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KRIMINALITÄT Von der Rolle

Immer mehr Mädchen-Gangs treiben auf Deutschlands Straßen ihr Unwesen. Die Täterinnen gehen mitunter brutaler vor als ihre männlichen Kollegen.
aus DER SPIEGEL 25/2003

Es war nur ein Streit auf dem Pausenhof, harmlos, Schulalltag. Das Mädchen hatte wohl ein bisschen aufgeschnitten, Sachen erzählt, die vielleicht nicht stimmten. Wie das Zwölfjährige eben tun. Doch Strafe sollte sein, beschloss die Clique der Hauptschule in dem kleinen Ort bei Lindau.

An einem Nachmittag Ende März lockten die Schülerinnen das Mädchen in den Wald und quälten es: mit Prügeln, mit Fußtritten, mit brennenden Zigaretten - bis es schwer verletzt zusammenbrach. Ein Kind, gefoltert von Kindern.

Der Fall sorgte für Schlagzeilen in der friedlichen Bodensee-Region. Eine so brutale Strafaktion, von Mädchen rücksichtslos durchgezogen, hatte es dort noch nie gegeben. Auf den Straßen deutscher Großstädte dagegen gehören weibliche Gewalttäter inzwischen fast schon zum Alltag: Sie treten meist in Gruppen auf, kennen keine Gnade im Umgang mit ihren Opfern - und haben die Pubertät oft erst noch vor sich.

Viele der Mädchen brauchen weder Staatsanwalt noch Gefängnis zu fürchten: Meist sind sie unter 14 und noch nicht strafmündig. Steckt man sie in Heime, so die Erfahrung von Sozialarbeitern in Berlin und Köln, büxen sie am nächsten Tag wieder aus - und treiben ihr Unwesen weiter.

Die Gangs überfallen Passanten in der U-Bahn, klauen Elektrogeräte in den Kaufhäusern, erpressen Geld von Mitschülern. Wenn sie auf Raubzug gehen, sind sie häufig schwer bewaffnet: mit Klappmessern, Schlagstöcken und manchmal sogar mit Pistolen.

Besorgt beobachten die Streetworker in Berlin bei Mädchen »einen Trend zur Gewöhnung an Gewalt«, sagt Thomas Grasnick vom Hellersdorfer Förderverein für Jugend und Sozialarbeit, zum Teil gingen sie sogar brutaler als Jungs vor. Möglicherweise ließen sie sich von Filmheldinnen wie der schießenden Lara Croft animieren.

Die Cyberfrau nimmt sich, was sie kriegen kann. Nach dieser Devise handelte auch die Berliner Mädchen-Gang The Queens: Die »Königinnen«, 13 bis 15 Jahre alt, überfielen regelmäßig Touristen im Stadtzentrum. Anschließend verhökerten sie erbeutete CD-Player, Handys, Schmuck und teure Kosmetika auf dem Schwarzmarkt.

Noch rücksichtsloser gingen drei Teens im Berliner Bezirk Neukölln zur Sache. Mit einer Pistole überfielen die Freundinnen eine Videothek und donnerten der Kassiererin einen Aschenbecher an den Kopf. Die Beute: 500 Euro.

Der Trend ist eindeutig: In Bayern etwa waren im Jahr 2002 von den rund 50 000 minderjährigen Tatverdächtigen bereits mehr als 13 000 weiblich, also 26 Prozent. Und auch bundesweit stellen die Mädchen rund ein Viertel der Jungkriminellen. Sie »lösen sich eben nicht nur im Beruf vom klassischen Rollenverständnis«, sagt Winfried Roll von der Berliner Polizei.

Den Pistolengirls gehe es um das Gruppenerlebnis, meinen Jugendbeauftragte der Kriminalpolizei, die Gang werde zu einer Art Familienersatz. Vor allem aber wollten die Täterinnen den Jungs zeigen, dass sie ihnen ebenbürtig seien.

Früher standen Mädels meist nur Schmiere. Heute begnügen sie sich nicht mehr damit, die Gangsterbraut zu spielen, sondern schreiten selbst zur Tat. Wie Dora aus Frankfurt: Schon im zarten Alter von elf Jahren räumte sie Autos aus, später klaute sie mit ihren Komplizinnen Hightech-Geräte. Damit machte die diebische Combo so viel Geld, dass sie sich kostspielige Nächte in Hotels leisten konnte, einen Fahrer oder Besuche in teuren Lokalen - bis die Bande aufflog.

Nur drei Monate ging Dora, inzwischen 19, ins Gefängnis, trotz ihrer Vorstrafen. Denn wenn junge Frauen auf der Anklagebank sitzen, drücken Richter oft ein Auge zu und urteilen milder als bei heranwachsenden Männern.

Behörden im ganzen Bundesgebiet tun sich schwer damit, die gestiegene Gewaltbereitschaft der Mädchen zu erklären. Therapeuten halten sie für eine Art Überlebensstrategie, die vor allem Töchter trinkender und prügelnder Väter verfolgen: Bislang versuchten diese Kinder, sich durch Drogen oder Magersucht selbst zu zerstören, mittlerweile richten sie häufig ihre Aggression nach außen. »Vielen vermittelt nur das Schlagen ein Gefühl von Stärke«, sagt die Frankfurter Sozialarbeiterin Hilde Lüssem.

Und manchmal zielt die Gewalt sogar gegen die eigene Familie. Im Westallgäu überfiel eine 14-Jährige gemeinsam mit drei Freunden ihre Mutter, um deren Auto zu klauen. Die Frau wurde mit einer Bratpfanne niedergeschlagen. Der Grund: Die Clique wollte mal nach Italien. Später wurde die Gruppe bei Jesolo aufgegriffen. Das Auto war allerdings weg, vermutlich gegen Bargeld getauscht. CONNY NEUMANN

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