ITALIEN Vom Paradies geträumt
Nord- und Mitteleuropäer könnten leicht schockiert sein: gleich vier Filme der letzten italienischen Produktion beschäftigen sich mit dem Problem der »Damen der öffentlichen Hand« (Tucholsky). Film-Italiens »Neo-Realismus«, der unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegsthemen müde, versucht sich an einer Frage, die Italiens allerbreiteste Oeffentlichkeit ohnehin schon diskutiert. Seit sich die sozialistische Senatorin Angelina Merlin im Senat für die Schließung der »case di tolleranza« verbraucht, gibt es kaum ein aktuelleres Tagesthema längs des Appennin als dies.
Der erste Film, der sich mit dem Thema befaßt, heißt »Miss Italia«. Er erzählt die Geschichte von sechs Mädchen, die an der alljährlichen Wahl der Miss Italia teilnehmen. Eine von ihnen ist ein einschlägiges Mädchen, das gerne aus seinem Milieu, herausmöchte.
Die Hauptrolle spielt Gina Lollobrigida, um sie herum die schönsten Italienerinnen, die tatsächlich an der Miss-Italia-Wahl teilgenommen haben. Im Film wendet sich alles zum Guten. Genau so in dem zweiten, der sich für die Schließung der Häuser einsetzt und beziehungsreich »Persiane chiuse« (Geschlossene Jalousien) heißt.
Der dritte Streifen geht ganz anders aus. Die Darsteller und vor allem die Darstellerinnen sollen aus der Wirklichkeit entnommen werden und ihr eigenes Leben spielen, will Regisseur Mastrocinque. Der vierte Film ist so ähnlich. Er heißt »Ich hab' vom Paradies geträumt« und wird von Regisseur Pastina direkt in einer römischen »casa di tolleranza« gedreht. Es geht in diesen beiden um einige Mädchen ohne Rehabilitierungsmöglichkeiten.
Nun wird das alles in Italien deswegen genau so zwiespältig angesehen, wie in den vier Filmen, weil die öffentlichen Häuser ein Stück staatlich autorisiertes öffentliches Leben sind (wie auch in Spanien und Portugal). Das italienische Innenministerium führt genau Buch über die erteilten Lizenzen und die Zahl der belegten Plätze. Danach gibt es in Italien 715 Häuser mit 3314 »Pensionärinnen«, 593 Plätze sind zur Zeit vakant.
Auch die finanzielle Seite des Gewerbes ist auf dem Verordnungsweg genau geregelt. Die Mädchen haben von dem tarifmäßigen Verdienst, dessen Höhe öffentlich angeschlagen sein muß, die Hälfte an den Unternehmer abzuführen. Dem Unternehmer bleibt nach Abzug der Steuern und Betriebsunkosten ein Reingewinn von 30 Prozent. Der italienische Staat verdient an Steuern zehn bis 15 Milliarden Lire im Jahr (70-100 Millionen DM). Damit erschöpft sich aber auch sein Interesse. Die Zustände, die in den Häusern herrschen, bieten der Senatorin Merlin mehr als genug Argumente, die Schließung zu fordern.
Die Mädchen werden auf kaum vorstellbare Weise ausgenutzt. Theoretisch können sie jeden zweiten Tag für zwei Stunden das Haus verlassen. Aber daran halten sich nur die wenigsten Unternehmer. In etwa einem Fünftel aller Häuser gibt es überhaupt keine Freizeit.
Siebzig Prozent der Mädchen haben ein Kind oder auch mehrere Kinder, die sie recht und schlecht unterhalten. Spätestens mit 35 Jahren sind sie verbraucht. Kaum einer gelingt es dann, zu heiraten oder sich umzustellen. So bleiben sie im Gewerbe, nun auf eigene Rechnung als Straßenmädchen. Das italienische Innenministerium schätzt deren Zahl auf 200000. Theoretisch werden auch sie alle kontrolliert.
Ungeheuer ist in den letzten Jahren die dritte Gruppe, die der »Heimlichen«, gewachsen. Vor dem Kriege gab es in Rom zehn bis 15 »Case di appuntamento«, Rendezvous-Häuser, in denen man sich heimlich traf. Heute gibt es an die zweitausend.
Die Mailänder Zeitschrift »Tempo« schätzt, daß es in Italien 800000 »Heimliche« gibt. Damit übersteigt die Zahl aller Prostituierten eine Million.
Die staatlich kontrollierten Häuser beherbergen also nur den kleinsten und am besten kontrollierten Teil dieser Frauen. Aber Angelina Merlin meint, die schrankenlose Ausbeutung durch Unternehmer und »Freunde« dürfe auf gar keinen Fall noch länger staatlich sanktioniert werden.
Ob sie nach Schließung der Häuser verschwinden wird, ist freilich mehr als unwahrscheinlich. In Frankreich beispielsweise wurden 1946 alle öffentlichen Häuser gesetzlich verboten und geschlossen. Es ist seither soweit gekommen, daß die Nationalversammlung sich in nächster Zeit mit einem Gesetzentwurf befassen wird, nach dem derlei Institute wieder eröffnet werden sollen. Es ist statistisch nachgewiesen, daß sich seit 1946 die Zahl der neu gemeldeten Geschlechtskrankheiten in Paris um siebentausend erhöht hat.
Italiens Unternehmer weisen denn auch auf die medizinischen Nachteile des französischen Schließungs-Beispiels und suchen die Senatorin Merlin ins Unrecht zu setzen. Im vergangenen Frühjahr haben sie sich zu einem Landesverband zusammengeschlossen, der Rundschreiben an alle Mitglieder versendet.
Es wird nichts nützen. Die Chancen der Senatorin Merlin sind günstig. Spätestens in einem Jahr werden alle »offiziellen« öffentlichen Häuser geschlossen sein. Die vornehmen in Mailand und Rom, genau so wie die kleinen Provinzetablissements.