BONN / GROSSE KOALITION Vom Tisch
Jubilar Kurt Georg Kiesinger, mit 65 Jahren ins Pensionsalter eingetreten, schwor seinen Lebensgewohnheiten ab.
Den Kopf zur Seite geneigt, vertraute er letzte Woche Gratulanten an·. »Vor uns liegen noch viele dicke Brocken, doch jetzt werden wir aufräumen.«
Seit seinem Regierungsantritt hatte der Kanzler der Großen Koalition Probleme zwischen den Regierungspartnern ausgeklammert. Nun, während der Kiesinger-Festwoche in Bonn, wollte er entschlußfreudig erledigen, was im schwarz-roten Schlendrian der letzten zweieinhalb Jahre zum Ärger der Bürger liegengeblieben war.
Denn der unbewältigte Schutt der Vergangenheit erschwerte beiden Teilhabern »der Bonner Macht den Weg zum Wahlerfolg. Und so fanden sich unter dem Zwang, den Wählern -- wenn auch zu später Stunde -- Erfolge zu präsentieren und sich vom Partner nicht zum Sündenbock für Mißerfolge stempeln zu lassen, Christ- und Sozialdemokraten zu einer Woche der notgedrungenen Brüderlichkeit zusammen.
Auf einem Essen im großen Kabinettsaal des Palais Schaumburg verordnete Kiesinger letzte Woche seinen CDU/CSU-Ministern, den Fraktionsdirigenten Barzel und Stücklen sowie dem Parteimanager Heck das Pensum. Auf der Kabinettsitzung am Mittwoch, der letzten, über deren Beschlüsse der Bundestag noch vor dem Ende der Legislaturperiode im ordentlichen Beratungsverfahren entscheiden kann, müsse endlich die Frage einer Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord und Völkermord vom Tisch.
Ex-Justizminister Heinemann (SPD) hatte schon vor zwei Jahren die generelle Aufhebung der Verjährung für Mord und Völkermord gefordert, die CDU/CSU hatte sich bislang dagegen gesträubt.
Außerdem solle, so Kiesinger, das Kabinett entscheiden über
* ein Verbot der ultra-rechten NPD, das von der SPD und CDU-Innenminister Benda gegen eine CDU! CSU-Mehrheit gefordert wurde, und -- im Gegenzug -- ein Verbot der linksradikalen DKP, das die CDU/CSU gegen die SPD durchsetzen wollte;
* den Atomsperrvertrag, den Willy Brandts Sozialdemokraten aus außenpolitischen Gründen möglichst bald signiert sehen, Straußens Christsoziale aber als »Ausschlußvertrag« verworfen wissen wollen. Auch im Bundestag stapelten sich wichtige staats- und gesellschaftspolitische Reformwerke, die einst als Rechtfertigungsgrund der Großen Koalition vorgetragen worden waren und sich jetzt als Solibruchstelle des Machtkartells erwiesen. Dem Parlament lagen in der letzten Woche vor: > ein von der oppositionellen FDP gefordertes Verhandlungsangebot an die DDR, mit dem der sozialdemokratische Deutschlandminister Herbert Wehner liebäugelt, das die konservativen Christdemokraten jedoch beargwöhnen;
* die in der Regierungserklärung von Kiesinger im Dezember 1966 versprochene Reform der Staatsfinanzen, die bislang strittig war zwischen den reichen SPD-Bundesländern und den armen CDU-Hochburgen, dem zentralistischen Bundestag und dem föderalistischen Bundesrat;
* die Lohnfortzahlung für kranke Arbeiter, die von Sozialdemokraten und Gewerkschaften gefordert, vom CDU-Mittelstand und der Industrie aber bestenfalls dann akzeptiert wird, wenn die kranken Arbeiter sich an den Krankheitskosten beteiligen.
Dem Kiesinger-Programm fügte sich auch die SPD. Zum vorletzten Wochenende noch hatte SPD-Chef Brandt seinen Kanzler der »Entschlußlosigkeit« geziehen, CDU/CSU-Fraktionschef Barzel dem SPD-Kanzlerkandidaten »Arroganz« vorgeworfen.
Am Mittwoch und Donnerstag aber diskutierten Christ- und Sozialdemokraten ohne Haß und Hader 17 Stunden lang an Kiesingers Kabinettstafel; im Parlament zogen sie Seite an Seite durch dieselbe Hammelsprungtür.
Gemeinsam bewältigten sie Relikte aus Deutschlands brauner Vergangenheit, gemeinsam verkleisterten sie die Finanznot der Gegenwart, gemeinsam schoben sie Deutschlands außenpolitische Zukunft auf die lange Bank.
Mühsam, aber entschlossen einigten sich Rote und Schwarze auf Heinemanns Verjährungsformel. SPD-Justizminister Ehmke, mit Lob für andere sonst sparsam, rühmte die Koalitionsrunde: »Das waren Kabinettsdebatten, an die ich denken werde« (siehe Seite 30).
Zuvor schon hatte das Kabinett entschieden, sich der Konkurrenz von links- und rechtsaußen in der Bundestagswahl nicht durch Richterspruch zu entledigen. Innenminister Benda, über Monate leidenschaftlicher Verfechter eines NPD-Verbots, schickte sich elastisch in den demokratischen Konsens. Zur entscheidenden Sitzung am Mittwoch brachte er »selbst bereits den Entwurf eines Kommuniqués mit, nach dem »zunächst die deutschen Wähler ihr Urteil über diese Partei fällen« sollen.
Bendas Formulierungshilfe für den Verzicht auf ein Verbot kann freilich die lang anhaltende Uneinsichtigkeil des Innenministers in dieser Frage kaum kaschieren: Der Verzicht war Bendas Blamage.
Zur gleichen Stunde segnete eine Zweidrittel-Mehrheit aus CDU/CSU- und SPD-Abgeordneten ein kompliziertes Gesetzesgebilde ein, das Finanzminister Strauß für eine Finanzreform und »das äußerste angesichts der unterschiedlichen Interessenlage« hält (siehe Seite 32). Den Streit über die Lohnfortzahlung beerdigten die Koalitionspartner mit zwei getrennten Gesetzentwürfen und dem Gelöbnis. beide in den letzten .Beratungswochen noch zu einem Kompromiß zu verschmelzen.
Vom Bundestags-Hammelsprung über die Finanzreform an den Kabinettstisch zurückgekehrt, vermieden die Minister den offenen Konflikt über den Atomsperrvertrag. Die auf strikte Ablehnung des Abkommens festgelegten CSU-Regenten verschafften durch Auszug aus dem Kabinettsaal dem Kanzler Fristaufschub für die Klärung angeblich noch offener Fragen. Die auf sofortige Unterzeichnung drängenden Sozialdemokraten ließen sich von CDU-Wissenschaftsminister Stoltenberg vertrösten: »Selbstverständlich werden wir eines Tages unterschreiben.«
In Bonns Woche der schwarz-roten Brüderlichkeit geschah freilich auch dies: Herbert Wehner stärkte heimlich die progressiven Freidemokraten bei einem gemeinsamen Frühstück in seinem Bungalow mit der Hoffnung auf eine künftige linksliberale SPD/FDP-Koalition.
Denn auch das gehört seit einem konspirativen Umtrunk des CDU-Generalsekretärs Heck bei FDP-Vize Genscher Ende Februar zu den Gemeinsamkeiten von Christ- und Sozialdemokraten. Sie betrügen einander -- mit der FDP.