Zur Ausgabe
Artikel 49 / 93

Israel Volk unter Hausarrest

Familien darben, weil die Männer nicht arbeiten können, Gemüse verrottet auf den Feldern - Folgen der Ausgangssperre in den besetzten Gebieten.
aus DER SPIEGEL 10/1991

Hanna Nassir, Direktor der Canon Handtuchfabrik, hat Zeit für Besucher. In der schlichten Halle seines Betriebes am Ortsrand von Bethlehem stehen die Maschinen still. Die 50 Arbeiter der arabischen Traditionsfirma - in der Mehrheit Bewohner aus dem Westjordanland oder dem Gazastreifen - bleiben auch an diesem Tag ausgesperrt: Die Militärbehörden haben die biblische Stadt zum »geschlossenen Gebiet« erklärt.

»In den vergangenen 36 Jahren«, klagt Nassir, 55, »habe ich noch nie eine so schlimme Situation erlebt: Wir können nicht produzieren und nicht verkaufen, die Kunden stornieren Verträge, die Banken kündigen die Kredite.« Der Textilunternehmer ist mit seinem Schicksal nicht allein. Fast alle 300 Betriebe Bethlehems sind in Existenznot. »Die Wirtschaft in den besetzten Gebieten«, so Nassir, »ist völlig paralysiert.«

Und das schon seit dem 17. Januar: Mit der US-Offensive am Golf verhängte Israel über das Westjordanland und den Gazastreifen die bislang längste Ausgangssperre seit 1967. »Wir sind seit Beginn der ,Intifada' Härte gewöhnt«, meint ein palästinensischer Rechtsanwalt, »aber nicht einmal während des Jom-Kippur-Krieges 1973 oder beim Libanon-Feldzug 1982 haben die Militärs so reagiert - ein ganzes Volk unter Hausarrest.«

Die Ausgangssperre schnürte den Gaza-Streifen vom israelischen Umland ab und kappte die Verbindungen des Westjordangebietes zum benachbarten Jordanien: Mehr als 5000 Palästinenser, die sich zu Beginn der Golfkrise dort aufhielten, mußten plötzlich feststellen, daß sie nicht mehr in ihre Wohnorte zurückkehren durften - erst vor zwei Wochen gestattete die Militärverwaltung die Einreise von rund 400 Personen »aus humanitären Gründen«.

Mit demselben Hinweis verfügten die Behörden zuweilen stundenweise die Unterbrechung der Ausgangssperre. In Ortschaften oder Flüchtlingslagern bekam die Bevölkerung alle zwei bis drei Tage Ausgangserlaubnis: zum Einkaufen von Nahrungsmitteln. Im Gazastreifen, der in der Vergangenheit Schauplatz von Zusammenstößen zwischen Armee und jugendlichen Intifada-Kämpfern war, durften zunächst gar nur die Frauen vor die Tür.

Selbst Ost-Jerusalem, das von der Ausgangssperre ausgenommen blieb, spürte die Folgen der Abschottung: Lehrer aus den besetzten Gebieten fehlten in den Schulen. Sogar mit Passierscheinen ausgestattete Ärzte und Krankenpfleger wurden wiederholt an den Kontrollposten vom Militär gestoppt.

Appelle von Uno-Behörden und internationalen Hilfsorganisationen, die Restriktionen zu lockern, halfen nichts - nachdem die Mehrheit der Palästinenser offen ihre Sympathie für Saddam Hussein bekundet hatte, wurde die Isolation als politisches Druckmittel eingesetzt. Auch als vergangene Woche der Golfkrieg zu Ende war, blieb die Ausgangssperre noch zeitweilig in Kraft: Die Behörden mißtrauten den Palästinensern, die zuvor Iraks Raketenangriffe bejubelt hatten.

Das rigorose Ausgehverbot brachte Industrie und Handel in den besetzten Gebieten zum Erliegen: Auf fünf Millionen Dollar täglich schätzen Experten die Verluste der palästinensischen Wirtschaft in der zweiten Hälfte des Januar - vor allem die Landwirtschaft litt unter der erzwungenen Produktionspause.

Weil Bauern ihre Häuser nicht verlassen durften, verrottete Gemüse in Gewächshäusern rund um das Anbaugebiet von Tulkarm. Im Jordantal, wo im Winter Tomaten, Auberginen und Zitrusfrüchte reifen, ging deshalb ein Großteil der diesjährigen Ernte verloren. »Diese Ausgangssperre hat uns zerstört«, erklärt Nabil Kukali, Herausgeber des arabischen Wirtschaftsmagazins El-Raid, »vorher hatten einige von uns Ersparnisse, damit ist es nun vorbei.«

»Der Lebensstandard - bis hin zur Ernährung - hat sich in den vergangenen Wochen drastisch verschlechtert«, konstatiert auch Wirtschaftsfachmann Samir Chaleileh. »Viele Familien sind tief verschuldet, alleinstehende Witwen, Alte und Behinderte überleben nur dank der Almosen ihrer Nachbarn.«

Am schlimmsten traf die fortgesetzte Ausgangssperre Zehntausende von Gelegenheitsarbeitern, die, laut Jerusalem Report, »ärmste Schicht der palästinensischen Gesellschaft": Rund 120 000 Beschäftigte vom Westjordanland und Gaza blieben wochenlang ohne Broterwerb. »Das Leben von 1,7 Millionen Menschen kann nicht eingefroren werden«, warnte Bethlehems Bürgermeister Elias Freidsch bei einem Treffen mit Israels Verteidigungsminister Mosche Arens: »Die Armutsgrenze ist bereits unterschritten, jetzt wird die Lage explosiv.«

Nach drei Wochen lenkte die Militärverwaltung ein. Zunächst durften Bäckereien und Lebensmittelfabriken wieder arbeiten. Vorvergangene Woche wurden in den Städten des Westjordanlandes die Schulen wieder geöffnet - zunächst freilich nur für Kinder bis zum Alter von maximal neun Jahren.

Zudem wurde in den besetzten Gebieten die Ausgangssperre auf die Zeit zwischen abends sechs Uhr und morgens fünf Uhr beschränkt - eine Konzession vor allem an jene israelischen Arbeitgeber, die indirekt von den Maßnahmen in Mitleidenschaft gezogen sind: Seit palästinensische Maurer und Steinmetze auf Baustellen in Jerusalem, Haifa oder Tel Aviv ausbleiben, macht die Branche Millionenverluste. Auch Israels Landwirtschaft fehlen die Tagelöhner aus den besetzten Gebieten.

Deren Zahl soll sich nach den Plänen der Regierung Schamir jedoch drastisch vermindern. Jüdische Neueinwanderer aus der Sowjetunion könnten in Zukunft die palästinensischen Pendler aus ihren angestammten Jobs verdrängen, und bei der Ernte sollen vorerst israelische Freiwillige die billigen Arbeitskräfte ersetzen. Tausende von israelischen Schülern wurden bereits zum Orangenpflücken in Kibbuzim abkommandiert.

Nicht mehr als 50 000 Arbeiter aus den besetzten Gebieten, forderte deshalb Wirtschaftsminister David Magen, sollen künftig im Kernland des jüdischen Staates beschäftigt werden: Nach neuen Vorschriften werden dann aber israelische Unternehmer alle palästinensischen Arbeitskräfte eigens anfordern müssen - zur »sozialen Absicherung der Arbeitnehmer«, wie es offiziell heißt. In Wahrheit wird der Broterwerb damit direkt vom politischen Wohlverhalten der Palästinenser abhängig gemacht.

»Diese Maßnahmen sollen uns strangulieren und unseren Willen brechen«, schimpft ein Journalist aus Ost-Jerusalem, und auch der gesetzte Fabrikdirektor Nassir macht sich über den Charakter der wochenlangen Abschottungspolitik keine Illusionen.

Selbst die Lockerung der Ausgangssperre, die mit dem nahenden Ende des Golfkrieges auf die Abend- und Nachtstunden beschränkt wurde, hat die wirtschaftliche Misere nicht beendet - wo immer im Westjordangebiet und Gaza steinewerfende Jugendliche mit Siedlern und Sicherheitskräften aneinandergerieten, wurden die besetzten Gebiete erneut vom Militär blockiert.

»Solange wir uns nicht wieder völlig frei bewegen können«, meint der palästinensische Geschäftsmann mit einem Blick auf die israelische Grenzpolizei vor seiner Fabrik, »ist es leichter auf den Mond zu kommen als von Bethlehem nach Ramallah.«

Zur Ausgabe
Artikel 49 / 93
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten