»VÖLKER KÖNNEN NICHT VERGESSEN«
Der feierliche Schimmer der Kerzen,
die Levi Eschkols Speisetafel zierten, fiel auf böse Gesichter. Sooft sich die braune Schiebetür, die das Eßzimmer der bescheidenen Residenz des israelischen Ministerpräsidenten in Jerusalems Ben Mayom Allee 44 abschließt, einen Spaltbreit öffnete, erkannten die im Salon ausharrenden Ehrengäste, daß Konrad Adenauers erstes Gastmahl auf israelischem Boden eher so verlief, als werde es sein letztes sein.
Auf neun Uhr abends am Dienstag der vergangenen Woche waren 17 prominente Repräsentanten Israels, darunter Straußens Waffenhandelspartner Schimon Peres, zu Eschkol bestellt worden, um dem Kanzler der Wiedergutmachung Reverenz zu erweisen. Aber um zehn Uhr hatten sie bereits den schweißgebadeten deutschen Botschafter Pauls und den sichtlich unangenehm berührten israelischen Außenminister Abba Eban die Tafelrunde des Gastgebers zeitweilig verlassen sehen.
Denn drinnen gab es Saures zum Nachtisch. Ganz unbeabsichtigt, doch darum desto peinlicher, erwies sich von neuem, daß die unlösbaren Verstrickungen der Vergangenheit und die ungelösten Probleme der Gegenwart das Zusammenleben der Juden und der Deutschen stärker bestimmen als der gute Wille, den zu zeigen Konrad Adenauer gerufen und gekommen war.
Levi Eschkols Tischrede, hebräisch gehalten, englisch an die Presse verteilt und in einer deutschen Übersetzung der Adenauer-Begleitung kurz vor Beginn des Essens ausgehändigt, traf den Alten an seiner empfindlichsten Stelle. Dabei drückte sie nichts anderes aus als die primär von koalitionspolitischen Rücksichten bestimmte, schon oft kundgetane Linie Eschkols gegenüber den Deutschen von heute: daß diese nämlich ihre gewandelte Gesinnung und ihre neue Vertrauenswürdigkeit täglich zu beweisen hätten:
»Das jüdische Volk«, so hatte Eschkol diesmal formuliert. »wartet auf weitere Zeichen und Beweise dafür, daß das deutsche Volk die schreckliche Last der Vergangenheit erkennt und sich einen neuen Weg in der Völkerfamilie sucht.«
Es tröstete Konrad Adenauer nicht, daß sein Gastgeber hinzufügte: »Viele in der Welt sehen in Ihnen denjenigen, der auf diesem Wege richtungweisend ist.« Er verstand es auch keineswegs als Kompliment, daß Eschkol ihn als »ersten Kanzler Deutschlands nach den Schrecken der Nazi-Zeit« anredete. Und obwohl er sich seit Jahren darauf gefreut hatte, die abschließenden Lyrismen seines Gastgebers nachzuempfinden -» ... diesen ewigen Hauch zu fühlen, der die Saiten von Davids Harfe bestreicht, die von neuem zu spielen beginnt« -, war er nun schockiert.
Ihn schockierte, daß die ganze Rede nicht ein Wort der- Aussöhnung enthielt, nicht ein Wort der Anerkennung für die geleisteten Beweise deutschen Bemühens, wenigstens die materiellen Folgen des untilgbaren Unrechts zu lindern, sondern nur die Versicherung des Gegenteils: daß es trotz Wiedergutmachung, »keine Sühne für die Greuel und keinen Trost in unserer Trauer gibt«.
Denn damit sah Konrad Adenauer das Teuerste in Gefahr gebracht, das er besitzt: sein Lebenswerk, das er selber immer wieder definiert als die Aussöhnung des deutschen Volkes mit dem französischen Volk und mit den Juden.
Dieser Gefahr zu trotzen, war der erste Kanzler Deutschlands nach den Schrecken der Nazi-Zeit fest entschlossen. Hätte er geahnt, daß die Reise nach Israel sein Lebenswerk in Zweifel bringen würde, anstatt es, wenigstens in seinen eigenen Augen,
zu bestätigen - der Neunzigjährige hätte sie gewiß nicht angetreten.
Was er de Gaulles weltpolitischen Visionen nicht gestattet hatte, das würde er Eschkols innenpolitischen Schwierigkeiten erst recht nicht gegestatten: nämlich seine Überzeugung wankend zu machen, daß zumindest die entscheidenden Schritte auf dem Weg zur Aussöhnung der -Deutschen mit den Franzosen und mit den Juden getan worden sind - und zwar von ihm.
Dies war sein unerschütterlicher Standpunkt. Er scheute sich keineswegs, ihm deutlichen Ausdruck zu geben.
Die Gäste wie der Gastgeber am Tisch zeigten Betroffenheit. Eschkols zweifellos aufrichtige Versicherung, daß eine solche Wirkung seiner Rede auf Adenauer mitnichten beabsichtigt gewesen sei, und auch sein Einverständnis, den entscheidenden Absatz über die »weiteren Zeichen und Beweise« zurückzuziehen, konnte nichts daran ändern, daß die Rede bereits veröffentlicht war.
So gingen die unerschrockenen diplomatischen Mittler des deutsch-israelischen Verhältnisses- daran, aus Adenauers improvisierter, von der Spannung des Augenblicks gezeichneter Erwiderung einen veröffentlichungsreifen Text zu machen. Und so wurde, nicht zuletzt mit Hilfe der Notizen und der ausgleichenden Formulierungsgabe des ehemaligen Chefs der Kölner Israel -Mission. Dr. Felix Elieser Schinnar, eine Adenauer-Rede zu Papier gebracht, welche die heillose Verstrickung von. Vergangenheit und Gegenwart in den Beziehungen der Deutschen zu den Juden mit einem kühnen Streich zertrennte, als wäre sie bloß ein gordischer Knoten.
»Der Nationalsozialismus hat so viele Deutsche wie Juden getötet«, beharrte der Alte, obgleich doch kein Geringerer als sein großer Gönner und Verteidiger Ben Gurion, ihn schon im »Waldorf Astoria« tadelnd gefragt hatte, wie man das vergleichen könne. Die zähen Zweifel, ob die Nazis in Deutschland nicht wiederzukommen drohten, wischte Adenauer wütend weg: »Schließlich gibt es (in Deutschland) auch eine Schicht unter 25 Jahren ... den Namen Nationalsozialismus darf man vor dieser Gruppe gar nicht erwähnen.«
Und was die verlangten Beweise deutschen Sinneswandels anging: »Ich kann nur sagen, daß wir alles getan, haben und jeden Beweis geliefert haben und daß wir bestrebt sind, diese Zeit der Greuel, die man nicht überwinden kann, die man nicht ungeschehen machen kann, zu überwinden. Wir sollten sie nun aber der Vergangenheit überlassen. Ich weiß, wie schwer es für das jüdische Volk ist, das zu akzeptieren. Aber wenn guter Wille nicht anerkannt wird, kann daraus nichts Gutes werden.«
So schlicht und zugleich mit solch unbeirrtem Selbstvertrauen in die Rechtlichkeit und in die Würde seiner Worte hat in Israel noch kein Deutscher
von Rang die Vergangenheit zu bewältigen versucht. Aber wohl auch nicht so wirkungsvoll.
Nicht, daß Konrad Adenauer den Bürgern Israels die Zweifel an den Deutschen und die Verzweiflung über den Millionenmord an ihren Brüdern genommen hätte. Das, vermag keiner. Adenauer hat etwas anderes vermocht. Sein aus Moral und Staatsräson gemischtes Auftreten in der Heimat der Juden hat nicht nur das von ähnlichen Anlässen her 'bekannte Erscheinungsbild der Proteste verändert, sondern auch die Klangfarbe der Stimmen, die seinen Weg mit offiziellen Reden oder auch nur mit dem Gemurmel der scheinbar Unbeteiligten begleiteten.
Die organisierten Demonstranten der äußersten Linken und der äußersten Rechten verfehlten ihn von Anfang an. Auf dem Flugplatz in Lod bei Tel Aviv bekamen etwa 30 schreiende, sich zu Boden ,werfende Protestierer ausgerechnet das Auto von Ben Gurion zu fassen, der zum Empfang seines Freundes erschienen war (siehe Interview auf Seite 42), während Adenauer in einem ganz anderen Wagen unbehelligt davonfuhr und schallend über das unerschöpfliche Repertoire jüdischer Witze lachte, mit denen sein Begleiter Meyer Weisgal vom Direktorium des Weizmann-Instituts ihn traktierte.
Die Demonstranten vor dem King David Hotel in Jerusalem trafen Adenauer tags darauf wieder nicht an, denn er war zu dieser Zeit gerade bei Eschkol. Dennoch griffen die wachhabenden Polizisten nun hart zu, um neue Pannen zu vermeiden.
Das lenkte die Spitze des Protestes namentlich der jugendlichen Demonstranten mehr und mehr auf die Polizei und ihre Methode, den Gast aus Deutschland zu schützen. Besonders deutlich wurde dies am Donnerstag, als sich die rauhbeinigen Ordnungshüter auf dem Campus der Universität von Jerusalem, durch Adenauers Eintreffen alarmiert, wiederum auf ein Handgemenge mit Studenten einließen, die ohne Genehmigung des Studentenausschusses protestierten. Der Zorn der mißhandelten Kommilitonen richtete sich alsbald eher gegen die eigene Staatsgewalt als gegen den Mann, durch den sie sich an fremde verbrecherische Gewaltanwendung erinnert glaubten.
Und inmitten des Tohuwabohus, das Adenauer ungehindert passierte, hielt ein junger Student sein Kollegheft hoch, in das er auf eine Doppelseite hastig die Worte »Wir vergessen nicht, aber wir werden versuchen zu verstehen« gekritzelt hatte.
Das Entwaffnende, das den Alten vom Rhein in seinen heimatlichen Bedrängnissen so oft schützend umgeben hat, blieb auch in Israel sein treuer Begleiter. Es war mit ihm, als er sich in seinen Dankesworten für die Ehrenbürgerwürde des Weizmann-Instituts beiläufig, aber effektvoll, als einen Mann vorstellte, der »früher in der zionistischen Bewegung tätig war« (in den zwanziger Jahren als Mitglied des Komitees »Pro Palästina« in Köln). Und es war mit ihm, als er die »dumme Politik« mit ihrem Streit um versprochenes oder nicht versprochenes Geld aus »diesen heiligen Räumen« der Wissenschaft verwies.
Und dies Entwaffnende blieb um ihn, ob er nun mit seinem steifen, reckenhaften Paradeschritt durch das Spalier der Trauernden Zypressen zu den Stätten des Gedenkens ging, seine tiefe Bewegung in statuarischen Ernst gefaßt, oder ob er statt des, aus Sicherheitsgründen ausgefallenen Besuchs auf dem grenznahen Zionsberg ein angeblich maßstabgetreues Modell des alten Jerusalem im Park des Hotels Holyland kritisch betrachtete, eine Art Holy -Disneyland sozusagen: »Wo sind denn hier die Kamele? Die waren doch das biblische Fortbewegungsmittel.«
So bereiste, gewiß zum erstenmal, ein deutscher Staatsmann das gelobte Land, der - komplexen Situationen gänzlich abhold und selber von Komplexen nicht behindert - seinen Sinn nicht auf peinliche Analysen und auf öffentliche Gewissenserforschung gerichtet hatte, sondern darauf, die Verantwortlichkeit für das im deutschen Namen begangene Unrecht »anzuerkennen und in eine schlichte, ursprüngliche Politik zu übersetzen«.
Die Tatsache, daß kein anderer als Abba Eban, der Außenminister selber, diese treffliche Definition Adenauerschen Bestrebens bei einem offiziellen Mittagessen, reichlich zwölf Stunden nach dem Zusammenstoß an Eschkols Dinner-Tafel, öffentlich vortrug, ließ den Alten nicht unbeeindruckt. Und als Eban mit aller seiner wohlgerundeten Konzilianz fortfuhr, Adenauers Verdienst um die Stärkung Israels und seine Bemühung zu preisen, das deutsche Volk für diese Politik einzunehmen, begrub der Urkanzler den Ärger über die Mißachtung seines Lebenswerkes.
Verschmitzt ließ er durchblicken, daß er die innenpolitischen Richtstrahler in Eschkols Tischrede vom vorangegangenen Abend wohl bemerkt habe. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß Parlamente nicht immer so entscheiden, wie man es gern hätte. Aber ich wünsche Ihnen, daß Ihr schönes neues Parlamentsgebäude immer eine gute, arbeitskräftige Mehrheit in sich sehen wird, um die großen Aufgaben zu erfüllen, die Ihnen auferlegt sind - gegenüber den Menschen, die zu Ihnen gekommen sind, die Sie eingeladen haben, und gegenüber ganz Europa.«
Und doch kam die wahre Reverenz für Adenauers Lebenswerk am Ende nicht von der gastgebenden Regierung, sondern von Dr. Nahum Goldmann, dem Repräsentanten der Conference on Jewish Material Claims against Germany, der alle wichtigen jüdischen Organisationen der Welt angehören. Es war Goldmann, der »das Beispiel, das Dr. Adenauer seinem Volk gegeben hat in seiner Haltung zu den Problemen Israels und der Wiedergutmachung« ganz Deutschland als Richtlinie anempfahl und der ihm »die tiefe Anerkennung des Weltjudentums«, ja »Dank und Bewunderung« antrug.
Getröstet und gerührt schickte der so weltweit Gepriesene sich drein, daß die »psychologische Normalisierung« der Beziehungen zu Israel, die er sich erhofft, noch nicht zu haben ist, weil »Völker eben nicht vergessen können«. »Völker kann man nicht auf die Couch eines Psychoanalytikers legen. Eine so große Couch gibt es nicht.«
Israel-Besucher Adenauer, Gastgeber*: »Diesen ewigen Hauch zu fühlen«
Anti-Adenauer-Demonstration in Tel Aviv*: Der Zorn schlug um
* Am Grab des ersten Staatspräsidenten Israels, Chaim Weizmann.
* Plakataufschrift: »Adenauer - Deine rechte Hand war Hans Globke, der die mörderischen Nürnberger Gesetze entwarf«.