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»Volkskrieg in China«

Nach seinem überraschenden Staatsstreich ist Mao-Nachfolger Hua auf Widerstand gestoßen: Fast jede zweite Provinz Chinas meldet Aufruhr-Aktionen. Bisher hatte sich Hua allein damit legitimieren können, einen blutigen Bürgerkrieg verhindert zu haben. Jetzt ruft er selbst zum »Volkskrieg« gegen die Anhänger der Mao-Witwe Tschiang Tsching und ihre drei Verbündeten auf.
aus DER SPIEGEL 3/1977

Die Blauen übergossen das Haus mit Benzin und weißem Phosphor und setzten es in Flammen. Mit mächtiger Stimme schmetterten die Roten Mao-Zitate gegen ihre Feinde. Als ihre Kleider Feuer fingen, sprangen 30 Überlebende aus dem Fenster.«

So schilderte im Sommer 1968 die Parteizeitung »Rote Fahne« ein Pogrom an 16jährigen Rotgardisten in der Stadt Loting in der südchinesischen Provinz Kuangtung. Es war ein Pogrom auf Befehl der Armee.

In der Nachbarprovinz Kuangsi brachen die »Blauen« von der Volksbefreiungsarmee den erbitterten Widerstand der Roten Garden in den Städten Wutschou und Liutschou sogar mit Artillerie und Maschinengewehren. Resultat: 50 000 Tote. Blaue und Rote zusammengerechnet.

Die einen wie die anderen starben für Mao, als der Große Steuermann der Volksbefreiungsarmee den Befehl gegeben hatte, den von ihm selbst entfachten Steppenbrand der Großen Kulturrevolution mit Gewalt auszutreten.

Der Sturm der jungen Rotgardisten gegen (lic verkrusteten Strukturen in Partei und Staat drohte in Chaos umzuschlagen und sich gegen Mao selbst zu wenden. Da waren die Geister, die er rief, nicht mehr gefragt.

Die Welt erfuhr von den Einzelheiten dieses blutigen Einsatzes der Armee gegen die Revolution nur wenig und bezog das von der Nachrichtenagentur Hsinhua übermittelte Mao-Zitat »Der Feind verrottet mit jedem Tag mehr; für uns aber werden die Dinge jeden Tag besser« auf den Erfolg, nicht auf die Liquidierung von Maos großem Experiment.

Heute, acht Jahre später und wenige Monate nach Maos Tod, scheint sich die Geschichte Chinas zu wiederholen. Während die Spitzenpolitiker um den selbsternannten Mao-Nachfolger Hua Kuo-feng und die Parteipresse der Pekinger Zentrale nicht müde werden, »die Lage ganz ausgezeichnet« zu nennen, kämpft und schießt in mindestens 12 der 29 chinesischen Provinzen die Volksbefreiungsarmee wiederum gegen radikale Rebellen.

Wieder marschiert die Ordnungsmacht, deren Führung sich auf Mao beruft, gegen harte Maoisten« die sieh nicht unterwerfen wollen, und für beide Seiten ist Mao das Vorbild.

Wieder, oder noch immer, wird in China »im Kampf der zwei Linien die rote Fahne gegen die rote Fahne geschwenkt« -- so umschrieb Mao einst den Richtungsstreit innerhalb der Partei, bei dem beide Fraktionen sich auf die reine Lehre berufen. In diesen zwei Linien endete bislang noch jede, auch die chinesische Revolution: Jakobiner gegen Girondisten.

Trotz der verwirrenden Nomenklatur der chinesischen Propaganda, die förmlich über Nacht und ohne plausible Erklärung gestern noch als stramme »Linke« gefeierte Genossen heute in »Ultra-Rechte« verwandelt und gestern noch Mächtige in eine »Handvoll Plünderer und Räuber«, wird deutlich, wer sich in Wahrheit in Chinas Provinzen in unversöhnlicher Feindschaft gegenübersteht:

Einheiten der Volksbefreiungsarmee, Parteikader und der Volksteil, der den Kurs des im Oktober durch einen Staatsstreich an die Macht gelangten Parteichefs Hua unterstützt, auf der einen Seite gegen die Kampfgefährten und Anhänger der entmachteten Mao-Witwe Tschiang Tsching auf der anderen: Tschiang Tschings politischer Tod nur Wochen nach Maos physischem -- eine größere Katastrophe des Maoismus ist kaum denkbar.

Bekannt wurden die Details der von Peking bisher verschwiegenen und dementierten Unruhen erst in den letzten Tagen und Wochen, obgleich sie, wie in den Südprovinzen Fukien und Hunan, schon länger anhalten: Hatte es zunächst so ausgesehen, als wären Pragmatiker in den unumstrittenen Genuß der Mao-Nachfolge gekommen, so zeigte sich nun, daß der Geist des Großen Steuermannes so leicht doch nicht zu überwinden war.

Die Sender in den Provinzen gaben erstmals zusammenhängende Lageberichte über den neuen Aufruhr in China und wurden durch den Sonderdienst der britischen Rundfunkgesellschaft BBC und den Auswertungsdienst des amerikanischen Regierungsrundfunks von Hongkong, Japan und Thailand aus abgehört.

So beschuldigte Radio Szetschuan die »Viererbande« der ausgestoßenen Linken, sie habe einen »totalen Bürgerkrieg« provoziert, »bei dem das Leben vieler Klassenbrüder geopfert wurde«. Die von Hua im Oktober verhaftete »Viererbande« oder »Shanghai-Mafia": Mao-Witwe Tschiang Tsching« Schwiegersohn Jao Wen-jüan, Vize-Parteichef Wang Hung-wen, Vize-Premier Tschang Tschun-tschiao, das sind die neuen Teufel, die ausgetrieben werden sollen, sich aber offenbar nicht ergeben.

Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Menschen -- so laut Nachrichtenagentur »ap« informierte chinesische Kreise in Peking -- seien allein in der Provinz Szetschuan umgekommen. Die als Reiskammer besonders wichtige Westprovinz ist die Heimat des zweimal gestürzten Teng Hsiao-ping, vor der Kulturrevolution Chinas mächtiger KP-Generalsekretär, nach der Kulturrevolution rehabilitierter. wieder gefeuerter und jetzt abermals zurückkehrender Vertrauter des verstorbenen Tschou En-lai.

Radio Nantschang in der Südprovinz Kiangsi fordert Härte gegen »eine geringe Handvoll von Personen«, die noch immer Anhänger der Schanghaier Linksfraktion seien. Es sei an der Zeit, die »sturen Feinde des Volkes in die Ecke zu drängen, sie zu umzingeln und auszurotten«.

In Kunming (Provinz Jünnan). meldet der Ortssender, sind Anhänger der Mac-Witwe nach wie vor subversiv tätig und »warten ab, woher der Wind weht«. Hingegen habe in Tschengtu, so eine weitere Meldung, »die Viererbande vergeblich versucht, Jugendliche zu täuschen, zu verführen und zu vergiften. damit sie für sie sterben«.

Tschangscha, die Hauptstadt der Provinz Hunan, in der sowohl Mao wie auch Hua geboren sind, zählt zu den Zentren, in denen den Radikalen die Verführung aber offensichtlich gelang. * Auf dem Spieß von rechts: Tschiang Tsching, Vizepremier Tschang, Vizeparteichef Wang, Mao-Schwiegersohn Jao.

Reisende berichteten in Hongkong, daß »Soldaten der Volksbefreiungsarmee Dutzende von Gefangenen unter vorgehaltenen Bajonetten durch die Straßen geführt haben«. In der Provinz Hupei wurden Mitte Dezember »eine Anzahl von Räubern und Plünderern« hingerichtet -- so die in Hongkong erscheinende »South China Morning Post«.

In der Südprovinz Fukien, dem ohnehin neuralgischen Küstengürtel gegenüber dem nationalchinesischen Taiwan, uferte der »Volkskrieg gegen die Konterrevolutionäre«, zu dem Hua auf der Landwirtschaftskonferenz Mitte Dezember in Peking aufgerufen hatte, zur offenen Feldschlacht aus.

Bahnreisende hörten Kampflärm von Maschinengewehren und einer Vielzahl von Handfeuerwaffen. Wandzeitungen in der Provinzhauptstadt Futschou meldeten, die Rebellen hätten ein Munitionslager der Armee gestürmt und mit den erbeuteten Waffen ein Arsenal in den westlichen Bergen, in der Nähe von Lun Jen, angelegt.

Einige Fabriken in Fukien sollen teilweise schon seit Monaten stilliegen, den Radikalen soll es gelungen sein, »das Provinz-Partei-Komitee und die Parteiausschüsse auf allen Ebenen« zu spalten.

Sogar Teile der in Fukien stationierten Armee hätten die Aufrührer auf ihre Seite gebracht, heißt es, und den im vorigen Juli angeblich bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommenen Befehlshaber des Militärbezirks in Wirklichkeit samt Sohn und Schwiegertochter ermordet. Radio Futschou: »Städte und Dörfer in Fukien sind in Aufruhr.«

Die Parteiführung mußte, so dW Pekinger »Volkszeitung« vom 4. Januar. eine ganze Pekinger Division mir 12000 zuverlässigen Soldaten in das Krisengebiet Fukien schicken, das Kriegsrecht ausrufen und »Fabriken, Schulen und Dörfer« von Truppen besetzen lassen. Mehrere bewaffnete Rebellengruppen ergaben sich der Armee. Ähnlich erbittert waren die Kämpfe zwischen den Jüngern des toten Mao und Bataillonen des Mao-Nachfolgers in der Industriestadt Paoting, nur 160 Kilometer südlich von Peking. Gut organisierte Verbände, angeblich Milizeinheiten, überfielen Waffenarsenale und Getreidelager, raubten Banken aus und plünderten Geschäfte.

Offenkundig war die Machtübernahme des Pragmatikers Hua Kuo-feng in den chinesischen Provinzen auf ungleich stärkeren Widerstand gestoßen als in den Zentren Peking und Schanghai. Nur acht der 29 Provinzen, vor allem die von Militärkommandeuren beherrschten, hatten sieh spontan hinter den neuen Parteichef gestellt, die anderen fügten sich nur zögernd.

Huas Griff nach der Mao-Nachfolge war ein einzigartiger Streich gewesen: Von der brutalen Entschlossenheit, vier Wochen nach dem Tod des großen Führers dessen Witwe mit ihren nächsten Anhängern einzusperren, hätte ein Stalin noch lernen können.

Der brauchte nach Lenins Tod zehn Jahre, bis er seine Konkurrenten ausgeschaltet hatte; verhaftet war bis dahin noch keiner von ihnen. Lenins Witwe Nadeschda Krupskaja, die sich -- mit hohem Parteirang -- auf die Seite der Stalin-Gegner gestellt hatte, starb 1939 friedlich und in Freiheit einen Tag nach ihrem 70. Geburtstag, 15 Jahre nach Lenin.

Der Überraschungscoup des Staatssicherheitschefs Hua, 56, gegen die Witwe Maos und ihren Clan gelang indessen doch nicht so perfekt, wie es zunächst den Anschein hatte: Genossen in der Parteispitze haben sich mit Huas Alleinherrschaft nicht abgefunden. Das Publikum feierte den Anti-Mao Teng.

Außer durch organisierte Massenkundgebungen wurde Hua von niemandem approbiert -- es sei denn durch das unzuständige Politbüro. das in den letzten Jahren durch Tod oder Säuberung halbiert wurde auf neun Militärs und drei Zivilisten. Nach dem Parteistatut von 1973 ist der Parteivorsitzende vom Plenum des Zentralkomitees zu wählen -- und das ist bisher noch nicht einmal zusammengetreten.

Hua setzt mithin die ungesetzliche Übung fort, formal nicht legitimierte Herrschaft auszuüben -- so wie China seit einem Jahrzehnt regiert wird:

Maos Gegenspieler, der Staatspräsident Liu Schao-tschi, war ohne ZK-Beschluß gestürzt worden. Maos laut Verfassung »engster Waffenkamerad und Nachfolger« Lin Piao ist unter ungeklärten Umständen ums Lehen gekommen -- angeblich als Putschist. Vizepremier Teng Hsiao-ping wurde ohne Anhörung von ZK oder Nationalem Volkskongreß, dem für die Wahl von Kabinettsmitgliedern zuständigen Gremium, im vorigen April gefeuert, und auch die Vier aus Schanghai stürzten ohne die Zustimmung des ZK.

Hua, der über keine Hausmacht im Partei- oder Staatsapparat verfügt, erreichte nach seiner Machtergreifung nicht einmal fällige Veränderungen im Kabinett.

So wurde der amtierende Premier Li Hsien-nien nicht, wie Wandzeitungen schon verkündet hatten, Ministerpräsidident; formal übt dieses Amt nach wie vor Parteichef Hua aus. In Peking hieß es, Li habe den Posten abgelehnt, damit ein anderer ihn übernehme, und dieser andere habe ihn auch ausgeschlagen -- wohl weil das Amt ihm nicht genug Macht bietet: Teng Hsiao-ping, der verkörperte Anti-Mao, den im vorigen Frühjahr die Linken gestürzt hatten.

Teng ist seit der Verhaftung der Viererbande wieder im Kommen. Ein Mitglied des Ständigen Komitees des Nationalen Volkskongresses erzählte, er habe ihn in einem Pekinger Restaurant gesehen -- wie er beim Hinausgehen die Arme ausstreckte und den vor dem Lokal versammelten Gaffern ironisch zurief: »Laßt uns fortfahren mit der Kritik an Teng Hsiao-ping!«

Die gleiche übermütige Geste Tengs wird aus Kanton berichtet, wo er mit derselben ironischen Losung das Theaterpublikum zu Begeisterungsrufen hinriß: »Lang lebe Teng Hsiao-ping!«

In Kanton wurde bereits alles Propagandamaterial der Anti-Teng-Kampagne eingezogen. Eine zentrale Direktive verlautbart, Teng (der aus der KP Chinas nicht ausgeschlossen wurde) gelte fortan nicht mehr als Volksfeind.

Vorige Woche forderten Wandzeitungen in Peking offen: »Genosse Teng soll zurückkehren!« Die Pro-Teng-Kundgebung aus Anlaß des Totengedenkens an seinen Förderer Tschou En-lai im vorigen März auf dem Pekinger Tienanmen-Platz, die Teng den Posten gekostet hatte, sei in Wahrheit eine Provokation der Viererbande gewesen. Teng-Anhänger erwarteten für das vorige Wochenende, zum einjährigen Todestag Tschous, eine Neuauflage der Tienanmen-Demonstration -- diesmal mit Teng. Der Viererbande soll der Prozeß gemacht werden. Zum Auftakt wurden die Vierergruppe symbolisierende Puppen öffentlich gehenkt.

Hua weiß im Kampf gegen die Linke und zu seiner eigenen Legitimation außer der Hilfe der Militärs vor allem ein starkes Argument auf seiner Seite: Er hat durch rasches Handeln das Reich vor Schlimmerem bewahrt -- vor einem mörderischen Bruderkrieg. von dem der Aufruhr in den Provinzen eine gewisse Vorstellung vermittelt.

Hätte die Viererbande gesiegt, orakelte die Nachrichtenagentur Hsinhua, »waren Millionen Kommunisten und revolutionäre Menschen getötet worden«, dann -- so verteidigte sich Hua

wäre es zu einem »größeren Bürgerkrieg« gekommen und schließlich zu einer »ausländischen Aggression

Das überzeugt bei einem Volk. dessen ältere Generation vor allem deshalb für die kommunistische Regierung gewonnen werden konnte, weil es die Kommunisten waren, die 1949 nach einem furchtbaren Bürgerkrieg den Frieden brachten. Huas These wirkt in einem Land, das die Anarchie der Kulturrevolution eben überstanden hat.

Hua rechtfertigte seinen Herrschaftsanspruch am 25. Dezember auf einer Zusammenkunft von mehr als 8000 führenden Funktionären, die als eine Art Ersatz-Parteitag gedacht und als »Landwirtschaftskonferenz« deklariert war. Dort benannte er auch »die zentrale Aufgabe für 1977": »Vor allem muß die große Massenbewegung zur gründlichen Entlarvung und Kritik der Viererbande weitet« in die Tiefe geführt werden«, und zwar durch einen »Volkskrieg« in China.

Der Nachfolger Maos rief zu einer Volksfront auf, der auch die vor zehn Jahren verschwundenen bürgerlichen Satelliten-Parteien angehören sollen -- und sogar ehemalige Anhänger der Viererbande, wenn sie bereuen. »Die große Unordnung im ganzen Land führt zur Großen Ordnung«, proklamierte der neue Vorsitzende und erläuterte, mit der »großen Unordnung« sei der Feind gemeint.

Erstmals hörten die Chinesen, daß Stalin Fehler machte.

Damit distanzierte er sich von einem Mao-Wort, nach dem »große Unordnung unter dem Himmel« bedeute, daß die »Lage ausgezeichnet« sei. Huas entgegengesetzte Losung von der »Großen Unordnung« aber klingt für Chinesen wie die »Große Harmonie« des seit 1973 gebrandmarkten Konfuzius« eine Art Frieden auf Erden und jedermann Wohlgefallen -- von Hua auch noch am christlichen Weihnachtstag postuliert: Mao-Gedanken und Mao-Zitate sind nicht mehr sakrosankt in China.

Sie werden von Hua dem offiziell eingesetzten Nachlaßverwalter für die unveröffentlichten Mao-Werke, nach Bedarf herangezogen, so zur Behebung von Differenzen, die es in der neuen Führung offenbar über die Frage gibt, ob die Schanghai-Mafia hinzurichten oder bei Reue zu begnadigen sei.

Da präsentierte Hua seinem Volk eine bislang nur im westlichen Ausland bekannte Mao-Rede, von der jeder Landwirtschafts-Konferenzler eine Kopie erhielt und die am 26. Dezember zu Maos 83. Geburtstag von Radio Peking und der »Volkszeitung« verbreitet wurde. Der Alt-Vorsitzende hatte sie am 25. April 1956 im Politbüro gehalten, genau drei Monate nach Chruschtschows geheimer Anti-Stalin-Rede.

Ein Vierteljahr nach Maos Tod erfährt das chinesische Volk nun, daß der große Stalin zu 30 Prozent Fehler gemacht, zu 70 Prozent aber positive Leistungen erbracht habe.

Die Rede führt zurück in die gute alte Zeit vor über 20 Jahren, als Mao sein Werk noch nicht mit dem Volkskommunen-Experiment und der Kulturrevolution aufs Spiel gesetzt hatte. An diese Zeit will Herausgeber Hua offensichtlich anknüpfen.

Damals befand Mao, Konterrevolutionäre hinzurichten sei im Prinzip »absolut richtig": »Wir können nicht ankündigen, daß es keine Hinrichtungen mehr geben wird, und dürfen auch nicht die Todesstrafe abschaffen.« Mit Soldaten schlief Hua in einem langen Bett.

Anders sehe es aber aus bei Konterrevolutionären »in den Partei- und Regierungsorganen, Lehranstalten und Armee-Einheiten« (mithin ebendort, wo sich die Partei-Linke bisher breitgemacht hat). Hier gilt die Parole: »Niemanden hinrichten und nur wenige verhaften.«

Dafür nennt Mao eine Reihe vernünftiger Gründe: Es bleibe nicht bei der ersten und der zweiten Hinrichtung -- »und dann würden viele Köpfe rollen«. Mit Zeugen würden Beweismittel vernichtet, man gerate in den »schlechten Ruf«, Gefangene zu töten, ein Rechtsirrtum sei irreparabel:

Die Geschichte hat bewiesen daß ein Kopf wenn er gefallen ist, nicht wieder aufgesetzt werden kann. Er kann auch nicht wie Schnittlauch wieder nachwachsen. Wenn ein Kopf abgeschnitten wurde, kann man den Fehler nicht mehr korrigieren, selbst wenn man dies wünscht.

Mao wird auch bemüht, weil er selbst nach der Berufung Huas die Weisung gegeben haben soll: »Es ist notwendig, für den Genossen Hua Propaganda zu betreiben und ihn allgemein bekannt zu machen, damit er den Menschen des ganzen Landes nach und nach vertraut wird.«

Die Linken hatten das zunächst verhindert, seit ihrem Sturz wird etwas krampfhaft ein Personenkult um den neuen Führer gepredigt. Die »Befreiungszeitung«, Organ der Armee, nannte ihn »der Partei treu ergeben und selbstlos, offenherzig und aufrichtig, bescheiden und umsichtig«.

Sein Heimatsender in der Provinz Hunan entdeckte militärische Meriten des Apparatschiks: Er habe am Krieg gegen die Japaner teilgenommen. Die Agentur Hsinhua brachte Huas Erinnerungen an die Kriegszeit, als er mit anderen Soldaten zusammen schlief »in einem langen Bett ... ein sehr gutes Mittel, um sich warm zu halten«.

Die »Volkszeitung« druckte die rührende Geschichte vom Vater Hua, der im Winter zu Fuß zum Elternabend in die Schule seiner Tochter Hsiao-Li« damals 17, ging.

Doch Chinas Zeitungen bringen derzeit viel häufiger einen offenbar weit interessanteren Stoff mit drallem Anti-Personenkult: Details aus den geheimen Kabinetten am Hofe Mao Tsetungs über die zur Kaiserin deklarierte Tschiang Tsching, Schwiegersohn Jao, Favorit Wang, Hofastrologe Tschang -- die Viererbande.

Eine politische Auseinandersetzung mit Sachargumenten wird strikt gemieden -- die vier sind zu Monstern und Teufeln abgesunken. Nicht einmal Linke dürfen sie mehr sein: Das Etikett ist auch in China schick, wird stets von den jeweils Herrschenden beansprucht. Wie der Chef-Kulturrevolutionär Lin Piao nach seinem Tod 1971 schleunigst in einen »Rechten« umgepolt wurde, widerfährt diese Wandlung nun auch der ausgeschalteten Parteilinken.

Zur Vermeidung der Sachdiskussion muß den Linken außer Dienst ein kapitalistischer Lebenswandel nachgewiesen werden. Laut Radio Kanton war Tschiang Tsching »grausamer als eine Grundbesitzersfrau; sie quälte das Arbeitspersonal bösartig« (siehe Kasten Seite 75).

Um Huas Nachfolgerecht zu begründen und jeden Erbanspruch der Mao-Witwe abzuweisen, erfährt Chinas Bevölkerung seither schier ungeheuerliche, an sich systemgefährdende Geschichten von Intrigen und Eifersüchteleien wie aus alten Dynastien, mit einer Kurtisane als Hauptfigur: Sie war die Ehefrau des Vorsitzenden Mao Tsetung, des größten proletarischen Revolutionärs der Weltgeschichte.

Nicht nur Wandzeitungen unbekannter Autoren für einen begrenzten Leserkreis, sondern Parteiorgane sowie die Sender Peking und Kanton schildern genüßlich, wie arg sie es trieb.

Die »Hexe und Hure« ließ demnach für 20 Millionen Mark »äußerst obszöne« Filme aus Hongkong und Hollywood importieren ("Vom Winde verweht«, »Der Graf von Monte Christo«, »Rot und Schwarz«, »Kung Fu"), dazu Lippenstifte, Haarfärbemittel, künstliche Wimpern, Badeanzüge und Vitamin B.

Besuchte Tschiang Tsching den Botanischen Garten von Kanton, mußte angeblich vorher von allen Blättern der Staub gewischt werden. Öffentliche Mittel verschwendete sie, indem sie Goldfische von Peking nach Kanton per Luftfracht bringen ließ. Im Zoo fütterte sie die Affen mit Keksen und teuren Süßigkeiten.

Tschiang Tsching schlief schlecht. Wohnte sie am Perlfluß in Kanton, mußte nachts jeglicher Verkehr eingestellt werden, sogar die Nachtschicht einer nahen Schiffswerft durfte feiern. Bedienstete mußten im Park auf die Zweige schlagen, um zwitschernde Vögel zu verscheuchen. Das Essen wurde auf Zehenspitzen serviert. So auch, laut Radio Kanton, auf ihrer Urlaubsinsel Hainan:

Sie verlangte, im Umkreis von einem Kilometer von ihrem Quartier dürfe es keine Geräusche von Autos, Federvieh oder Hunden geben. Kraftfahrzeuge, die Güter für sie anlieferten, mußten einen Kilometer entfernt ihren Motor abstellen und wurden dann von 20 starken jungen Männern der Miliz geschoben.

Als einer der vier Banditen, Parteivize Wang Hung-wen, das Vierteljahr vor Maos Tod in seiner Heimatstadt Schanghai verbrachte, gab er auf täglichen Partys insgesamt angeblich 25 000 Mark aus. Der Stadtrat schenkte ihm sieben Jagdgewehre mit 4000 Patronen und machte Wangs ehemaliges Fabrik-Büro zum Museum.

* Jao wen-jüan (links im Hintergrund), Wang Hungwen, Tschang Tschun-tschiao.

Besonders schlimm wurde es laut »Peking Rundschau« mit den Vier nach dem Erdbeben von Tangschan. »Sie lagen in eigens für sie entworfenen erdbebensicheren Betten und summten Verszeilen wie: »Sieh ruhig und leichten Herzens zu, wie die Berge stürzen und die Erde sieh auftut.'«

Neue Verbrechen wurden erfunden: Nachdem Tschiang Tsching angeblich gelesen hatte, daß die vornehmen Damen der Tang-Dynastie (vor 1200 Jahren) sich am liebsten zu Pferde bewegten, ließ sie per Sonderflugzeug drei Rösser nach Hainan transportieren.

Dabei gilt Reiten unter chinesischen Genossen nicht unbedingt als feudalistisch, seit Mao den Langen Marsch der Partisanen in den dreißiger Jahren auf einem Schimmel bewältigte, der heute ausgestopft im Museum von Jenan steht wie bis 1945 Friedrichs »Condé im Berliner Zeughaus.

Den Lehrer der Viererbande ortete die »Volkszeitung« in Deutschland: Wie allgemein bekannt, gab es im faschistischen Deutschland einen hochberühmten Nazi-Anführer namens Goebbel (sic!). Dieser Mann hatte die oberste Propaganda-Gewalt in Händen. Er verstand zu schwindeln. Dieser Nazi-Chef und Lügen-Experte konnte zu seinen Lebzeiten wohl nicht ahnen, daß die Mitglieder der Viererbande seine getreuen Schuler werden würden.

Die erste Wandzeitung gegen Frau Mao, die am 14. Oktober im linken Schanghai erschien, erhob dann den ungeheuerlichsten aller Vorwürfe: Als Maos Krankheit zur Krise führte, mißachtete Tschiang Tsching angeblich ärztliche Anweisungen und versuchte vergeblich, Mao zu töten. Deshalb: Ihre Sünden rechtfertigen zehntausend Tode. Selbst wenn sie tot ist, trägt sie noch immer Schuld. Und wenn sie tausend Schnitte und eine Myriade Messerstiche erleiden müßte, hätte sie damit ihre Schulden noch längst nicht bezahlt. Nur Histörchen, Legenden? Eine gewisse Hysterie war bei Tschiang Tsching schon in der Kulturrevolution erkennbar, und gewiß repräsentierte auch die Erste Dame der KP Chinas jene neue Klasse, die sie selbst bekämpfte: die Partei-Bourgeoisie.

Mit Sicherheit zahlen aber auch die neuen Propagandisten in gleicher Münze zurück. Ihnen muß klar sein, daß von Tschiang Tschings weltweit bekanntgemachtem extravagantem Stil Schatten auch auf ihren Ehemann fallen, der fast 40 Jahre mit dem Haßobjekt von heute zusammen lebte, der, wenn all die Geschichten nur zum Teil wahr sind, entweder blind, selbst verworfen oder aber ein duldender Schwächling war.

Kein Zweifel: Mit der Kampagne gegen Frau Mao beginnt in China die Entmaoisierung. Schon kommentierte die »Volkszeitung«, Maos Worte seien kein Dogma, man müsse sich weigern, ungeprüft »nach den vom Vorsitzenden Mao festgelegten Richtlinien« zu handeln. Schon wird Mao ohne schmückende Beiwörter bezeichnet, während der Mann, dem alle pragmatischen Erfolge des Kommunismus in China zugeschrieben werden, »unser geliebter und verehrter Ministerpräsident« genannt wird: der tote Tschou En-lai.

Innerhalb von sechs Jahren sind Maos erklärter Nachfolger Lin Piao, Maos Privatsekretär und Lehrer in Fragen der Theorie, Tschen Po-ta, und Maos Frau abgetreten, Mao selbst ist tot, sein Leichnam wird symbolisch präpariert, die Erinnerung an ihn entstellt. Die Maoisten in den Provinzen führen fu ihn das allerletzte Gefecht.

Wie stark sind sie noch? Ihr kapitaler Fehler im Kampf um das Mao-Erbe war gewesen, daß sie sich im Gegensatz zu Hua nicht nur auf eine Handvoll verdienter Generale und Parteiveteranen, sondern, getreu der maoistischen Konzeption, auf eine breite Massenbewegung hatten stützen wollen: Von Millionen namenloser Chinesen erwarteten sie ihre Legitimation.

Das war, soviel ist heute gewiß, die entscheidende Ursache für die von der Mao-Witwe im Frühsommer 1976 in allen chinesischen Provinzen eingeleitete Massenkampagne zum Aufspüren von Konterrevolutionären wie Teng.

Dieser verschärfte Klassenkampf der Linken, mitunter mit den rüdesten Mitteln geführt, zeigte Wirkung: In vielen Provinzen gelang es den Schanghai-Radikalen, die nach der Kulturrevolution rehabilitierten Parteibürokraten erneut aus ihren Ämtern zu verdrängen und wichtige Positionen mit ihrem eigenen Anhang zu besetzen.

Unterstützt wurden sie dabei vor allem von den paramilitärischen Milizen, den Jugend- und Studentenligen und neu gegründeten Sonderformationen, die sich »Rückgrat-Elemente« oder einfach »Aktivisten« nannten.

Dort, wo die Jakobiner auf Widerstand stießen. setzen sie sich mit Gewalt durch. Als sie auf der Sitzung des Parteisekretariats in Taijüan (Provinz Schansi) keine Mehrheit bekamen, entführten sie kurzerhand den Ersten Parteisekretär. Als unliebsame Funktionäre sich weigerten, ihre Posten nach Massendemonstrationen niederzulegen, steckten sie das Parteihaus in Brand.

Nach Maos Tod, so meldete Radio Kunming am 9. Dezember, wuchs an vielen Orten in der Provinz Jünnan der Widerstand gegen die »zurückkehrende Legion« (die rehabilitierten Parteikader):"Damals erhoben sich scharfe böse Winde, und schlimme Wellen brandeten über Jünnan dahin.«

In dieser Südprovinz an der vietnamesischen Grenze legten die Radikalen mit ständigen Aktionen gegen die Partei- und Staatsfunktionäre, aber auch gegen die Fabrikdirektoren die Verwaltung und Produktion fast völlig lahm.

Um die konspirative Absicht der Radikalen zu beweisen, meldete der Sender der Provinz Schansi, die »Viererbande« habe Agitatoren in das Industriezentrum von Wuhan entsandt, die untereinander nur spanisch gesprochen hätten, um sich vor Spionen des Gegners tu schützen.

Doch der Anhang der Linken in den Provinzen besteht nicht nur aus Funktionären, die heute fürchten müssen, ihre Posten wieder zu verlieren und daß bei den Befriedungsaktionen der Armee manche offene Rechnung von gestern beglichen wird.

Bei einer Straßenschlacht in der Provinz Kuangsi, Mitte November, zwischen 500 bewaffneten Aufrührern und einem Bataillon der Volksbefreiungsarmee gab es über 100 Tote -- die meisten waren Mitglieder der Eisenbahner-Gewerkschaft.

Auch im Hajang-Stahlwerk von Wuhan waren es Arbeiter, die für die Mao-Witwe auf die Barrikaden gingen und laut Radio Wuhan »Terror übten und ihre Klassenbrüder töteten«. In der Tungfang-Kohlengrube von Hantan scheiterte der Versuch der Kumpel, das Hauptquartier der auf Hua-Kurs eingeschwenkten Parteiführung zu besetzen.

Um rebellierende und streikende Arbeiter zu ersetzen. mußte in den Eisenbahn-Knotenpunkt Tschengtschou, 600 Kilometer südlich von Peking, ein Eisenbahn-Pionier-Bataillon einrücken. dessen Vize-Befehlshaber nun Leiter der Bahndirektion ist.

Sosehr sich die Pekinger Führung auch bemüht, den Anhang der »Viererbande« als eine »Handvoll Verführter« oder »Konterrevolutionäre, die aus dem letzten Loch pfeifen«, abzuwerten, die Front gegen Hua geht offenbar quer durch das chinesische Volk.

Dabei mag eine nicht unbedeutende Rolle spielen, daß viele Chinesen zu Recht fürchten, Hua werde mit seinem auf Pragmatismus ausgerichteten Programm manche Errungenschaft der Kulturrevolution bald wieder aufheben, etwa das in der Verfassung festgeschriebene, zumindest formale Mitspracherecht in den Betrieben. das Recht auf Streik und Rebellion, den Aufstieg zum Studium für Proletarier und die von Mao eingeführte »Dreier-Verbindung": Junge Führer und solche mittleren Alters sollten gleichberechtigt neben die Veteranen treten. »Die Höhlen der Mißgeburten und Monster vernichten.«

Selbst in der Armee haben die Radikalen, die schließlich seit Ende der Kulturrevolution die Schalthebel der Propaganda, der Kultur, der Massenmedien bedienten, trotz aller Säuberungs- und Enthüllungskampagnen offenbar noch immer treue Anhänger.

Aus einer Rede von Verteidigungsminister Marschall ich Tschien-jing vor Militärkadern in Peking geht hervor, daß ich nur ein Drittel der Armee als zuverlässig klassifiziert. Eine Aufzeichnung der Rede wurde kürzlich nach Taiwan geschmuggelt. Danach teilt ich die Armee in drei Gruppen: Diejenigen, welche die Partei bei der Säuberung unterstützen, diejenigen, die der Säuberungsaktion nur Lippendienste leisten, in Wirklichkeit Überbleibsel der Tschiang-Tsching-Gruppe sind, und schließlich jene, die aus der Säuberung Kapital zu schlagen versuchen, um ihren Einfluß zurückzugewinnen.

Beobachter auf Taiwan glauben, daß etwa die Hälfte der Militärkader bis zum Rang von Regimentskommandeuren Anhänger der Radikalen sind, weil sie der Kulturrevolution und der Schanghai-Gruppe ihre Karriere verdanken. Nur so ist zu verstehen, daß -wie der Provinzsender Hupei jetzt berichtet -- die Mao-Witwe im vorigen Herbst bei militärischen Einheiten Waffen und Geld sammeln konnte.

Die Speerspitze der Linken im Kampf gegen die Herrschaft der Rechten und Gemäßigten war und ist aber die Volksmiliz. Diese im harten Kern auf rund 15 Millionen Mitglieder geschätzte paramilitärische Organisation, die im Kriegsfall auf rund 75 Millionen aufgefüllt werden kann, stand bis zum Jahr 1973 unter der Kontrolle der Volksbefreiungsarmee.

Damals setzte in einer heftig geführten Diskussion der von Mao zum Vize-Parteichef ernannte Schanghai-Radikale Wang Hung-wen durch, daß die Milizen von Schanghai dem dortigen Parteikomitee unterstellt wurden und politische Aufgaben erhalten sollten.

Das Schanghai-Experiment der Milizeinheiten mit politischem Mandat wurde später auch von den Städten Peking und Tientsin sowie den Provinzen Anhwei und Kuangtung übernommen, für den Aufbau weiterer Polit-Einheiten fehlte bis zum Sturz der Linken die Zeit.

Als Programm gab Wang den Milizen zur Aufgabe, die politische Erziehung der Jugend und der Bevölkerung zu übernehmen und den »Kampf gegen den Klassenfeind von Angesicht zu Angesicht zu fuhren, konterrevolutionäre Konspiration zu zerschlagen und die Höhlen der Mißgeburten und Monster zu vernichten« -- kurz: den verschärften Klassenkampf.

Daneben setzten Wang und seine linken Genossen durch, daß die militanten Klassenkämpfer auch an modernen Waffen, in der Flug- und Panzerabwehr, in der Bekämpfung von Fallschirmlägern, ja sogar für die ABC-Kriegführung ausgebildet wurden.

Wie viele der Milizeinheiten den jüngsten Säuberungen zum Opfer fielen, wie viele möglicherweise vor der Volksbefreiungsarmee kapitulierten oder zur anderen Seite übergingen, ist unbekannt. In vielen Provinzen wurden die Milizen von regulären Truppen entwaffnet; in Wuhan, Nantschang, Tschangscha und Kanton aber sind die Kommandeure der Milizkommandos untergetaucht.

Und wenn die Parteiführung in ständigen Appellen über Radio und Presse verbietet, »Gruppen und Bergfestungen zu bilden«, so steht dahinter die Furcht, Rebellen-Trupps könnten sich Maos Bruch mit der auf taktische Kompromisse eingeschworenen Parteiführung im Jahr 1927 zum Vorbild nehmen -- den Partisanenkampf.

Radikale Dissidenten und enttäuschte Rotgardisten sind schon vor ein paar Jahren in die Berge gegangen und haben Waffenarsenale angelegt. In der Provinz Hupei nannte sich die Guerilla »Millionenmächtige Armee«.

Im Juli 1976 berichteten Reisende aus Jünnan. daß eine Truppe von 1000 Mann die Waffen- und Lebensmittellager der Stadt Hsiakuan angegriffen habe. Auch aus Paoschan und Wuhan setzten sich organisierte Aufrührer in die Berge ab.

Eine ernsthafte Gefahr für die Pekinger Führung sind die versprengten Haufen sicher nicht. Sie droht Parteichef Hua eher durch die Ungeduld der Millionen Chinesen, die auf bessere Zeiten warten, und durch seine engsten Alliierten -- die Armeeführung.

Hua hat sich zwar mehrmals dem pragmatischen Wirtschaftsprogramm des verstorbenen Tschou En-lai verpflichtet, das aus China bis rum Jahre 2000 eine »starke sozialistische Industriemacht« machen will, aber wie das konkret zu erreichen wäre, darauf ist der Parteichef bislang die Antwort schuldig geblieben. »Gibt es keine Armee, gibt es auch nichts fürs Volk.«

So weit wie Teng, der nach seiner Rückkehr zur Macht 1973 den Arbeitern mehr Lohn und den Bauern mehr Privatland in Aussieht stellte, wollte Hua bisher nicht gehen. Die Pekinger Zeitungen beschränkten sich darauf, in den Leitartikeln zum Neujahrsfest »besseren Lebensstandard und besseres politisches Klima« tu versprechen, »schneller und besser, als das Volk es sich jetzt vorstellen kann«.

Am konkretesten war in den Neujahrsartikeln noch die Ankündigung, daß »Soldatenfamilien dabei bevorzugt bedacht« werden sollen -- ein Zeichen für den neuen Stellenwert der Armee.

Dafür sprechen auch zwei ältere, fast schon vergessene Mao-Zitate, die das Parteiblatt »Volkszeitung« neben dem Zeitungskopf als neues Dauermotto einrücken ließ: »Wenn es keine Volksarmee gibt, dann gibt es auch nichts für das Volk« und »Die Produktion steigern.«

Erste Hinweise auf den neuen Wirtschaftskurs werden von einer Industriekonferenz erwartet, die Hua noch vor dem 1. Mai einberufen will. Westliche China-Experten rechnen damit, daß sich China stärker als bisher dem westlichen Ausland öffnen und der Parteichef das 1970 von Mao eingeführte Modell weitgehender Provinz-Autarkie durch straffe Wirtschaftsplanung und -lenkung ablösen wird.

Viel Zeit bleibt Hua nicht mehr, sich im unruhigen China als der starke Mann zu beweisen. Ein Spitzenbeamter des Außenhandelsministeriums setzte der neuen Führung eine Frist: »Bis zum Herbst müssen wir den Durchbruch geschafft haben. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wo wollen wir denn da hinkommen?«

Das Gedicht, aus dem Mao einst den Namen seiner jetzt verteufelten Frau Tschiang Tsching wählte, schließt mit einem traurigen Vers:

»Die Musik ist vorbei, und das Volk ist gegangen. Nur noch wenige blaue Berge sieht man am anderen Ufer des Flusses.«

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