogen hatten, sollten heimkehren. Selbst Deserteure könnten mit Milde rechnen. Carter: »Ich verspüre keinen Wunsch, irgend jemand zu bestrafen.« Und: »Die ganze Sache ist jetzt vorbei.«
Drei Jahre nach Carters Aufruf zur Vietnam-Amnestie schlug Ronald Reagan in einer Rede vor den »Veterans of Foreign Wars« den neuen Ton an: »Zu lange haben wir mit dem Vietnam-Syndrom gelebt.« Zeit zur Geschichts-Revision, Zeit der konservativen Trendwende: Der »neue Patriotismus« (Reagan) entpuppte sich als der alte.
Für den US-Präsidenten heißt der Feind weiterhin Vietnam. Diplomatische Beziehungen zwischen den Kriegs-Kontrahenten bestehen nicht. Reagan-Berater verweisen auf mehr als 2400 amerikanische Vermißte und Kriegsgefangene, von denen Hanoi womöglich einige zurückhalte. Sie führen die Besetzung Kambodschas durch vietnamesische Truppen an, sie erinnern an die Internierungslager, in denen politische Gegner des Hanoi-Regimes seit einem Jahrzehnt inhaftiert sind.
Haben die Anhänger der »Domino-Theorie«, die in Südvietnam nur einen Stein sahen, der, einmal gefallen, die ganze Region dem Kommunismus ausliefern würde, nicht recht gehabt?
Ex-Präsident Richard Nixon behauptet in seinem Werk »No More Vietnams": »Heute, nachdem die kommunistische Regierung über eine halbe Million Vietnamesen und über zwei Millionen Kambodschaner getötet hat, lautet das abschließende moralische Urteil über unsere Anstrengungen, Kambodscha und Vietnam zu retten: Nie haben wir für eine moralischere Sache gekämpft.«
Tatsache ist freilich, daß die »Rettung Kambodschas« mit einem schweren US-Bombardement derjenigen anhob, die »gerettet« werden sollten; wahr ist auch, daß Dunkelmänner wie die Saigon-Herren General Ky, General Khanh und
schließlich General Thieu für alles standen, nur nicht für Moral.
Doch die konservative Vietnam-Mythenbildung ist nicht aufzuhalten: Es ist eine besondere Form des Vergessens - aufgehoben wird vom kollektiven Gedächtnis lediglich das, was in ein Bild schuldloser Vietnam-Tragik paßt.
Flecken auf dem Schlachtgemälde werden entfernt: Vergeben wurde dem Leutnant William Calley, der im März 1968 im vietnamesischen Dorf My Lai mindestens 22 Zivilisten ermordete und dafür 1971 zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Drei Jahre Hausarrest mußte der Soldat absitzen.
Der vom Pentagon mit der Aufklärung der Hintergründe des Massakers beauftragte Generalleutnant W. R. Peers empörte sich in einem später von ihm verfaßten Bericht über die »Unfähigkeit des militärischen Rechtssystems, jene wirkungsvoll zu bestrafen, die entweder beschuldigt wurden, Kriegsverbrechen begangen zu haben oder die es unterließen, derartige Verbrechen zu melden und zu untersuchen«. Und: »Wir messen uns offenbar nicht mit demselben Maß, mit dem wir unsere Feinde messen.«
Verziehen wurde auch die Tat des Polizeichefs von Saigon, Nguyen Ngoc Loan, der während der kommunistischen Tet-Offensive 1968 einem gefangenen Vietcong die Pistole an die Schläfe drückte und ihn vor der Kamera eines AP-Photographen erschoß. Der Lichtbildner wurde für die Aufnahme mit dem Pulitzer-Preis geehrt, der Polizeichef konnte in letzter Minute mit Frau und Kindern in die USA fliehen und besitzt jetzt ein Restaurant in Burke, Virginia.
Vernachlässigt hingegen wurden die Veteranen, die in Südostasien dem Alkohol oder Heroin verfielen, wahnsinnig wurden ob der Erinnerungen, der Alpträume, der Schuld, die sie bedrückte. Die »Mehrheit unserer Bevölkerung«, behauptet der demokratische Abgeordnete David Bonior, würde das Vietnam-Drama »am liebsten begraben und die Geschichte ausradieren«.
In diesen Wochen freilich kehrt Vietnam schmerzlich in das Bewußtsein der Nation zurück: Zehn Jahre nach dem Fall Saigons gedenken die Medien des Krieges. Einflußreiche Blätter wie die »Washington Post« oder das »Wall Street Journal«, Nachrichtenmagazine wie »Time« und »Newsweek« drucken dieser Tage Sonderberichte über den Vietnamkrieg und seine Konsequenzen ab. »Vietnam in Amerika« titelte »The New York Times Magazine«. »Die Schande der Niederlage«, so das Blatt, »tritt zurück, die Vietnam-Veteranen verwandeln sich in nationale Helden.«
Jene »Schande« begann Ende April 1975 mit dem offenkundig unangemessenen Weihnachtslied »I am dreaming of a White Christmas«, verbreitet vom Soldatensender AFN in Südvietnam - und ein Ansager erklärte: »Die Temperatur in Saigon beträgt um 40 Grad und wird steigen.«
Das war das offizielle Stichwort für die amerikanische Evakuierung Saigons - den, so Kissinger, »schmerzlichen Exodus«. Die letzten US-Kampftruppen waren schon zwei Jahre zuvor nach langwierigen Verhandlungen zwischen Kissinger und Hanois Unterhändler Le Duc Tho abgezogen worden.
Granaten, Raketen der anrückenden Kommunisten zerschmetterten 1975 nach und nach die Start- und Landebahnen auf den Flugplätzen der südvietnamesischen Hauptstadt und trafen zuletzt auch Gebäude der US-Botschaft. Schließlich konnten die Evakuierungs-Hubschrauber der vor der Küste kreuzenden US-Flotte nur noch vom Dach
eines Wohnhauses auf dem US-Botschaftsgeländes abheben.
Verzweifelte Südvietnamesen durchbrachen an jenem 29. April die Tore der US-Vertretung. Die US-Maschinen waren für sie das letzte verbliebene Fluchtmittel. Und wie der ganze Krieg, so verlief auch der Abzug der Amerikaner chaotisch, würdelos, unmenschlich: Wie bei einem Rückzugsgefecht im Gelände setzten sich die Marineinfanteristen in der Botschaft von Etage zu Etage ab. Sie blockierten die Fahrstühle, rückten Schränke und Stühle vor die Türen, um den Sturm der Zurückgelassenen aufs Dach zu verhindern, und verschwanden schließlich über den Himmel von Saigon.
Die dramatischen Bilder dieser Evakuierung vom Dach trafen die Nation »noch einmal tief in der Seele«, erinnert sich Senator Kerry. Danach aber konnten die USA sich endlich abwenden von dem fernen Desaster, zu erschöpft offenbar, um noch die Schuldfrage stellen zu können. Zehn Jahre später könnte sie noch einmal erhoben werden:
Die politischen Dramen an der Heimatfront werden demnächst in einer TV-Serie nachgezeichnet, die von der Fernsehgesellschaft ABC vorbereitet wird.
Das Magazin »Harpers« berichtet jetzt über »trip wire«-Veteranen, verstörte Ex-Soldaten, die in den unwegsamen US-Staaten Oregon und Washington irgendwo in Hütten oder Zelten in den Bergen existieren, gesichert gegen Störer durch »trip wires«, Stolperdrähte, die Alarmsignale aktivieren.
Die Wochenschrift »People« veröffentlicht derzeit dramatische Vietnamkriegs-Photos und fordert Leser auf, die auf den Bildern erkennbaren Personen zu identifizieren und mitzuteilen, was aus ihnen geworden ist. Die Vietnam-Memoirenliteratur nimmt zu.
In »Bloods«, in dem Schwarze ihre Kriegserinnerungen schildern, berichtet Infanterist Richard Ford über einen Vietnam-Einsatz: »Ich stürmte durch die Tür. Ich hatte sie getroffen. Sie lag über dem alten Mann, so als wollte sie ihn schützen. Er war wohl so um 80 Jahre alt. Sie war sieben. Beide waren tot. Aus Versehen tötete ich einen alten Mann und ein kleines Mädchen in der Hütte. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich.« Derlei Erlebnisse der »grunts«, der »Frontschweine«, blieben den Offizieren erspart. Sie haben heute andere Sorgen - weshalb haben sie verloren?
»Wir haben nicht gesiegt«, argumentiert Admiral U. S. G. Sharp in einer Vietnam-Retrospektive, »weil uns nicht gestattet wurde, mit unserer ungeheuren See- und Luftmacht die entscheidenden Schläge zu führen.« Sharp, von 1964 bis 1968 Befehlshaber der Navy im Pazifik, einschließlich Vietnams: »Ich wollte den Feind dort treffen, wo es schmerzt: im Herzen Nordvietnams.«
Er hat es wohl immer noch nicht begriffen: Amerika wurde nicht von
einem zentral besiedelten, hochindustrialisierten Land besiegt, der sich einem Dauerbombardement gebeugt hätte, sondern von Gegnern, die zum Teil in schwarzen Pyjamas kämpften, die leicht bewaffnet waren und erst in der letzten Phase des Krieges in Panzern einherkamen. Amerikas Lufthoheit, Tausende von Hubschraubern - all das nutzte nichts gegen unsichtbare feindliche Truppen auf Fahrrädern, in Tunnelsystemen und im Dschungel. Selbst Wunderwaffen wie amerikanische »Menschenriech-Geräte« konnten den Feind nicht orten. »Charlie«, der Durchschnittsvietcong, war schlauer als die Tötungsmaschine des Pentagon.
Oberst Harry Summers, der am Washington-nahen »War College«, einer Führungsakademie der US-Streitkräfte, unterrichtet, glaubt sich zu erinnern: »Auf dem Schlachtfeld ist unsere Truppe nie besiegt worden.« Der Offizier analysiert in seinem Buch »On Strategy": »In allen Gefechten wurden die Einheiten der Vietcong und der Nordvietnamesen mit schweren Verlusten zurückgeworfen.« Aber am Ende war das alles egal: Die »Sieger« waren die Besiegten, die Zurückgeworfenen rückten vor. »Wenn die alle gewußt haben, wie falsch die Kriegsführung doch war, warum sind sie dann nicht aufgestanden und haben erklärt: Ich mache nicht mehr mit, dieser Krieg ist nicht zu gewinnen?« kritisiert Kongreß-Abgeordneter John McCain die Pentagon-Kameraden, die heute ihre verlorenen Schlachten am Schreibtisch korrigieren. Kampfpilot McCain war über Vietnam abgeschossen worden und verbrachte fünfeinhalb Jahre in Gefangenschaft.
So konnte er nicht miterleben, wie der ferne Krieg auch in die Gemüter der daheimgebliebenen Zivilisten trat - mit der Gewalt und dem Schrecken von Direktübertragungen aus dem Schlachthaus; nur starben da Menschen, nicht Tiere, es waren Landsleute, nicht Fremde in den allabendlichen Fernseh-Sendungen aus Vietnam. Auch dies war eine Lektion: Als Reagans Truppen auf der Karibik-Insel Grenada landeten, durften - ein Novum der amerikanischen Militärgeschichte - Reporter nicht mit.
Von 1965 bis 1975 hingegen übertrugen US-TV-Gesellschaften rund 4000 Vietnam-Dokumentationen - Bilder von verstümmelten GIs, zerbombten Dörfern, entlaubten Wäldern. Vietnam dominierte die Schlagzeilen und die Photoseiten: Gummisäcke auf den Schlachtfeldern zum Abtransport der Leichen, Särge der Gefallenen in Transportmaschinen, Beerdigungen auf dem Heldenfriedhof zu Arlington. Ein Vietnam-Wort
fiel wie eine Granate in den amerikanischen Alltags-Sprachschatz: »Body Count«, die »Leichenzählung«.
Mit jeder neuen Gefallenen-Statistik wuchs der Widerstand daheim. 1964 hielten noch 43 Prozent den Vietnamkrieg für ein gerechtes amerikanisches Engagement; 1975 waren es schließlich nur noch 20 Prozent. Von 7,5 Millionen GIs, die während der Vietnam-Dekade in Amerikas Streitkräften dienten, desertierten 550 000, um 50 000 mehr, als die Bundeswehr insgesamt Soldaten zählt.
Um das Weiße Haus wurden zum Schutz des Präsidenten städtische Autobusse zu einer Wagenburg zusammengezogen. Zehntausende, Hunderttausende protestierten in Washingtoner Love-ins und Sit-ins. »Der Vietnamkrieg und der Kriegsprotest waren zumindest Katalysatoren für die gesellschaftlichen Umwälzungen und Veränderungen der späten 60er und der frühen 70er Jahre«, urteilt der Soziologe John Wheeler in seinem Buch »Touched With Fire«.
Die alten Normen wurden im Vietnamkrieg aufgebraucht, und der Krieg kam gewissermaßen ins eigene Land - »Gewaltgewöhnung« nannten Sozialpsychologen das, was folgte: Nach dem Attentat auf Martin Luther King, den schwarzen Bürgerrechtler, brannten 1967 die Gettos Amerikas. Nichts war mehr wie früher.
Als »die schlimmste Konsequenz des Vietnam-Konflikts« empfindet der Publizist Theodore White »den Vertrauensschwund der US-Bürger gegenüber ihren Politikern und Regierungen«. Das bis Vietnam oft unkritische Amerika geriet an den Rand eines nationalen Nervenzusammenbruchs. Was Wunder - der Krieg kam auch als Kulturschock einher:
Annähernd drei Millionen GIs, durchschnittlich 19,2 Jahre alt, wurden nach Südostasien abkommandiert, Schwarze aus den Gettos, Jungen von den Farmen in Iowa oder aus den Automobilfabriken in Detroit. In wenigen Jet-Stunden gerieten sie von den Brathuhn-Buden und Drive-In-Kinos der heimatlichen Umgebung in eine fremde Welt. Alkohol und die Heroin-Nadel befreiten sie - vorübergehend - von der Angst vor Minen, vor den Scharfschützen des Vietcong, den Ratten, die ihnen in den Unterständen die Rationen wegfraßen.
Diese GIs waren, so der ehemalige »New York Times«-Reporter Seymour Hersh, der das Massaker von My Lai enthüllt hatte, »letztlich Opfer wie jene, die sie töten sollten«. Als sie von den Gefechten heimkehrten, erhielten sie keinen Dank, wehte kein Konfetti über Siegesparaden wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bürger wollten den Vietnamkrieg vergessen und vergaßen dabei
ihre Veteranen. Gemessen an dem hohen amerikanischen Anspruch, im Ausland ein Held gewesen zu sein, hatten sie versagt.
So suchen denn die Ex-Vietnamkrieger vor allem die Gemeinschaft von Schicksalsgenossen, bleiben unter sich. Sie haben sich in Organisationen zusammengeschlossen wie den »Vietnam Veterans of America« oder den »Eltern der ''Agent Orange''-Kinder«. Unweit des Vietnam-Denkmals in Washington haben sechs Veteranen seit Weihnachten 1982 ein lindgrünes Camping-Zelt aufgeschlagen. Sie verstehen sich als »Ehrenwache«, die an jene mehr als 2400 vermißten Soldaten erinnern soll.
Deren Namen sind zwar bereits in den Granittafeln des Vietnam-Denkmals verewigt worden, doch sie sind mit einem Kreuzchen markiert, ein Kreuz der Hoffnung. »Vielleicht«, glaubt der wachhabende Veteran, der wie seine Kameraden von Spenden existiert, »leben noch welche. Ja, eigentlich bin ich sicher, es leben noch welche«, sagt er, so als müsse er sich selbst ermutigen.
Das Zelt ist von Memorabilien umgeben: alte Kampfstiefel, Flak-Westen, Gasmasken, Helme. Zwei Bambuskäfige sollen daran erinnern, wie über Vietnam abgeschossene Piloten vom Feind gefangengehalten wurden. Vor dem Veteranen-Stand weht noch die Fahne Südvietnams - gelb mit drei roten Streifen. »Das waren unsere Alliierten«, erklärt der treue Veteran, »sie bleiben es.« Aber wie: Der letzte vietnamesische Generalstabschef Saigons diente jahrelang als Oberkellner in einem griechischen Fischrestaurant in Yorktown.
Der große Revisionist Ronald Reagan jedoch holte die Veteranen aus ihrer Isolation; im Mai letzten Jahres wurden nicht mehr zu identifizierende Überreste eines Vietnam-Gefallenen zwischen den Gräbern des Unbekannten Soldaten des Zweiten Weltkrieges und Koreas auf dem Heldenfriedhof zu Arlington beigesetzt.
Der Präsident trat an den Sarg und verkündete der Nation, ein amerikanischer Held sei heimgekehrt: »Er verkörpert das Herz, die Seele, den Geist Amerikas.«
Der platte Heroismus, den der Präsident über den Krieg zu breiten gedenkt, wird indes der historisch genauen Erinnerung derjenigen Soldaten nicht standhalten, die Vietnam entkamen, gesund am Körper vielleicht, doch nicht an der Seele. Senator Kerry etwa, der Patrouillenboote befehligte, erinnert sich an seine Heimkehr in die USA: »Da war ich nun eben eine Woche aus dem Dschungel raus und saß im Flugzeug von San Francisco nach New York. Ich schlief ein und wachte schreiend auf. Wahrscheinlich war es ein Alptraum. Die anderen Passagiere rückten von mir ab.« Kerry ist bis heute verbittert: »Das Land kümmerte sich einen Dreck um die Jungen, die zurückkamen, und das, was sie erlebt hatten. Die Einstellung war: Bleib weg, steck uns nicht an mit Vietnam.«
Tatsächlich sind Hunderttausende (manche Mediziner-Schätzungen reichen bis zu einer Million) erkrankt - dauerhaft: Die Ex-Soldaten leiden an »Post-Traumatic Stress Disorder« (PTSD), dem posttraumatischen Stress-Syndrom.
Angstgefühle und Depressionen befallen diese gestörten Veteranen. Sie leiden an Konzentrationsschwierigkeiten und psychomotorischer Verlangsamung. Sie fühlen sich isoliert, nutz- und wertlos, zuweilen auch bedroht. Manche können ohne Waffe am Bett oder unter dem Kopfkissen nicht schlafen. Oft können sie ihre Wutanfälle nicht kontrollieren. _(Am 29. April 1975. )
Unter Granatschock, Kampfstress, neuropsychiatrischen Erkrankungen haben auch Soldaten im Ersten und im Zweiten Weltkrieg gelitten. Doch Vietnam war anders. Dort nahmen die Stress-Erkrankungen der GIs nicht mit der Intensivierung der Kämpfe zu (wie in vorherigen Kriegen). Erst Monate oder Jahre nach der Entlassung aus den Streitkräften machte sich bei manchem GI das Stress-Syndrom bemerkbar, wie von einem Zeitzünder ausgelöst.
Eine Erklärung der Mediziner: Der Vietnam-Einsatz der US-Soldaten war auf jeweils zwölf Monate begrenzt. Nach der Grundausbildung wurden sie nicht - wie etwa im Zweiten Weltkrieg - als Einheit an die Front verlegt, sondern sie kamen allein, ein zusammengewürfelter Haufen als Ersatz für diese oder jene Truppe, die sich bei Gefechten erst wirklich kennenlernten.
Viele Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg zuweilen gemeinsam mehrere Jahre Frontdienst leisteten, verbrachten hingegen Wochen oder Monate mit ihren Truppeneinheiten auf Schiffen, die sie in das Einsatzgebiet oder nach Hause transportierten. Während dieser langen Reisen vor allem, so eine Studie, »gaben die Männer einander die nötige emotionale Unterstützung und Geborgenheit, um die traumatischen Episoden, die sie zusammen erlebt hatten, aufzuarbeiten«.
Der Vietnam-Krieger jedoch kehrte mit dem Jet von den Reisfeldern nach New York, Chicago oder Miami zurück - allein mit den Erinnerungen, den Alpträumen, den Schuldgefühlen, womöglich abhängig von Heroin, von Alkohol, mit Sicherheit arbeitslos.
»Die Regierung hatte ein exzellentes Team von scharfen Hunden dressiert«, analysiert der Bostoner Psychiater Sheldon Zigelbaum. »Die allerdings kann sie nicht einfach von der Leine lassen, ohne sie zuvor zu deprogrammieren.« Sie konnte es doch.
Im Zuchthaus von San Quentin wartet Larry Webster, wegen »Tapferkeit vor dem Feind« in Vietnam ausgezeichnet, auf seine Hinrichtung. Alkohol, Rauschgift, Einbrüche, kein fester Wohnsitz, keine Arbeit, so hatte sich nach dem Vietnam-Einsatz sein Leben entwickelt. Schließlich bei einem Saufgelage eine Messerstecherei. Ein Toter, ein Prozeß wegen Raubmord, das Urteil. »Nam hat mich hierher gebracht«, sagt Webster, »Nam hat schuld.«
Ex-Hubschrauber-Pilot Robert Mason, von dessen Vietnam-Erinnerung »Chickenhawk« der New Yorker Verlag Viking Press mehr als 350 000 Exemplare absetzte ("Wenn wir Ruhe und Zeit hatten, transportierten wir Gefallene. Die hatten eine geringe Priorität, weil die nicht länger in Eile waren"), wurde 1981 wegen Marihuana-Schmuggels zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Tausende von straffällig gewordenen Veteranen wie Mason kommen von ihren Erinnerungen sowenig los wie jene, deren Gebrechen nicht heilbar sind: 42 771 Veteranen leiden seit ihrem Vietnam-Einsatz an Sehstörungen. 2960 Soldaten sind total erblindet. 4662 Vietnam-Krieger sind doppelt amputiert, 20 956 verloren einen Arm oder ein Bein. 3266 Krieger siechen seit mehr als einem Jahrzehnt in psychiatrischen Anstalten oder Krankenhäusern dahin. Sie sind Pflegefälle, die 24stündiger Versorgung bedürfen. Zwei Dutzend dieser Ex-Soldaten existieren ohne Arme, ohne Beine, extreme Amputationsfälle.
Beinahe täglich berichten Zeitungen über Verhandlungen zwischen Vietnam-Veteranen und den Anwälten mehrerer Chemiekonzerne, die das Chemieprodukt »Agent Orange« herstellten, von dem die US-Streitkräfte über 48 Millionen Liter zur Entlaubung der Wälder Vietnams versprühten.
»Agent Orange« gilt als Krebs-Erreger, offenbar zerstört die Chemikalie Nerven und Leber. Nicht nur GIs, die in den Sprühzonen im Einsatz waren, auch deren Kinder sind heute betroffen. Hunderte hatten Schäden von Geburt an, zuweilen ein Jahrzehnt nach dem Vietnam-Einsatz ihrer Väter.
190 Millionen Dollar wollen die Chemiekonzerne, die jede Schuld bestreiten, für die Veteranen bereitstellen. Höchstens 25 000 Dollar pro Person sollen die Angehörigen von 3000 bereits verstorbenen Veteranen und jene 7000 mit fortgeschrittenen, dauerhaften Schäden in bar erhalten. Das übrige Geld wird vermutlich in eine Stiftung zugunsten der »Agent Orange«-Kranken eingebracht.
Eines der Opfer: Elmo Zumwalt III. Er leidet an Lymphdrüsen-Krebs. Obwohl auch sein Sohn Russell Geburtsschäden
aufweist, fordert Veteran Zumwalt keinen Schadenersatz. Sein Vater Elmo Zumwalt II. war »damals« Admiral. Er hat den Einsatz der Chemikalie in jenem Gebiet befürwortet, in dem Zumwalt III. in Vietnam diente.
Der Ex-Admiral ist überzeugt: »Selbst wenn eine Beziehung zwischen ''Agent Orange'' und den Krankheiten nachgewiesen werden könnte, muß ich zu dem Schluß kommen, daß viele Männer heute wegen ''Agent Orange'' davongekommen sind, möglicherweise auch mein Sohn.« Davongekommen, aber nicht verschont.
Vielleicht aber bedurfte es sogar des heroisierenden Stimmungsumschwungs, des verspäteten Vietnam-Enthusiasmus Ronald Reagans, daß auch die Schattenseite der Vietnam-Erfahrungen wieder vorgeführt werden:
Seit Wochen ist »Tracers«, Leuchtspurmunition, ein von Vietnam-Veteranen geschriebenes, von Ex-GIs gespieltes Theaterstück, im New Yorker »Susan Stein Shiva«-Theater ausverkauft. Auf der Bühne wird die Wandlung dokumentiert, die in Uniformen gezwängte Zivilisten in Vietnam durchlebten.
Eine Szene zeigt, wie GIs einen ihrer Kameraden überreden wollen, einen »joint« zu ziehen. Der wehrt sich: »Vor Vietnam habe ich nie Haschisch geraucht.« Antwort: »Vor Vietnam hast du auch noch niemanden erschossen.«
Erst Bühnenstücke wie »Tracers«, Filme wie »Coming Home«, in dem das Elend kriegsversehrter Heimkehrer dokumentiert wird, oder »Deer Hunter«, in dem von drei nach Vietnam abkommandierten Freunden einer stirbt, ein zweiter zum Krüppel wird, haben die wahre Nachkriegskatastrophe in das Bewußtsein zurückgebracht.
»Allmählich und mit ausreichender Distanz«, glaubt David Fuhrmann, Leiter eines »Vietnam-Kursus« an der Washingtoner »Johns Hopkins University School of Advanced International Studies«, werde nun auch an den Hochschulen »eine objektivere, sachlichere Wertung der Kriegsgeschichte möglich«.
Vor zwei Jahren noch offerierten nur zwei Dutzend von Tausenden amerikanischer Universitäten und Colleges Kurse zum Thema Vietnam. Inzwischen sind es mehrere Hundert. An der University of California in Santa Barbara etwa belegten in diesem Semester 900 von 15 000 Studenten den Kursus »Vietnam und Amerikas Religion - sein Einfluß auf Amerikas gesellschaftliches, kulturelles und religiöses Leben«.
Einige Professoren arbeiten im Unterricht mit der 1983 vom pädagogischen »Public Broadcast« ausgestrahlten 13teiligen Serie »Vietnam: Eine Fernsehgeschichte«. Andere lassen vietnamesische Flüchtlinge über den Krieg berichten oder Offiziere und Kriegsgegner über das vietnamesische Drama debattieren.
Doch auf Vietnamkriegs-Fragen antworten die meisten in der Vietnamkriegs-Dekade geborenen Schüler mit großer Naivität: My Lai? »Nie gehört.« Tet-Offensive? »Gegen wen?« Ho Tschiminh? »Ein Reisgericht?« Ihr Wissen beschränkt sich auf Banales: »In Vietnam haben wir gegen Kommunisten gekämpft. Die Kommunisten sind das Böse. Also war der Krieg gerecht.«
Bei einem derartigen Wissensstand, fürchtet Historiker Schlesinger, »wird das Weltbild des Ronald Reagan auf viele junge Amerikaner zwangsläufig überschwappen«. Fast scheint es schon soweit: Während des Vietnamkrieges konnte kaum ein Rekrutierungsoffizier der Streitkräfte - ungefährdet - in Uniform ein Universitätsgelände betreten. Das hat sich geändert. Unter den Jungen ist das Militär wieder populär.
Vor einem Jahrzehnt noch wagten die Rekruten der im US-Staat New York angesiedelten Armee-Akademie West Point kaum je einen Ausflug in die malerische Umgebung des Hudson River. Für den Lehrgang, der 1968 begann, reichten die Rekruten nicht einmal aus, alle Klassen zu füllen. Heute registriert West Point jährlich 14 000 Bewerber. Davon werden 1400 akzeptiert.
Eine einheitliche West-Point-Meinung über das Engagement in Südostasien existiert in der Eliteschule allerdings nicht. Hauptmann William Betson, einer der »Vietnam«-Lehrer: »55 Offiziere unterrichten hier Geschichte, und jeder hat seine eigene Meinung.«
Die Lehrer, mehrheitlich Hauptleute und Majore, haben in Vietnam nicht gedient. Ihre Vorgesetzten, wie beispielsweise Oberst John Yeagley, der ein Jahr in Vietnam verbrachte, sind überzeugt: »Die Rekruten interessieren sich mehr für den Zweiten Weltkrieg als für Vietnam.«
Dabei hätte der Militär-Nachwuchs allen Grund, Lehren aus dem Vietnam-Debakel zu ziehen. Denn einmal mehr stehen mehrere hundert US-Berater im Dschungel. Statt in Vietnam diesmal in Zentral-Amerika.
Einmal mehr rücken CIA-Beamte mit Dollar und Waffen an, um auf Befehl des Präsidenten einem fremden Volk zu »helfen«, denen aus Präsidenten-Sicht »eine kommunistische Tyrannei durch Gewalt, Täuschung und Betrug aufgezwungen wurde«.
Auf das Konto der CIA in Vietnam geht die Operation »Phoenix«, eine Mordkampagne mit mehr als 10 000 Opfern. Vielleicht sind es aber auch die Erinnerungen an diese dunkelsten Seiten des Vietnamkrieges, die dafür sorgen, daß 70 Prozent der Amerikaner es ablehnen, an einem Umsturzversuch in Nicaragua beteiligt zu sein.
Seit mehreren Wochen sperrt sich der Kongreß gegen weitere Finanzhilfe für die »Contras«, die im Auftrag der Reagan-Administration und stellvertretend für GIs gegen das Managua-Regime kämpfen. Etwa 20 der 435 Abgeordneten sind Vietnam-Veteranen, 3 der 100 Senatoren haben in Südostasien gekämpft. Senator Kerry: »Der Kongreß ist gegenüber weiteren Abenteuern superempfindlich geworden.«
»Irgendwas haben wir als Nation vielleicht in Vietnam gelernt«, sagt Autor Seymour Hersh: »Wir sind mit dem Finger nicht mehr so schnell am Abzugshebel. Wir scheinen begriffen zu haben, daß Kriege nicht allein mit Panzern und Artillerie zu gewinnen sind.«
Der Krieg in Vietnam war von Anfang an verloren. Das ist es, was noch heute nicht hingenommen wird. Amerika sucht noch immer nach dem Sinn: Irgend etwas war schiefgelaufen, irgend etwas stimmte nicht, irgend etwas fehlt bis heute, um jene Frage vom Hackfleisch-Hügel gültig für immer zu beantworten: »Vietnam - war es das wert?«
Präsident Reagan auf dem Soldaten-Friedhof Arlington am 28. Mai1984.Bei der Evakuierung aus Hue während der Tet-Offensive 1968.Am 29. April 1975.