Frankreich Von oben blockiert
Der Angeklagte schilderte sich als Opfer höherer Gewalt. »Mir wird unterstellt, ich hätte die rassistische Verfolgungspolitik unterstützt«, verteidigte er sich, »also, meine Herren, wenn ich diese Politik unterstützt habe, dann so wie der Strick den Gehenkten.« Die ihm vorgeworfene Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern sei allenfalls zu vergleichen »mit der Kollaboration zwischen Blitzableiter und Blitz«.
Die Richter des Hohen Gerichtshofs, vor dem sich Rene Bousquet 1949 verantworten mußte, urteilten salomonisch: Sie sprachen dem Angeklagten, der nach Kriegsende zwei Jahre ohne Urteil in der Zelle verbracht hatte, die bürgerlichen Ehrenrechte auf fünf Jahre ab - erkannten sie ihm aber gleich wieder zu, weil er auch Widerständler unterstützt hatte.
Nun soll sich Bousquet, inzwischen 81 und pensioniert als Verlagsdirektor wie Bankier, wieder vor Gericht verantworten - diesmal nicht wegen Kollaboration, sondern wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Denn von April 1942 bis Dezember 1943 war Bousquet im Vichy-Regime des Marschalls Philippe Petain als Generalsekretär zuständig für die französische Polizei gewesen. Und die bewies zuweilen mehr Eifer bei der Festnahme von Juden, als die deutschen Besatzer verlangten.
In einer Mitteilung des »Höheren SS- und Polizeiführers im Bereich des Militärbefehlshabers in Frankreich« vom 4. Juli 1942 beispielsweise resümierte der deutsche Offizier eine Unterredung mit Bousquet: _____« Da auf Grund der Intervention des Marschalls in » _____« Frankreich vorläufig keine Juden französischer » _____« Nationalität festgenommen werden sollen, erklärt sich » _____« Bousquet bereit, im gesamten Frankreich in einer » _____« einheitlich durchgeführten Aktion Juden ausländischer » _____« Staatsangehörigkeit in der von uns gewünschten Höhe » _____« festnehmen zu lassen. »
Rund 330 000 Juden lebten Ende 1940 in Frankreich, etwa 130 000 von ihnen waren Ausländer. Auf die vor allem konzentrierten sich zunächst die Razzien der französischen Polizei, die auch 7000 deutsche und 2500 österreichische Juden - Flüchtlinge, die sich in das unbesetzte Frankreich gerettet hatten - an die Nazis auslieferte. Die Mehrheit der Juden, etwa 75 Prozent, überlebten den Holocaust, weil Franzosen sie vor Razzien warnten und versteckten.
In den Monaten, in denen Bousquet amtierte, überstellten französische Polizisten rund 60 000 Juden an die Nazis. In Großrazzien, etwa am 16. und 17. Juli 1942, nahmen die Bousquet unterstehenden Beamten 13 152 ausländische Juden fest, die im Pariser Radrennstadion »Velodrome d'hiver« sowie dem KZ Drancy zusammengepfercht und schließlich in deutsche Konzentrationslager verschleppt wurden. Der erste Transport von Juden aus Frankreich nach Auschwitz war im März 1942 organisiert worden.
Dafür will der Pariser Anwalt Serge Klarsfeld - dessen deutsche Ehefrau Beate 1968 den damaligen Kanzler Kurt-Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit öffentlich ohrfeigte - Bousquet erneut zur Rechenschaft ziehen, obwohl die französische Justiz wenig Interesse zeigt. Klarsfeld, der die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der Endlösung der Judenfrage in einem Buch auch dokumentarisch belegte, möchte »über die Person Bousquet dem Volk klarmachen, daß Vichy eine Mitschuld am Holocaust nicht verleugnen oder unterdrücken kann«.
Der Jurist ist getrieben von der Furcht, Frankreich könnte die dunklen Kapitel seiner Geschichte vergessen und allmählich das Vichy-Regime im kollektiven Bewußtsein rehabilitieren. »Das einzige Hindernis, das dieser Entwicklung im Weg steht«, sagt der jüdische Anwalt, der als Achtjähriger miterlebte, wie sein Vater in Nizza von den Nazis festgenommen wurde, »ist das Bild von den jüdischen Kindern, die von Franzosen in die KZs getrieben wurden.«
Klarsfeld glaubt beweisen zu können, daß Bousquet für die »Deportation von mindestens 300 jüdischen Kindern verantwortlich« sei. In einem Telegramm hatte Bousquet im August 1942 den Regional-Präfekten befohlen: »Damit Eltern und Kinder nicht getrennt werden, teile ich Ihnen mit, daß bis spätestens 2. September die israelitischen Kinder, die sich gegenwärtig in Kinderheimen Ihres Departements befinden, unter Bewachung in das Lager Rivesaltes gebracht werden sollen.«
Im März informierte ein Pariser Richter Bousquet, daß gegen ihn ermittelt werde. »Falls die Bereitschaft« bestehe, argumentiert Klarsfeld, könnte der Prozeß gegen Bousquet »in vier Wochen« eröffnet werden, die historischen Tatsachen seien aufgearbeitet. Für denkbar hält er allerdings auch, »daß es erst in zehn Jahren zur Verhandlung kommt« - mit ähnlichen Folgen wie beim Bousquet-Mitarbeiter Jean Leguay. Gegen den war 1979 ebenfalls ein Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eröffnet worden. Ein Jahrzehnt bearbeiteten die Richter seinen Fall, dann starb Leguay.
»Mancher würde sicherlich aufatmen«, glaubt Klarsfeld, wenn auch Bousquet »plötzlich abberufen« würde. Die Zusammenarbeit der französischen Polizei mit den Nazis bei der Judenverschleppung blieb nämlich über Jahrzehnte »der verborgenste, der am meisten geleugnete Aspekt« (L'Express) der französischen Kriegsgeschichte.
In den Verfahren gegen Kollaborateure liefen Verbrechen an den Juden »meist nur am Rande mit« (Klarsfeld). »Historische Bedeutung«, glaubt die Liberation, könnte deshalb ein Prozeß gegen Bousquet haben.
Doch Klarsfeld befürchtet: »Die Nation will diese Art Prozesse nicht.« Über Jahre hatte zum Beispiel der französische Geheimdienst den Behörden gemeldet, wo der in Abwesenheit zum Tode verurteilte Vichy-Generalkommissar für Judenfragen, Louis Darquier de Pellepoix, zu finden war - in Madrid.
Paris, so Klarsfeld, war nicht sonderlich eifrig darauf bedacht, seine Auslieferung zu bewirken: »Damals wollte man einfach keinen Prozeß über antijüdische Aktionen von Franzosen. Die Schuld sollte allein eine deutsche bleiben.« In den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende seien »neun von zehn Franzosen« überzeugt gewesen, daß »allein die Gestapo« Juden festgenommen habe. So stand es bis 1983 auch in den Geschichtsbüchern der Schulen.
»Ist es nicht endlich soweit, die Zeit zu vergessen, in der sich Franzosen gegenseitig umbrachten?« entgegnete Präsident Georges Pompidou 1971 jenen Bürgern, die nicht einsehen wollten, warum der Staatschef die Verfolgung Paul Touviers, eines der ehemaligen Miliz-Chefs in Lyon und damit Vertrauter des dortigen Gestapo-Chefs Klaus Barbie, aussetzte. Zwei Jahre später eröffnete die Justiz erneut ein Verfahren gegen Touvier. Der suchte Zuflucht bei Freunden - Mönche schirmten ihn gegen die Fahnder ab. Seit seiner Verhaftung 1989 wartet er auf seinen Prozeß. Der Termin für die Verhandlung steht immer noch nicht fest.
Seit 1983 ermittelt die Justiz auch gegen Maurice Papon, 80. »Über einen einzelnen«, wehrte sich Papon, der Minister unter Valery Giscard d'Estaing gewesen war, »versucht man, auf ewig Schuld festzuschreiben.« Frankreich solle als »Komplize Nazi-Deutschlands und Koautor des Genozids« erscheinen.
Klarsfeld verfügt »über eine ganze Reihe von Dokumenten«, die angeblich beweisen: Als Generalsekretär des Regional-Präfekten in Bordeaux habe »Papon die Polizei und die Verantwortung für den ordnungsgemäßen Ablauf des Abtransports der Juden« unterstanden.
Wie so manche Franzosen, die für Vichy-Frankreich arbeiteten, hielt Papon allerdings auch Kontakt zur Resistance und unterstützte die Widerständler.
Seine Vichy-Vergangenheit hinderte auch Rene Bousquet nicht am sozialen Aufstieg nach 1949: In Toulouse wurde er Verlagsleiter der Depeche du Midi, bei der Banque d'Indochine avancierte er zum Direktor. Im Prominenten-Nachschlagewerk »Who's who« resümierte er seine Karrierejahre 1942/43 mit dem Hinweis, er sei »Berater des Staates für außergewöhnliche Dienste« gewesen.
Klarsfeld erklärt den Schlendrian der Justiz und die Gleichgültigkeit der Politiker so: »Das wird von oben blockiert.« Oben, das ist für ihn ganz oben - beim Präsidenten. Francois Mitterrand »verhält sich wie alle seine Vorgänger« seit dem Zweiten Weltkrieg: »Sie wollen die Geister von Vichy nicht wecken.«
Wecken möchte Francois Mitterrand vor allem nicht die Erinnerung an die eigene Vergangenheit. Bevor er in den Widerstand abtauchte, war er 1942 Vichy-Funktionär - zu einer Zeit also, in der auf dem von Vichy kontrollierten Territorium »Tausende von Juden in Lagern gestorben sind, mit denen Deutsche nichts zu tun hatten« (Klarsfeld).
Einmal hat der Jurist den Präsidenten auf die Schuld des Vichy-Regimes angesprochen - vor einem Mitterrand-Besuch in Auschwitz: »Herr Präsident, denken Sie im KZ daran, daß die einzigen Juden Europas, die aus unbesetzten Gebieten deportiert wurden, aus Frankreich kamen.« Mitterrand: »Ich war nicht in Vichy zu jener Zeit, sondern in Saint-Tropez.« Klarsfeld schien es so, als hätte der Staatschef »meine Äußerung persönlich genommen«.
Als der Intimus des Präsidenten, der Beigeordnete Justizminister Georges Kiejman, öffentlich gegen ein Bousquet-Verfahren argumentierte, weil für ihn wichtiger noch »als der Kampf gegen das Vergessen« die Wahrung des inneren Friedens der Nation sei, zürnte Klarsfeld: Der Sohn eines jüdischen Deportierten (gemeint war der frühere Justizminister Robert Badinter) habe das Verfahren gegen Klaus Barbie ermöglicht, der Sohn eines anderen jüdischen Deportierten, nämlich Kiejman, sei (im Oktober letzten Jahres) ins Justizministerium berufen worden, »um den Prozeß gegen einen französischen Nazi zu verhindern«.
Kiejman verbat sich die Unterstellung Klarsfelds. Für den Minister gibt es »andere Mittel, die Feigheit des Vichy-Regimes aufzuzeigen«. o