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Affären Volles Vertrauen

Nach der hessischen Lotto-Affäre suchen SPD-Strategen einen Nachfolger für ihren glücklosen Ministerpräsidenten Hans Eichel.
aus DER SPIEGEL 4/1994

Spätestens im dritten Akt der »Fledermaus«, wenn der ewig betrunkene Gefängniswärter Frosch seinem Direktor über die aktuelle Belegung der Zellen berichtet, wird das Frankfurter Opernpublikum neuerdings hellwach. Dann zelebriert der Schauspieler, mit seherischen Fähigkeiten, Hessen-Politik live.

Zelle 1 sei »belegt«, sagt Frosch, da sitze »der ehemalige Lotto-Geschäftsführer von Uckro«. Besetzt sei auch Zelle 2, mit dem »ehemaligen Staatssekretär Geske«, einst zuständig »für den gefeuerten Uckro«. In Zelle 3 schmore »die ehemalige Finanzministerin«, einst Vorgesetzte des gefeuerten Staatssekretärs. Und in der Nachbarzelle brumme »der frühere Ministerpräsident Hans Eichel«, Chef der gefeuerten Ministerin.

Die improvisierten Frotzeleien des Frankfurter Schauspielers Michael Quast über die vier Lotto-Häftlinge brachten das Publikum schon zum Rasen, als die Affäre um Genossen-Filz und -Versorgung in der hessischen Glücksspielzentrale gerade begonnen hatte. Da waren die vier alle noch auf ihren Posten.

Ende letzter Woche war nur noch einer übrig: Hessens sozialdemokratischer Ministerpräsident Hans Eichel, 52. Die übrigen haben, nach und nach, aufgrund der Lotto-Affäre ihre Ämter verloren.

Auch beim Ministerpräsidenten hätte der »Fledermaus«-Frosch beinahe recht behalten: Der Chef der rot-grünen Landesregierung entging vergangene Woche nur knapp seinem Sturz.

Entgegen seiner öffentlichen Versicherung vom Dienstag zuvor, es werde »keine Kabinettsumbildung« geben, sah sich der Regierungschef zum Handeln gezwungen: Er mußte seine Finanzministerin und Genossin Annette Fugmann-Heesing, 39, oberste Chefin vom Hessen-Lotto, fallenlassen. Anderenfalls, so hatten Parteigremien ihrem SPD-Landesvorsitzenden Eichel unmißverständlich bedeutet, stehe er selber zur Disposition.

Ob die eilige Regierungsumbildung am Freitag voriger Woche in Hessen tatsächlich das Ende der »veritablen Regierungskrise« bedeutet, die Justizministerin Christine Hohmann-Dennhardt (SPD) längst ausgemacht hatte, ist fraglich. Die Diskussion »um Eichels Ablösung«, sagt ein sozialdemokratischer Bezirksfürst, laufe in der Partei »jetzt ganz offen«.

Die Sozialdemokraten sind tief verärgert über die scheibchenweisen Rücktritte in der Lotto-Affäre, bei der es vor allem um die verdeckte und hochpreisige Versorgung verdienter oder abgehalfterter Parteifreunde und um Filzgeruch geht - keineswegs nur eine SPD-Spezialität: In Stuttgart etwa ist der dortige Lotto-Chef Peter Wetter (CDU) ins Zwielicht geraten (siehe Kasten Seite 36).

In Hessen rächt sich für Eichel, daß in seiner Regierungszeit das Prinzip der politischen Verantwortlichkeit praktisch abgeschafft wurde - Folge der Entscheidungsschwäche des Ministerpräsidenten, der in Personalfragen immer nur handelt, wenn er nicht mehr anders kann.

Am Taktieren des Ministerpräsidenten liegt es auch, daß das einstige SPD-Musterland (Partei-Slogan: »Hessen vorn") in die Riege der Skandalländer abgesackt ist. Allerdings räumt selbst ein Wiesbadener Oppositionssprecher ein, daß die Hessen-Affären »eher Kleinkram« sind. Zum Politikum wurden sie zumeist erst durch die ungeschickten Reaktionen des Regierungschefs.

Den 1,5 Millionen Mark teuren Umbau seiner Dienstvilla, von der Opposition heftig kritisiert, hätte der Sparpolitiker Eichel durchaus sachlich fundiert verteidigen können. Doch der für Kritik wenig empfängliche Regierungschef ("Ich bin, wie ich bin") demonstrierte statt dessen Distanz zu seinen Wählern: Er könne doch seine Gäste »nicht auf Ikea-Möbeln empfangen«.

Als im Herbst 1992 skandalöse Zustände bei der Unterbringung von Asylbewerbern offenbarten, daß die grüne Familienministerin Iris Blaul »offenkundig überfordert« war, wie SPD und Opposition übereinstimmend feststellten, unternahm Eichel erst einmal gar nichts - und feuerte dann ihre tüchtige Staatssekretärin Brigitte Sellach.

Auch im Fall der Frauenministerin Heide Pfarr (SPD), die sich ihre Privatwohnung mit 53 000 Mark aus Steuermitteln hatte renovieren lassen, mußte Eichel zum Handeln gezwungen werden: Die Ministerin brauchte im vergangenen Frühjahr erst zu gehen, als sich zeigte, daß jenen Beamten nichts anzuhaben war, die das Geld bewilligt hatten.

Genauso reagierte Eichel, als im vergangenen Spätsommer Neonazis ungehindert die Bischofsstadt Fulda überschwemmten; die Fernsehbilder gingen um die Welt. Den zuständigen Innenminister verschonte Eichel, statt dessen feuerte er den Innenstaatssekretär Christoph Kulenkampff, dem er zuvor sein »Vertrauen« ausgesprochen hatte.

Spätestens seit dieser Entlassung wirken sich politische Vertrauensbekundungen in Hessen schnell karriereschädlich aus - so auch in der Lotto-Affäre.

Die hatte mit einer Lüge des Finanzstaatssekretärs Otto-Erich Geske begonnen, der Anfang dieses Monats versicherte, dem früheren Lotto-Chef und Genossen Hans-Joachim Dumschat sei »keine Abfindung« gezahlt worden, als er im Vorjahr, fünf Monate vor Vertragsablauf, ausscheiden mußte. Dabei hatte der Frühpensionär Dumschat in Wahrheit noch mal schnell 200 000 Mark kassiert. Eine Woche später wurde der »Lügenbaron« Geske (Hessen-CDU) entlassen, trotz der Vertrauensbekundungen seiner Ministerin.

Ähnlich erging es wenig später dem neuen Lotto-Chef, dem Genossen Hanns-Detlef von Uckro, zuvor Abteilungsleiter im Finanzministerium. Der hatte zwar sein 300 000-Mark-Gehalt mit der Finanzministerin ausgehandelt. Doch die Ministerin tat lange so, als sei sie über die Gehaltshöhe überrascht. Sie versicherte Uckro ihres Vertrauens und lehnte den von ihm angebotenen Rücktritt ab - bis sie den Lotto-Chef dann, unter Druck, fristlos feuerte.

Am Donnerstag letzter Woche traf es die Finanzministerin selber. Auch ihr hatte Chef Eichel drei Tage zuvor noch sein »volles Vertrauen« zugesichert. Die Genossin wurde, immerhin, nicht gefeuert, sondern durfte zurücktreten.

Vorausgegangen war für den Regierungschef die wohl schwerste Woche seines politischen Lebens. Ganz offen und in Anwesenheit Eichels diskutierten SPD-Spitzenfunktionäre und Grünen-Anführer tagelang darüber, ob sie den Ministerpräsidenten nicht »opfern« müßten. »Wenn hier nichts passiert«, so ein Teilnehmer, »fliegt uns der Laden um die Ohren.«

Daß es am Ende nur zu einer Regierungsumbildung kam und nicht zur Neuwahl des Ministerpräsidenten, hatte zwei rein sachliche Gründe: Im Landtag verfügt Rot-Grün nur über eine knappe Mehrheit. Und ein populärer Eichel-Ersatz war nicht in Sicht.

Doch das ändert sich schon mit der Aufstellung der neuen Regierungsmannschaft. Viele in der Hessen-SPD sehen in Lothar Klemm, 44, bisher Chef der SPD-Landtagsfraktion, einen möglichen Eichel-Nachfolger - obwohl Klemm noch relativ unbekannt ist.

Sein Bekanntheitsgrad wird sich rasch ändern: Klemm kam, im Wirtschaftsressort, zu Ministerehren.

Wie lange sich Eichel noch in Sicherheit wähnen kann, wagen auch Genossen nicht vorherzusagen. Schlimmes Vorzeichen: Vorige Woche sprach die Landtagsfraktion dem Regierungschef bereits ihr »volles Vertrauen« aus. Y

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