Vietnam Die Ziele der dritten Offensive
In verlassenen Häusern stöbern Soldaten nach Mitnehmenswertem, durch die leeren Straßen streunen Hunde. Dong Ha, Südvietnams nördlichste Stadt, zählt nur noch zwei zivile Einwohner: hochschwangere Frauen, deren Zustand eine Flucht unmöglich machte.
Saigons Soldaten, die Dong Ha verteidigen sollten, waren davongestoben, als vor fast drei Wochen die Panzerspitzen einer kommunistischen Großoffensive auftauchten. Die Verteidiger waren Einheiten der 3. Division gewesen, der verrufensten in der südvietnamesischen Armee. Sie rekrutierte sich vornehmlich aus Zwangseingezogenen, ehemaligen Deserteuren und Häftlingen.
Einer ihrer Regimentskommandeure verschwand bei der ersten nordvietnamesischen Angriffswelle. Über sein Schicksal gibt es, je nach Standort, drei Versionen: Die südvietnamesische Regierung verlautbarte, er habe Selbstmord begangen, weil er seine Stellung nicht halten konnte. Hanoi meldete, der Kommandeur habe sich »die Sache des Volkes zu eigen gemacht« -- er sei übergelaufen. Südvietnamesische Soldaten behaupten, er sei von seiner eigenen Truppe umgelegt worden, als er sie an der Kapitulation hindern wollte.
Die Widersprüche um den Tod dieses Obersten sind symptomatisch für die Lage in Südvietnam nach drei Wochen kommunistischer Offensive. Die Lage an den Fronten war verworren, Sieges- und Katastrophenmeldungen kreuzten sich. Auf die Frage, was die nordvietnamesischen Angreifer wollen und was die südvietnamesischen Verteidiger können, gab es keine schlüssige Antwort, bloß Mosaiksteine -- die jedenfalls sprechen dagegen, daß die von Amerika betriebene »Vietnamisierung« des Vietnamkriegs ein Erfolg ist.
im Stützpunkt Phu Bai nahe der bedrohten alten Kaiserstadt Hué weigerten sich 50 Soldaten der 196. US-Infanteriedivision stundenlang, einen Befehl zum Ausrücken zu befolgen. »Zu gefährlich« argumentierten die Männer. die nicht einsehen wollten, weshalb sie »wegen eines Haufens Dinks« -- GI-Schmähwort für Vietnamesen -- ihr Leben riskieren sollten. Erst als ein Oberst sich in einem Jeep an die Spitze setzte, bestiegen die Soldaten bereitstehende Lkw.
Saigons Befehlshaber im Norden, General Lam, triumphierte letzte Woche. der Elan des nordvietnamesischen Angriffs in diesem Raum sei gebrochen. Zuvor hatte er die Vernichtung von 41 feindlichen Panzern bekanntgegeben. »Da kann ich kaum noch lachen«. kommentierte ein schwarzer US-Sergeant diese Zahl gegenüber SPIEGEL-Korrespondent Tiziano Terzani. »Ich war dabei. Wenn wir fünf von denen erledigt haben, ist es viel.«
Und zwei erbeutete T-54-Panzer. die Südvietnams Militärs stolz in Hué ausstellten, erzielten auch nicht den gewünschten Propaganda-Erfolg. Skeptische Vietnamesen folgerten daraus nur, daß die Sowjets ihre Verbündeten offenbar besser ausrüsteten als die USA die Südvietnamesen.
Immerhin schien die Beweglichkeit der motorisierten Verbände Hanois im Norden unter Nachschub-, besonders Treibstoffschwierigkeiten zu leiden: Das Offensivgebiet wurde zur Freien Feuerzone erklärt, US-Geschwader belegten es pausenlos mit Bombenteppichen. Dennoch ist Hué nach wie vor bedroht, zwei wichtige Verteidigungsstellungen vor der Stadt sind eingeschlossen.
Nahe der Hauptstadt Saigon schien der Schwerpunkt des kommunistischen Angriffs zu liegen. Bis zum letzten Freitag tobte der Kampf um die Provinzhauptstadt An Loc, mitten zwischen Kautschukplantagen 100 Kilometer nördlich von Saigon gelegen. etwa unentschieden. Präsident Thieu hatte seinen Soldaten befohlen, die Stadt zu halten, komme was da wolle. Zum Entsatz schickte er seine letzten Reserven, darunter Einheiten der eigenen Palastwache, die Nationalstraße 13 entlang nach Norden.
US-Berater General Hollingsworth, der die Entsatz-Kolonne begleitete (und de facto befehligte), sah den Feind freilich zu früh in Stücke gehauen: »Die Nordvietnamesen hatten vor, eine Provinz und eine Provinzhauptstadt zu erobern, dabei sind sie kläglich gescheitert.« Und: »Wir löschen sie aus, und das macht mich glücklich.«
Doch Mitte letzter Woche blieb die Entsatz-Streitmacht noch gut 20 Kilometer vor An Loc im feindlichen Feuer stecken und kämpft seither ums eigene Überleben. Am Donnerstagmorgen drangen nordvietnamesische Panzer und Infanteristen in die Stadt ein, besetzten ihre Nordhälfte samt dem Flugplatz. Im Südteil leisteten die eingeschlossenen Südvietnamesen erbitterten Widerstand, während B-52-Bomber die Umgebung von An Loc mit Bombenteppichen umpflügen.
Nach der dritten Woche ist jedenfalls nirgendwo ein Ende der Offensive Hanois abzusehen -- deren Beginn Südvietnamesen und Amerikaner trotz aller Vorhersagen wieder einmal völlig überrascht hatte:
Unbemerkt von der US-Luftaufklärung. unentdeckt von elektronischen Spürgeräten waren Panzer und Lastwagen, Geschütze und Raketen vom Norden und Westen her nach Südvietnam gerollt. Als nordvietnamesisches Trommelfeuer den Angriff einleitete, weilten Washingtons zivile und militärische Statthalter in Saigon außer Landes: ]Botschafter Bunker besuchte gerade seine Frau, Diplomatin im nepalesischen Kathmandu, Oberbefehlshaber General Abrams erholte sich in Bangkok.
Washington wechselte daraufhin nicht nur seinen Luftwaffenchef in »Vietnam aus -- General Vogt. ein enger Berater des Präsidenten Nixon, trat an die Stelle General Lavelles -, die Amerikaner mußten die »Vietnamisierung« des Krieges zumindest in der Luft zurücknehmen.
In den letzten Monaten hatte die Luftwaffe Südvietnams -- von den USA mit mehr als tausend Maschinen ausgerüstet -- neun Zehntel der Angriffe geflogen. Seit Beginn der Offensive brachten die Amerikaner in Eilflügen aus Japan, Guam, Okinawa, Korea und den Staaten Hunderte bereits abgezogener Maschinen wieder nach Indochina zurück. Sie fliegen wieder über zwei Drittel aller Angriffe -- und riskieren dabei mehr denn je (siehe Kasten).
Die Nordvietnamesen riskieren allenfalls große Verluste -- die sie, wie die Tet-Offensive von 1968 zeigte, noch nie gescheut haben. Die USA aber mußte nicht nur neue, bereits abgezogene Luftwaffen- und Marine-Einheiten von neuem in den Kampf werfen, Nixon überlegt sogar einen vorübergehenden Stopp des Abzugs von Bodentruppen, was aber auch nur den Wert einer Geste hätte: Von den verbliebenen knapp hunderttausend Gis sind noch ganze 7000 zum Kampfeinsatz geeignet.
Südvietnams Millionenheer, von dem einem durchaus ernst zu nehmenden Spottwort zufolge 950 000 als Brückenwachen gebraucht werden, kann, das haben die bisherigen Kämpfe gezeigt, allein den Nordvietnamesen nicht standhalten.
Präsident Thieu ist gezwungen, seine letzten Reserven je nach Gefechtslage zwischen den Fronten im Norden, im Hochland und nahe Saigon hin- und herzuwerfen -- eine Hufs-Taktik, die fatale Wirkungen haben kann: Aus dem seit der Tet-Offensive weithin befriedeten Mekong-Delta, in dem die Hälfte aller Südvietnamesen wohnt, wurden alle mobilen Verbände abgezogen. Nordvietnamesen und Vietcong haben faktisch freie Hand, ihre verlorenen Strukturen zu erneuern, Vietnams Reiskammer wieder in ihre Hand zu bekommen.
So kann Hanois dritte große Offensive -- nach der von 1964/65 und jener von 1968 -- doch die »Entscheidungsschlacht« werden, als die Saigon-Präsident Thieu sie von Anbeginn sah. Denn die Nordvietnamesen greifen nicht nur in Südvietnam an, wann und wo sie wollen, sie »zerreißen auch Laos und Kambodscha« -- so der amerikanische Stabschef Admiral Moorer in einer offenbar realistischen Einschätzung der Situation.
Militärisch gesiegt hatten die Divisioren Hanois auch in keiner der vorangegangenen Großangriffe, doch die Gesamtwirkung war jedesmal entscheidend: Die Offensive von Ende 1964, verbunden mit politischem Aufruhr in Saigon, brachte über 500 000 US-Soldaten nach Vietnam. Die Tet-Offensive von 1968 verleidete den Amerikanern das Vietnam-Abenteuer und führte zum Beginn des Abzugs. Die Oster-Offensive dieses Jahres enthüllt die Schwäche der »Vietnamisierung« des Krieges.
US-Präsident Nixon, wegen seiner bevorstehenden Moskau-Reise und »der Präsidentenwahl in Zeitnot, könnte, so mag Hanoi kalkulieren, durchaus zu rascheren und weitreichenderen Konzessionen bereit sein als bisher und Saigon (loch noch fallen lassen.
Ende letzter Woche wurde bekannt, daß der US-Präsident, der die Pariser Vietnamgespräche abbrach und neue Bomber geschickt hatte, den Nordvietnamesen einige Tage später streng geheim neue Verhandlungsangebote machte.