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GRIPPE-EPIDEMIE Viren aus Singapur

aus DER SPIEGEL 27/1957

Die Zentrale der »Weltgesundheitsorganisation« (WHO) in Genf gleicht in diesen Tagen mehr denn je dem Hauptquartier einer kriegführenden Macht. Auf wandgroßen Weltkarten kennzeichnen farbige Fähnchen den Verlauf der Hauptkampflinie, und Fernschreiber übermitteln beinahe pausenlos Nachrichten von der Front. Der Genfer Gesundheits-Generalstab, in dem mehr als achtzig Staaten der westlichen und östlichen Welt vertreten sind, dirigiert einen weltweiten Abwehrkampf gegen einen neuen unsichtbaren Gegner: den Erreger der »Asiatischen Grippe«.

Dieser Feind, der nur unter dem millionenfach vergrößernden Elektronen -Mikroskop zu erkennen ist, war zum erstenmal vor rund sechs Monaten in Nordchina aufgetaucht. Von dort aus zog er in Milliardenheeren, unaufhaltsam wie eine Wetterfront, nach Süden:

- Im Februar meldete Schanghai die ersten Grippefälle.

- Im März hatte die Epidemie Kanton erreicht.

- Im April wurden in Hongkong die ersten Grippekranken registriert.

In einem Monat erkrankten in der fernöstlichen britischen Kronkolonie mehr als eine halbe Million Menschen, 44 starben. Im Mai rollte die Grippewelle mit voller Wucht weiter, verzweigte sich und überdeckte fast sämtliche Staaten Südostasiens:

- Auf Formosa infizierten sich rund zwei Millionen Menschen, 66 starben.

- In Japan wurden etwa zweieinhalb Millionen Grippefälle registriert.

- Die Gesundheitsbehörden der Philippinen-Republik meldeten mehr als 1 600 000 Fälle und 1200 Tote.

- In Malaya und Singapur wurden 500 000 Menschen angesteckt.

- In Indonesien erkrankten fast zwanzig Prozent der Bevölkerung.

Ende Mai mußte die Genfer Weltgesundheitszentrale eine Bilanz ziehen, die sich nicht gerade hoffnungsvoll ausnahm: Die Grippe-Epidemie, die in Asien ausgebrochen war, schien sich zu einer neuen Pandemie auszuwachsen, zu einer weltweiten Krankheitswelle. Und: Alle Versuche. Menschen in den unmittelbar von der Grippe bedrohten Gebieten durch Schutzimpfung gegen die Krankheit immun zu machen, blieben erfolglos. Impfstoffe, die sich bei früheren Grippe-Epidemien bewährt hatten, schienen gegen die neue Grippewelle keinen Schutz zu bieten, obwohl sich das Krankheitsbild der Asiatischen Grippe kaum von dem der früheren Grippe-Epidemien unterschied.

Eine Erklärung für dieses Rätsel fanden schließlich die Grippeforscher, als es ihnen gelang, den Erreger der »Asiatischen Grippe« - ein Virus - zum erstenmal zu isolieren. Sie stellten fest, daß der Erreger zwar einem der bis dahin erkannten und in drei Gruppen unterteilten Grippe-Erreger ähnelt: dem Grippe-Virus. Typ A. Aber offensichtlich gehörte der Erreger der Asiatischen Grippe einer neuen, unbekannten Untergruppe an.

Die Viren dieser Untergruppe, die sogleich mit der wissenschaftlichen Bezeichnung »Virus A Singapur/1/57« bedacht wurden, sind infolge einer Mutation, einer sprunghaften Veränderung ihrer biologischen Struktur, anders aufgebaut als ihre Stamm-Eltern vom Grundtyp A. Deshalb kann auch ein Impfstoff, der gegen den Virustyp »A« entwickelt worden ist, nicht mehr gegen das »Virus A Singapur« schützen.

Sobald es gelungen war, das Singapur-Virus zu isolieren, leitete die Weltgesundheitszentrale eine Blitzaktion ein. Ein Flugzeug brachte das Virus nach London zum »Welt-Grippe-Institut«, der wissenschaftlichen Zentrale im Abwehrkampf gegen die Asiatische Grippe.

In London injizierten die Virologen des Welt-Grippe-Instituts sogleich das »Virus Singapur« in angebrütete Hühnereier, damit er sich in dieser idealen Brutstätte millionenfach vermehre. Schon wenige Tag später konnten die in den Hühnereiern gezüchteten Erreger an die 57 Grippeforschungsinstitute versandt werden, die der Weltgesundheitsorganisation angeschlossen sind. In 46 Ländern machten sich Forscher an die Arbeit, um einen Impfstoff gegen die Grippe des Virus Singapur herzustellen.

Die Grippewelle überrollte indessen weitere Gebiete. Durch zehn Grippekranke an Bord des amerikanischen Truppentransporters »General Daniel I. Sultan« erreichte sie Kalifornien; gleichzeitig breitete sie sich mit unheimlicher Geschwindigkeit in den hygienisch unterentwickelten Regionen Indiens aus und wandte sich über Pakistan auch in Richtung Europa.

Aber noch ehe die Krankheit bis in die vorderasiatischen Grenzländer Europas vorgedrungen war, meldete der Hafenarzt von Rotterdam den ersten europäischen Fall der Asiatischen Grippe, und wenig später gab die WHO bekannt: »Das Virus Singapur ist mit Sicherheit in den Niederlanden festgestellt worden.« Seereisende hatten, auf einem Dampfer von Djakarta kommend, den Krankheitserreger in Europa eingeschleppt.

Die Virologen nahmen die Meldung resigniert zur Kenntnis. Sie glauben, daß sich das Vordringen des Singapur-Virus nach Europa ohnehin nicht hätte verhindern lassen. Denn die Virus-Grippe zählt als »leichtere Erkrankung« nicht zu den Krankheiten, die eine genügend lange gesetzliche Quarantäne für alle verdächtigen See- und Luftreisenden rechtfertigen. Außerdem, so meinen die Grippeforscher, sei in Europa der Sommer keine »Grippesaison«; wenn auch das Singapur-Virus vereinzelt auftrete, so müsse es deshalb nicht unbedingt eine Grippe-Epidemie geben.

Die Grippeforscher glauben auch nicht, daß die Asiatische Grippe im Augenblick für Europa so gefährlich ist wie etwa die Grippe-Epidemie nach dem ersten Weltkrieg. Damals, zwischen 1918 und 1920, forderte die »Spanische Grippe« mehr als

zehn Millionen Todesopfer. Die Virologen hoffen, daß die Asiatische Grippe sich auch nicht so beängstigend auswirken wird wie die Grippewelle des Jahres 1953, die in Frankreich ein Drittel der Bevölkerung erfaßte und 18 000 Menschen tötete, in England vier Millionen infizierte (4000 Todesfälle) und in Deutschland zwei Millionen Menschen traf.

Der niederländische Professor Mulder von der Universität Leyden hat darüber hinaus vor kurzem entdeckt, daß mindestens die älteren Europäer gegen das Virus der Asiatischen Grippe sehr wahrscheinlich bereits immun sind. Bisher nahmen die Forscher an, daß sich infolge von Mutationen - also sprunghaften biologischen Strukturveränderungen - stets neue Virusstämme aus den Grundtypen A, B und C des Grippe-Erregers bilden, die dann in ziemlich regelmäßigen Abständen eine Epidemie auslösen. Jetzt scheint sich jedoch eine andere Theorie vom Epidemiecharakter dieser Krankheit zu bestätigen.

Eine Grippe-Epidemie, so viel wissen die Forscher seit langem, Ist gleichbedeutend mit der Infizierung und Immunisierung beinahe aller Menschen des betroffenen Gebietes; denn während einer solchen Epidemie sind so viele Viren in der Atemluft enthalten, daß fast jeder Mensch angesteckt wird. Aber nur ein Teil der Infizierten wird wirklich krank und durchlebt die Stadien einer Grippe (tagelang anhaltende schwere Kopfschmerzen, Entzündungen im Nasen- und Rachenraum, Husten, Fieber, Muskelschmerzen, allgemeine Schwäche - Komplikation: Kreislaufschäden, Lungenentzündungen usw.).

Doch auch im Körper der Nicht-Kranken bilden sich Abwehrstoffe ("Antikörper"). Am Ende einer Grippe-Epidemie sind also rast alle Menschen des betroffenen Gebietes infiziert und - gleichgültig, ob sie bemerkten, daß sie grippekrank waren oder nicht - gegen den speziellen Erreger dieser Epidemie immunisiert.

Bei der Arbeit an einem Impfstoff gegen die Asiatische Grippe entdeckte nun der Grippeforscher Mulder im Körper von Testpersonen, die älter als siebzig Jahre waren, Abwehrstoffe gegen das kurz vorher identifizierte, vermeintlich neue Virus Singapur.

Professor Mulder kombinierte: Wenn es in Holland heute Menschen gibt, die in ihrem Blut Abwehrstoffe gegen das Virus Singapur haben, dann kann das nur bedeuten, daß der Erreger der Asiatischen Grippe gar kein neues Virus ist. Das gleiche Virus - »Singapur/1/57« - muß schon einmal Ursache einer epidemischen Grippe in Holland gewesen sein.

Aus dem Alter seiner Patienten und aus den Berichten über Grippe-Epidemien im 19. Jahrhundert zog Professor Mulder den Schluß: Das Virus »Singapur/1/57«, von dem die Forscher zunächst glaubten, es habe sich erst in jüngster Zeit irgendwo in China entwickelt, ist wahrscheinlich identisch mit dem Virus, das die europäische Grippe-Epidemie des Jahres 1889 verursacht hatte.

Eine neue Grippe-Theorie

Die Zentrale der Weltgesundheitsorganisation in Genf, der Professor Mulder von seiner Entdeckung berichtete, bat sofort die Grippeforschungsinstitute in aller Welt, bei der Überprüfung der Hypothese des holländischen Professors mitzuhelfen. Möglicherweise können die Virusforscher mit den Ergebnissen des Professor Mulder eine Virustheorie erhärten, die etwa besagt, daß sich die Mutationen der Grippeviren in einem regelmäßigen Zyklus von 50 bis 70 Jahren wiederholen und daß also in diesem Rhythmus immer wieder die gleichen Krankheitserreger auftreten.

Ein solcher Beweis könnte die Herstellung eines Impfstoffs beschleunigen, der gegen alle Formen und Abarten der Grippe schützt. Damit würde eine Wiederholung der gegenwärtigen Misere - daß nämlich eine Grippewelle einsetzt und die vorhandenen Impfstoffe versagen - verhindert werden können.

Da allerdings noch einige Zeit vergehen wird, ehe Professor Mulders Entdeckung wissenschaftlich überprüft ist, arbeiten die Virusforscher überall in der Welt unter Anleitung der Weitgesundheitszentrale noch eifrig an der Herstellung eines Impfstoffs, der speziell gegen die Asiatische Grippe wirken soll.

Aus Amerika wurde der Weltgesundheitszentrale vor wenigen Tagen ein erster Erfolg gemeldet: Das Viruslaboratorium eines amerikanischen Arzneimittelwerkes hat im Auftrag der US-Armee bereits einen Impfstoff entwickelt, der Schutz vor der sogenannten Asiatischen Grippe bieten soll. Aber bis zum Herbst - dem Beginn der Grippesaison in Amerika und Europa - glauben die amerikanischen Impfstoff-Fabrikanten lediglich vier Millionen Einheiten dieses Vakzins herstellen zu können, eine Menge, die eben ausreichen würde, »die amerikanische Armee zu impfen«.

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