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Artikel 25 / 87

»Vom Archipel Gulag redet man eben nicht«

»Eine tragikomische Gestalt«, befangen in »standhaftem Wunschdenken«, nannte der ostdeutsche Professor Schottlaender in westdeutschen Medien den DDR-Regime-Kritiker Havemann. In einer Rezension des Havemann-Buches »Ein deutscher Kommunist«, aus dem der SPIEGEL Auszüge veröffentlichte, warf der emeritierte Philosoph der Ost-Berliner Humboldt-Universität dem Autor vor, er nähre durch »Fehleinschätzungen« der Situation die Illusion, in der DDR sei ein Umschwung zu einer demokratischen Gesellschaft möglich. In einem Beitrag für den SPIEGEL antwortet der ostdeutsche Dissident Havemann seinem ostdeutschen Kritiker Schottlaender.
aus DER SPIEGEL 15/1979

Wenn ich den guten alten Professor Rudolf Schottlaender nicht schon so lange und nicht so gut kennen würde, dann hätten mich sein Fernseh-Interview mit Lutz Lehmann (gesendet am 25. Januar 1979) und sein Artikel in den »Frankfurter Heften« (11/1978) doch einigermaßen betroffen gemacht. Aber nachdem ich das Stenogramm seines Interviews und seinen Artikel gegen mein »standhaftes Wunschdenken« in Ruhe durchgelesen und studiert habe, reduziert sich meine Betroffenheit auf einen einzigen Punkt: Wie kann sich ein Historiker seines Kalibers derart über das Wunschdenken erregen, das doch die entscheidende, ständig wirkende Triebfeder aller Veränderungen im Leben der Menschen und der ganzen Menschheit ist?

Allerdings, »Wunschdenken« wird diese Triebfeder gern von Leuten genannt, die diese Geisteshaltung von einer höheren Warte aus und daher mit einer überlegenen Herablassung betrachten und -- verwerfen. Bloch hatte ein anderes Wort: das Prinzip Hoffnung. Bei Marx finden wir eindeutige Zustimmung. Er sagte, daß der Mensch sich gerade darin vom Tier unterscheidet, daß er alles, was er schafft und gestaltet, zuvor im Kopf schon geschaffen hat und erst dann mit seinen Händen verwirklicht. Alles Neue, alle Veränderung, die wir schaffen, entsprang unseren Wünschen und war davor -- oft lange davor -- in unseren Gedanken schon längst phantastische Wirklichkeit.

Rudolf Schottlaender meint, es gebe in der DDR außer den überzeugten Anhängern des Regimes zwei Gruppen, die einen, die »sich von Herzen freuen, wenn sie im Radio die Stimme eines Mannes hören, der ihnen seiner ganzen Gesinnung nach aus der Seele spricht«, und die anderen, »für die Havemanns Anprangerung von Zuständen in der DDR und seine Träume von einer besseren Zukunft Binsenweisheiten sind, über die man .., nicht mehr viel Worte verliert«.

Wie schätzt nun wohl mein »staatsloyaler« (sein eigener Ausdruck) Freund die dritte Gruppe ein, die unbedingten Anhänger des Regimes? Er sagt: »Den Kredit hat die Staatspartei anfangs nur bei Havemann und seinen Freunden und Genossen gehabt, im übrigen war sie damals eher noch weniger beliebt als heute, denn trotz aller öffentlichen Mißwirtschaft geht es dem Durchschnittsbürger auch in der DDR nach dreißig Jahren denn doch besser als zu Beginn.«

Von der Nazi-Zeit meint Rudolf Schottlaender damals »war das deutsche Volk seinem Führer nicht etwa bloß nicht ganz so entfremdet wie die Bevölkerung heute dem Politbüro, vielmehr war es leider ganz im Gegenteil seiner Führung so eng verbunden wie noch nie in der deutschen Geschichte«. Ich kann verstehen, wenn ein Mann wie Schottlaender, der das Elend der Judenverfolgung in Deutschland am eigenen Leib und am Leib seiner Angehörigen erlitten hat, zu diesem Pauschalurteil über die Deutschen des tausendjährigen Reichs gekommen ist. Das Gegenteil -- man hört es oft genug -ist allerdings ebenso unwahr.

Aber will Schottlaender wirklich seine Augen verschließen vor dem politischen Widerstand der deutschen Antifaschisten, zu denen ja nicht nur Kommunisten und Sozialdemokraten, sondern bürgerliche Liberale und besonders auch Christen gehörten? Vielleicht meint unser Freund, das war auch alles eben »standhaftes Wunschdenken«, das nur viele Menschen zusätzlich in Gefahr und Tod brachte, ohne am Lauf der Dinge etwas ändern zu können.

Nun ist es gewiß völlig unmöglich, den materiellen Einfluß des deutschen Widerstands gegen die Nazi-Barbarei in irgendwelchen Zahlen quantitativ zu erfassen. Aber war an diesem Widerstand der materielle Effekt überhaupt das Wesentliche? Liegen für einen »realistischen« Historiker die geistigen und moralischen Kategorien außerhalb der historischen Realität? War der Tod der Geschwister Scholl und des Professors Huber in München sinnlos, sinnlos wie auch der Tod der vielen tausend anderen des deutschen Widerstands? Was sie alle bewog, gegen die Übermacht des NS-Regimes zu kämpfen, war in Schottlaenders Terminologie Wunschdenken.

Der Satz in meinem Buch, der Rudolf Schottlaender (und auch andere) besonders in Rage gebracht hat, war natürlich der Satz vom Politbüro, das zum Teufel gejagt werden soll. Ich sage da, daß es dazu »nur noch weniger äußerer Anstöße und Ereignisse bedarf«. Leider wurde dieser Satz, nicht in dem vom SPIEGEL veröffentlichten Aus-Zug, wohl aber im Buch selbst, durch einen Fehler beim Umbruch von den Sätzen abgetrennt, die direkt an ihn anschließen und die der Leser nun reichlich unmotiviert oben auf Seite 85 vorfindet.

Es heißt da: »Woher solche Anstöße zur Veränderung kommen werden, kann man natürlich noch nicht sagen. Aber die Erfahrung lehrt, daß die Geschichte nicht stehenbleibt. Die Anstöße werden kommen, nicht nur von innen, sondern wahrscheinlich auch von außen. Denn auch in den anderen Ländern des sogenannten sozialistischen Lagers sind die Verhältnisse ganz ähnlich, besonders in der Sowjet-Union.« So sehr ich mir also wünsche, daß in der DDR anstelle des »realen« der wirkliche Sozialismus zum Durchbruch kommt, so wenig gebe ich mich der Illusion hin, es genüge, einmal kräftig zu pusten, um das Politbüro davonzublasen.

Und ich gebe Schottlaender vollkommen recht, daß es nach den Erfahrungen des 17. Juni 1953 in der DDR, des ungarischen Aufstandes 1956 und des Überfalls auf die CSSR 1968 wenig aussichtsreich ist, in einem dieser Länder allein und unabhängig von entsprechenden Umwälzungen in den anderen zur Überwindung der Politbürokratie zu kommen. Aber darin bin ich mit Rudolf Bahro völlig einig: Kommen wird diese Entwicklung. Sie ist die einzige Alternative, die dem Sozialismus das Überleben verspricht und ihn in die Lage versetzen wird, seine überdimensionalen welthistorischen Aufgaben zu lösen.

Schottlaender ist ungehalten wegen meiner These, die DDR sei der bessere deutsche Staat, und zwar hauptsächlich wegen meiner Begründung. Es ist richtig, daß ein sehr wichtiger Punkt zur Begründung dieser These für mich die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in der DDR ist. Schottlaender meint dazu: »Wenn überall -- und es ist ja nicht nur in der DDR so! -- der »real existierende Sozialismus' in seiner ganzen ökonomischen Unterlegenheit das Resultat ist, dann muß jene marxistische These eben als widerlegt gelten.«

Er hat sich zwar, als vorsichtiger Historiker, diese eben zitierte Meinung nicht selber in den Mund gelegt, sondern nur als Argument fiktiver Personen zitiert und sagt dazu: »Mir scheint diese Art von Widerlegung zwar auch nicht unausweichlich zu sein, einfach deswegen nicht, weil die Situation von Land zu Land und erst recht von Kontinent zu Kontinent grundverschieden ist.«

Ja, aber warum empört sich Rudolf Schottlaender dann so zornig über mich, der ich auch von dieser Art Widerlegung wenig halte, und wirft mir vor, daß ich damit »die Urteilsfähigkeit der politischen Nachdenklichen in West und Ost unterschütze«?

Wie ich Schottlaender hier richtig verstehen soll, fällt mir doch schwer, schon rein logisch. Meint er nun, daß dieses »altmarxistische Dogma« (so bezeichnet er es zwei Sätze vorher) je nach Land und Kontinent mal richtig und mal falsch ist? Gilt es für die DDR, aber nicht für die BRD? Soll in der DDR das Privateigentum an den Produktionsmitteln wiederhergestellt oder soll es auch in der BRD abgeschafft werden? Läuft mitten durch das alte Deutschland eine Grenze zwischen zwei Welten, wo in der einen der Marxismus richtig, in der anderen aber falsch ist?

Ich bin nicht der Meinung Schottlaenders. daß die ökonomische Unterlegenheit des real existierenden Sozialismus gegenüber dem real existierenden Kapitalismus das altmarxistische »Dogma« der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln im Sozialismus auch nur antastet, geschweige denn aufhebt. Und zwar deshalb nicht, weil der »reale« Sozialismus für mich überhaupt noch kein Sozialismus ist.

Im realen Sozialismus ist die Revolution auf halbem Wege stehengeblieben. zu einer Farce erstarrt, abschreckendes Beispiel geworden für alle Welt. Auch die bürgerliche Gesellschaft durchlief die Phase des Bonapartismus, bevor sich die parlamentarische Demokratie endgültig durchsetzte und sie damit die der Bourgeois-Gesellschaft adäquate Staatsform fand. »Die wirksamste Maßnahme, Bahros Ideen zu propagieren.«

Auch der unvollendete »reale« Sozialismus wird sich wieder aus seiner Erstarrung lösen und seine stalinistische Entartung endgültig überwinden. Es ist mir immer wieder kaum begreiflich, wie viele unserer Zeitgenossen den Zustand, den sie gerade erleben, für unabänderlich halten. Ausgerechnet in unserem 20. Jahrhundert, in dem schon jetzt mehr an tiefgreifenden und umwälzenden Wandlungen passiert ist als in etlichen Jahrhunderten vorher!

Schottlaender bezieht sich zu Anfang seines Artikels auf ein Gespräch das wir nach dem Überfall auf die CSSR im Jahre 1968 hatten. Ich erinnere mich nicht daran, aber es mag sein, daß ich damals gesagt habe, »die Russen würden niemanden finden, der in Prag für sie regieren könne«. Schottlaender behielt recht, die Russen fanden Husák. Aber es bleibt trotzdem richtig, was ich sagte, nämlich, daß die überwältigende Mehrheit des Volkes damals hinter Dubcek stand. Was denkt Schottlaender, wo sie heute steht? Hinter Husák?

Ob die Russen in Husák wirklich den Mann gefunden haben, der für sie -- in dem Sinne von: zu ihren Gunsten -- und nicht für sie -- in dem Sinne von: statt ihrer -- regiert, das wird wohl erst die Zukunft erweisen. Schottlaender hat offenbar einen Husák im Auge, der sich nur als Werkzeug des Kremls betätigt, also das Schlechteste, was sich die Russen wünschen könnten. Aber die Tragik liegt meist darin, daß die Menschen ihr Schicksal gerade dadurch herbeiführen, indem sie es abzuwenden trachten.

So war es gewiß auch unklug, Rudolf Bahro einzusperren, was sich als die wirksamste Maßnahme erwiesen hat, seine Ideen in aller Welt zu propagieren und dazu die eigene Unfähigkeit, sich gegen seine Kritik zu verteidigen, zu demonstrieren. Schottlaender, der Bahros Kritik an der vom real existierenden Sozialismus erzeugten Subalternität seiner Bürger (im TV-Interview) akzeptiert, liefert gleich ein Beispiel dafür, indem er nicht gegen das Bahro angetane Unrecht protestiert, sondern den Gnadenakt einer Amnestie für politische Gefangene für ihn empfiehlt, den er auch noch den Regierenden mit dem Argument schmackhaft zu machen sucht, Amnestie sei ein Hoheitsakt, der die staatliche Souveränität nicht kränkt. Nur dürfe man daran nicht die Forderung knüpfen: Ausbürgerung darf nicht mehr sein.

Daß aber gerade der Akt der Ausbürgerung unliebsamer Kritiker -- noch dazu gegen handfeste Bezahlung vom »Klassenfeind« die staatliche Souveränität in ein höchst zweifelhaftes Licht setzt, ist wohl ein Gedanke, der sich für Rudolf Schottlaender im Interesse der Aussöhnung zwischen Ost und West und also für die Erhaltung des Weltfriedens verbietet.

Rudolf Schottlaender hat mich das letzte Mal vor vier Jahren besucht, als er seinen Artikel »Solschenizyns Tragik« in den »Frankfurter Heften« veröffentlicht hatte. Auch damals waren unsere Ansichten sehr kontrovers.

Bei aller Anerkennung »edler Motive« und der Notwendigkeit seiner Enthüllungen macht er Solschenizyn den Vorwurf der »moralisierenden Staatsblindheit«. In ordinärerem Deutsch ist das der Vorwurf der Nestbeschmutzung. Daß es den Archipel Gulag gab, läßt sich zwar nicht mehr bestreiten, aber davon redet man eben nicht. Das ist moralisierende Staatsblindheit. Wie Schottlaender in seinem TV-Interview mit Lutz Lehmarm berichtet, wurde er wegen dieses Artikels vor den ideologischen Kadi der Humboldt-Universität zitiert.

Dort warf man ihm vor, daß er dem Autor des Archipel Gulag »leidenschaftliche Menschenbrüderlichkeit« zugebilligt hatte. Die peinliche Belehrung war nicht angenehm, aber es ging noch einmal alles gut. Ich versuchte damals, Rudolf Schottlaender klarzumachen, daß der Archipel Gulag nicht von Solschenizyn erfunden wurde, sondern von denjenigen, die ihn heute wegen seines Buches anklagen. Die Tragik bestand darin, daß der Archipel Gulag nicht in der Sowjet-Union publiziert wurde, wo man dies Buch im bestverstandenen Interesse der Sowjet-Union in Millionenauflage hätte verbreiten müssen.

Das wäre ein großer, vielleicht entscheidender Schritt zur Bewältigung der Stalin-Ära gewesen, der das internationale Ansehen dieses Landes in der nachhaltigsten Weise gefestigt hätte. Dazu hätte man einen großen, hochbegabten Schriftsteller der Sache des Sozialismus und Kommunismus zurückgewonnen, der Sache, der früher in seinem Leben einmal alle Hoffnungen und Träume Solschenizyns gegolten hatten. Aber demoralisierte Staatsblindheit siegte über leidenschaftliche Menschenbrüderlichkeit.

Wessen Tragik war dies nun, frage ich Sie, Rudolf Schottlaender. »Tragik«, sagen Sie in Ihrem TV-Interview zu Lutz Lehmann, »setzt so gut wie immer Verfehlungen oder Fehlbarkeit gewaltigen Ausmaßes voraus; aber aus einer edlen und sympathiewürdigen Gesinnung.« Glauben Sie wirklich ehrlich, daß die Verfehlungen und die Fehlbarkeit gewaltigen Ausmaßes Solschenizyn, weil er von ihnen berichtete, zur Last gelegt werden können? Ich vermute, in Ihrer Theorie des Tragischen steckt ein Fehler.

Merkwürdig ist auch Schottlaenders Theorie von der Nation, von der deutschen in erster Linie, versteht sich: »Wenn man von der nationalen Staatlichkeit das Staatliche abzieht, dann bleibt die Nationalität.« Von den Deutschen sagt er ausdrücklich: »Sie sind eine einheitliche Nationalität -- Nation im vollen völkerrechtlichen Sinn nicht mehr.«

»Die SED machte Nico Hübner zum Heros.«

Nun sind wir Deutschen wirklich ein eigenartiges Volk. Als die meisten europäischen Völker ihre nationale Identität längst gewonnen und sich in selbständigen Nationalstaaten organisiert hatten, lebten wir noch in Dutzenden von Duodezfürstentümern und Ländchen der verschiedensten Provenienz. Gut hundert Jahre sind vergangen, seit die Deutschen unter Bismarck sich auch staatlich in der Monarchie der Hohenzollern vereinten, und nun sind wir schon wieder seit über dreißig Jahren als Nation in zwei Teile zerrissen und leben, ganz gegen unseren Willen, in zwei sehr verschiedenen Staaten. Sie verdanken ihre Existenz einerseits dem Wahnsinn des Hitlerkrieges (ohne den es sie nicht gäbe), andererseits aber der Spaltung der Welt in zwei (vielleicht bald drei) große Machtblöcke. Nach Schottlaender sind wir nun zwei deutsche Nationen, aber mit einheitlicher Nationalität.

Normalerweise finden wir, daß in einem Staat mehrere Nationalitäten, in der Sowjet-Union sind es ziemlich viele, zusammen leben. Der Begriff Nation, angewendet auf das ganze Staatsvolk, hat in diesen Ländern keine rechte Grundlage. Man spricht lieber von den Völkern der Sowjet-Union als von einer sowjetischen Nation.

Bei uns Deutschen ist der seltenere Fall verwirklicht, daß eine Nation in mehreren Staaten lebt, einfach weil der vorher bestehende deutsche Staat mit Gewalt in zwei Teile getrennt wurde. Eine ähnliche Situation bestand lange in Vietnam und besteht noch in Korea. In dem Maße, wie der ausländische Einfluß in Korea abnehmen wird und sich die Annäherung zwischen China und den USA weiterentwickelt, wird auch in Korea die Wiederherstellung der staatlichen Einheit voranschreiten.

Das Gleiche wird in Deutschland geschehen, und man kann sagen: In weiterer Perspektive gesehen ist die in den letzten Jahren begonnene Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten schon der Anfang. Die gesellschaftlichpolitische Grundlage, ohne die dies ganz undenkbar wäre, ist aber, daß es eben nicht zwei, sondern nach wie vor nur eine deutsche Nation gibt. Deutsche Nationalitäten gibt es auch, aber außerhalb der Grenzen der beiden provisorischen deutschen Staaten, in vielen Ländern, in Ost wie in West.

Wie fehlerhaft Schottlaenders Theorie von der Nation ist, zeigt sich mit peinlicher Deutlichkeit auch an seiner Beurteilung des Falles des jungen Ost-Berliners Nico Hübner. Nico Hübner verweigerte als Einwohner Ost-Berlins unter Berufung auf den zwischen den Alliierten vereinbarten Viermächtestatus, der die Stadt für entmilitarisiertes Gebiet erklärt, den Wehrdienst bei der deutschen Volksarmee der DDR. Beide Seiten anerkennen nach wie vor diesen Status und verletzen ihn gleichzeitig, jeder auf seine Weise.

Für die DDR ist dieser Status die rechtliche Grundlage für die im Berliner Vertrag erneuerte Feststellung, daß West-Berlin kein Teil der Bundesrepublik Deutschland ist und auch nicht von dort regiert werden darf. Für den Ostteil der Stadt bestreitet die DDR die analoge Bestimmung und erklärt Berlin zur Hauptstadt der DDR. »Wenn man jetzt, um nur vom Westen zu sprechen, sich endlich entschließen könnte, Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR anzuerkennen, denn das ist sie praktisch geworden, dann würde manches leichter werden, und dann würde auch Nico Hübner nicht als Heros gefeiert werden können, wie das ja tatsächlich der Fall ist.« Nico Hühner ist also das Opfer staatsrechtlicher Blindheit des Westens.

Schottlaender meint, Nico Hübner wird keine Nachfolger finden: »Dafür geht man nicht ins Gefängnis.« An Nico Hübner wird also exemplifiziert, daß es nicht nur zwei deutsche, sondern auch zwei Berliner Nationen gibt. Wie deutlich spiegelt sich der Anachronismus der deutschen Spaltung in der Spaltung dieser Stadt. Nico Hübner, ein junger Mann eindeutig von Berliner Nationalität, wollte seine Oberen auf den logischen Widersinn ihrer staatsrechtlichen Berlin-Konstruktionen hinweisen, ihnen vielleicht auch ein Schnippchen schlagen. Aber sie sperrten ihn ins Gefängnis und machten ihn zum Heros. Ob auch Rudolf Schottlaender der Meinung ist, daß das nicht nur unrecht, sondern auch sehr unklug war?

Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. So singt mein Freund Wolf Biermann sein Lied den kleinen und den großen Kleingläubigen, denen immer im falschen Moment der Mut fehlt, ihren eigenen Überzeugungen zu vertrauen. Auch Rudolf Schottlaender sollte diesen Rat noch einmal überdenken und mehr Vertrauen gewinnen zum guten, großen, weltbewegenden Prinzip Hoffnung.

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