ABTREIBUNG Volkseigene Pille
Die Anweisung ist »nur für den Dienstgebrauch« bestimmt und trägt keine Unterschrift. Gewissermaßen anonym-amtlich hat das DDR -Gesundheitsministerium die Chefs öffentlicher Krankenhäuser in der Sowjetzone davon in Kenntnis gesetzt,
daß künftig insgeheim erlaubt sein soll, was offiziell noch verboten ist: Schwangerschaftsunterbrechungen in einem für deutsche Verhältnisse ungewöhnlichen Ausmaß.
Nach dem Geheim-Ukas sind Abtreibungen in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft grundsätzlich zu genehmigen bei Schwangeren,
- die jünger als 16 oder älter als
40 Jahre sind;
- denen allein oder gemeinsam mit ihrem Ehemann das Sorgerecht für fünf oder mehr Kinder in der Familie obliegt;
- die vier Kinder mit einem durchschnittlichen Geburtsabstand von weniger als 15 Monaten, geboren haben und bei denen die bestehende Schwangerschaft nicht später als sechs Monate nach der letzten Geburt begann;
- die infolge einer verbrecherischen Handlung schwanger wurden, sofern gegen den Täter ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist; oder
- deren Kind mit großer Wahrscheinlichkeit an Geisteskrankheiten oder anderen ernstlichen Abnormitäten leiden wird.
Mit diesem Indikations-Katalog für Schwangerschaftsunterbrechungen nähert sich die DDR vorsichtig der Regelung anderer Ostblockstaaten, wo man
- so der Rostocker Universitätsprofessor Dr. Karl-Heinz Mehlan - »den Abort vollkommen freigegeben hat, das heißt, der Frau überläßt, ob sie eine Schwangerschaft, die bereits besteht, austragen will, ob sie zur Mutterschaft kommen will oder nicht«.
Während die Bevölkerung dieser Länder überdurchschnittlich fruchtbar ist und die Freizügigkeit bei Schwangerschaftsunterbrechungen künftiger Überbevölkerung und Arbeitslosigkeit steuern soll, liegen die Verhältnisse in der DDR gerade umgekehrt: Der Anteil der Arbeitsfähigen sank immer weiter ab, die Schar der Rentner wurde immer größer.
Von 100 Zonenbewohnern waren 1950 noch 63 im arbeitsfähigen und 14 im Rentenalter (23 waren Kinder), 1961 befanden sich unter 100 Personen nur noch 59 Arbeitsfähige, aber schon 18 Rentner - und das Verhältnis wird sich nach DDR-Berechnungen bis 1980 nicht wesentlich verbessern.
So verbot denn auch das DDR -Mutterschutzgesetz von 1950 »im Interesse des Gesundheitsschutzes der Frau und der Förderung der Geburtenzunahme« bei Strafe jede Schwangerschaftsunterbrechung - es sei denn, »wenn die Austragung des Kindes das Leben oder die Gesundheit der schwangeren Frau ernstlich gefährdet oder ein Elternteil mit schwerer Erbkrankheit belastet ist«.
Aber gerade der Arbeitskräftemangel führte zu verstärkter illegaler Abtreibung in der DDR, wo 70 Prozent aller Frauen zwischen 15 und 60 Jahren berufstätig sind. Die unter sozialistischen Verhältnissen strapaziösen Bemühungen, das Haushaltsbudget aufzubessern und kleinen Wohlstand zu ergattern, trieben die Frauen immer häufiger zu Engelmacherinnen.
Mitte Juni klagte Professor Mehlan, Direktor des Instituts für Sozialhygiene an der Universität Rostock, auf einem Einwohnerforum, der kriminelle Abort seid"für die Gesundheit der Frauen unzuträglich ... und wir sehen ... an der künstlichen Niere die Frauen, die nach der Abtreibung dort liegen, die tage- und wochenlang mit dem Leben kämpfen, wo teilweise eine große Familie um das Leben der Mutter bangt, wo Hunderte Mark ausgegeben Werden, um dieses einzelne Individuum der Gesellschaft zu erhalten«.
Ost-Berlins Gesundheitsplaner, ebenfalls durch die Abtreibungswelle alarmiert, sannen auf Abhilfe: Sie ließen im volkseigenen Betrieb »Jenapharm« eine Anti-Baby-Pille ("Chlormadinon") entwickeln und - seit kurzem - produzieren. Und im Hause des Gesundheitsministers Max Sefrin (Ost-CDU) wurde die vertrauliche »Instruktion« für DDR-Ärzte zu Papier gebracht, die künftig Schwangerschaftsunterbrechungen in verstärktern Maße gestattet.
Die neue Weisung, die im Widerspruch zum geltenden DDR-Recht steht, ging nicht allen Krankenhäusern zu. Chefärzte konfessioneller Spitäler wurden nicht informiert.
DDR-Gesundheitsminister Sefrin
Freibrief ohne Unterschrift