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SCHULEN / SEXUALERZIEHUNG Virtuosen der Liebe

aus DER SPIEGEL 43/1968

»Unterricht, wie Sie ihn wünschen«, beschied Anfang April der Hamburger Oberschulrat Dr. Brüggemann einige Schüler, die zeitnahe Sexualaufklärung forderten, »werden wir vielleicht im Jahre 2000 haben.«

Doch nun sollen sie solche Sex-Stunden im nächsten Jahr bekommen.

Einstimmig beschloß Anfang Oktober die Kultusministerkonferenz (KMK), daß fortan von Flensburg bis Konstanz bundeseinheitlich Sex mit deutscher Gründlichkeit gelehrt wird. Die KMK-»Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen« gleichen einem Katalog der Lüste und Laster: Von kindlicher Masturbation bis zur senilen Triebverirrung reicht -- säuberlich gegliedert -- das Bildungsangebot.

»Wissenschaftlich fundiert« sowie »methodisch durchdacht« soll, so empfehlen die Kultusminister, fortan die Sexualerziehung sein. Sie beginnt beim Abc-Schützen, merzt sogleich die womöglich noch vorhandenen Klapperstorch-Legenden aus und steckt das erste Ziel: Nach dem ersten Schuljahr sollen »alle Kinder den Unterschied der Geschlechter kennen« und wissen daß Menschen im Mutterleib entstehen.

Dem zunehmenden Alter und der wachsenden Neugier der Kinder entsprechen die sexuellen Tatbestände. über die sie sodann nach dem ministeriellen Stufenplan aufgeklärt werden: >ln den ersten sechs Schuljahren werden Zeugung, Schwangerschaft, Geburt, Pubertät, Menstruation und Pollution behandelt.

* Im siebenten bis neunten Schuljahr werden verfrühte Sexualbetätigung, Masturbation, Empfängnisverhütung, Prostitution, Homosexualität, Notzucht, Abtreibung, Kuppelei und Triebverbrechen erörtert.

* Vom zehnten Schuljahr an werden die gewonnenen Liebeslebens-Kenntnisse vertieft, aber auch sexuelle Anomalien wie Exhibitionismus und Blutschande erklärt, sofern die Schüler danach fragen. Ein eigenes Fach mochten die Kultusminister für die Liebes-Lehre freilich nicht schaffen. Sie verordneten Sex in Dosen, der vor allem im Biologieunterricht, aber auch im Deutschunterricht, in Gemeinschaftskunde wie in Religion verabreicht werden soll.

Der Entschluß der Kultus-Chefs, der Jugend über Sex »ein sachlich begründetes Wissen« zu verschaffen, kam spät und unter Druck zustande. Denn längst und vielerorts erteilen sich die Schüler bereits sexuellen Selbstunterricht -- oft mit Vokabeln, die sie nicht im Unterricht gelernt haben.

Unter der Devise »Vögeln statt Turnen » proklamierten zum Beispiel Schüler der hessischen Provinzstadt Homberg eine Gegenschule, weil »die traditionelle Schule die schönsten und wichtigsten Sachen unterschlägt«. Einziges Fach: Sex.

Berlins Unabhängige Schülergemeinschaft gründete ein Sex-Seminar und gab die Parole aus: »Make love -- not babys!« Aus Baden-Baden kam per Schülerjournal »Ça ira« der Leitsatz:« Ihre Interessen, Schüler und Schülerinnen, sind mit Recht dort, wo sich Ihr Körper meldet, nämlich bei Ihrem Unterleib.« Und ein Schulblatt im württembergischen Waiblingen versicherte: »To masturbate is human.«

Doch es gab auch ernsthafte Versuche, um die von den Schulen gescheute Aufklärung zu verbreiten. So bewies ein »Jugendseminar für Geschlechtserziehung«, das vor einigen Monaten von der Humanistischen Union in der Münchner Universitätsklinik veranstaltet wurde, wie groß das Bedürfnis der Jugend nach qualifizierter Aufklärung ist. An allen fünf Vortragsabenden war der Hörsaal überfüllt.

Ob und in welchem Umfang Schüler von Lehrern aufgeklärt wurden, hing bislang davon ab, in welchem Bundesland sie leben und lernen.

Detaillierte und verbindliche Richtlinien für Sexualerziehung gibt es nur in Berlin (seit 1962) und in Hessen (seit 1967). Sie sind entschärfte Kopien des schwedischen Modells, nach dem dort die Jugend schon seit 13 Jahren über die Grundgesetze der Zweisamkeit ebenso selbstverständlich unterrichtet wird wie über die Grundregeln der Grammatik.

In den meisten Bundesländern wagten die Minister nicht so präzise zu werden und in ihren Weisungen so weit zu gehen. In Schleswig-Holstein sind die Lehrkräfte lediglich gehalten, »in Einzelfällen ihre Mithilfe in der Sexualerziehung nicht (zu) versagen«. In Nordrhein-Westfalen wurde festgelegt, »die Einführung in die Schöpfungsgeheimnisse« sei »in erster Linie Sache der Eltern« und solle nur »bei deren Versagen oder auf deren ausdrücklichen Wunsch von der Schule übernommen werden«. In Hamburg gibt es »Leitworte« für Lehrer wie dieses: »Bei auftretender Onanie wende man sich gegen bewußte Zuchtlosigkeit, gegen das schädliche Übermaß und das schlechte Beispiel.«

Ganz ohne Sex-Direktiven blieb der Lehrkörper in Bremen, im Saarland, in Rheinland-Pfalz und in Bayern -- zu Recht nach Meinung Hugo Zirmgibls, des früheren Vorsitzenden des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenvereins. Denn, so Zirmgibl: »Unterricht dieser Art ist die große Aufgabe der Eltern«, die man »den Lehrern nicht zumuten kann«.

Doch neuerdings -- seit einem halben Jahr -- folgt das bayrische Kultusministerium eher einer Devise, die der Münchner Psychologe Dr. von Xylander ausgegeben hat: »Klärt eure Buben und Mädchen auf! Laßt sie als Virtuosen der Liebe ins Leben gehen!«

Zwei Drittel der Eltern sind, wie gleichlautende Umfrage-Ergebnisse beweisen, zu dieser Aufklärung weder willens noch in der Lage. Und jetzt haben die Kultusminister die Aufgabe endgültig den Lehrern zugewiesen. Der Leiter des bayrischen »Arbeitskreises für Sexualerziehung«, Dr. Otmar Bohusch, ist denn auch auf der Suche nach geeigneten Sexualerziehern. Bohusch: »Das ist jetzt unser Hauptproblem.«

Es ist ein Bundes-Problem, denn vorerst sind nur wenige Pädagogen geneigt und befähigt, mit Halbwüchsigen über Intim-Details zu reden. Daher riet die Kultusministerkonferenz zu Lehrer-Lehrgängen für den Sex-Unterricht und ordnete an: »Die Lehrerbibliotheken müssen mit der einschlägigen Literatur ausgestattet werden.«

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