THYSSEN-ZUSAMMENSCHLUSS Von Skandal gesprochen
Auch der Rechtsanwalt und Notar
Dr. Heinrich von Brentano hatte die Oberen der Montan-Union nicht mehr umzustimmen vermocht. Obwohl die Geschäftsleitung der August Thyssen-Hütte AG (ATH) den ehemaligen Bundesaußenminister noch schnell zum Jahresanfang beauftragt hatte, in Luxemburg ihren Antrag auf Vereinigung mit dem Stahl- und Röhrentrust Phoenix-Rheinrohr AG zu verfechten, traf die Hohe Behörde eine harte Entscheidung.
Sie will dem ATH-Chef Hans-Günther Sohl die seit Jahren angestrebte Verbindung der beiden letztlich durch die Kriegsereignisse getrennten Thyssen-Firmen nur unter der Voraussetzung einer Art Selbstamputation gestatten. Generaldirektor Sohl, der sich durch das Luxemburger Verdikt um die schon greifbar gewähnte Krönung seines Lebenswerks betrogen sieht, wehrt sich dagegen mit einer Klage beim Gerichtshof der Montan-Union.
Am 29. Oktober 1958 hatte Sohl den ersten Anlauf genommen, das Imperium mit fast 74 000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von insgesamt 4,1 Milliarden Mark zusammenzuschmieden. Mit seinem Antrag bei der Luxemburger Behörde kam er überdies einem Herzenswunsch der Großaktionärin Amélie Thyssen, 85, nach. Die Witwe grämte sich, daß die zu ihrem Besitz zählende Phoenix-Rheinrohr AG nicht den Namen ihres verstorbenen Mannes Fritz Thyssen trug*.
Das Thyssen-Vermögen war nach dem Zusammenbruch von den alliierten Entflechtern zerschlagen worden. Im Zuge der verordneten Beschränkung auf einzelne Unternehmen kaufte sich Frau Thyssens Tochter, Anita Gräfin de Zichy, später mühsam wieder in die ATH ein, die Sohl zu einem bedeutenden Konzern ausbaute.
Mutter Amélie dagegen hatte ihr Schicksal dem Gelsenkirchener Selfmademan Fritz-Aurel Goergen anvertraut, der ausanderen Trümmern der einstigen Thyssen-Gruppe den Phoenix-Rheinrohr-Konzern bildete. Als Goergen, heute Generaldirektor und Mehrheitsaktionär der Kasseler Maschinenfabrik Henschel, 1957 ausschied, war der Weg zur Verbindung der beiden Thyssen-Konzerne unter Hans-Günther Sohl frei.
Amélie Thyssen wollte ihre 52prozentige Beteiligung am Phoenix-Kapital der ATH überlassen und im Austausch dafür Aktien der ATH übernehmen. Mutter und Tochter hätten dann 51,7 Prozent des ATH-Kapitals und damit eine sichere Mehrheit in ihrem angestammten Unternehmen besessen, die August Thyssen-Hütte AG andererseits wäre Phoenix-Großaktionär geworden.
Die Luxemburger Montan-Aufseher indes meinten, mit dem Zusammenschluß entstünde eine Machtkonzentration, die für den Wettbewerb von Nachteil sein könnte. Unter der Führung des damaligen holländischen Mitglieds in der Hohen Behörde, Dirk Spierenburg, verlangten sie daher von Sohl, er solle vor dem Aktientausch zunächst verschiedene wichtige Beteiligungspakete der ATH an Handels- und Produktionsbetrieben der Stahlbranche verkaufen und sich vor allem mit einer Kontrolle aller künftigen Investitionen im Konzern durch die Hohe Behörde einverstanden erklären.
Am 27. April 1960 zog Sohl daher seinen Antrag empört zurück und versicherte seinen Aktionären, daß er von der wiedergewonnenen Handlungsfreiheit »den rechten Gebrauch machen« werde.
Er tat es: Die ATH verstärkte ihre bis dahin 25prozentigen Beteiligungen an der (Stahl-)Handelsunion AG und an den Stahlwerken Rasselstein auf 50 Prozent und mehr.
Andererseits verkaufte Sohl eine Beteiligung an der Hüttenwerke Siegerland AG für 76 Millionen Mark an die Dortmund-Hörder Hüttenunion AG, fesselte das Unternehmen aber zugleich durch einen langfristigen Vertrag: Das Verarbeitungswerk Siegerland mußte sich verpflichten, zehn Jahre lang - bis 1971 - jährlich 156 000 Tonnen Breitband von der August Thyssen-Hütte in Duisburg zu beziehen.
Schließlich sicherten sich Sohl und die Thyssen-Erben noch die Sympathien der Öffentlichkeit und der Bundesregierung: Die Thyssen-Damen Amélie und Anita stifteten Aktien im Nennwert von 100 Millionen Mark zum Nutzen der deutschen Wissenschaft. Das Aktienvermögen sollte einem Fonds übertragen werden, sobald Luxemburg die Genehmigung erteilte.
So präpariert, beantragte der Thyssen-Statthalter Sohl am 23. Mai 1962 erneut die Erlaubnis zum Zusammenschluß der Unternehmen. Das Hinausschieben der Entscheidung über den zweiten Antrag begründeten die Beamten mit Personalmangel in der Hohen Behörde.
Am 10. Juli 1963 kam nun für Sohl der Schock aus Luxemburg. Nach dem 14 Seiten füllenden Schriftsatz der »Generaldirektion Wirtschaft und Energie, Direktion Kartelle und Zusammenschlüsse« würde die Konzentration beider Gruppen nur erlaubt, wenn Sohl
- den Liefervertrag mit den Siegerländer Hüttenwerken bis zum 31. Dezember 1963 »insoweit abändert, daß darin keine den Wettbewerb beeinträchtigende Einflußmöglichkeit mehr gesehen werden kann«.
Im einzelnen wurde zu diesem Zweck festgelegt: Sohls ATH solle vom 1. Januar 1964 an ihre monatlichen Lieferungen von 13 000 Tonnen Breitband an die Siegerland-Werke zunächst auf 10 000 Tonnen abbauen und von Ende 1966 an völlig einstellen.
Sohl hatte sich durch den Vertrag mit Siegerland für zehn Jahre je 156 000 Tonnen Absatz gesichert und bei der Planung seiner Walzwerke die Siegerland-Geschäfte fest einkalkuliert. Da Sohl bei der ATH ohnehin eine forcierte Kapazitätsausweitung betrieben hat (SPIEGEL 28/1963), müßte er seine Produktion kaum zumutbar drosseln.
Die Luxemburger begründeten ihre Forderung mit der »Gefahr, daß die ATH auf Grund ihrer starken Stellung und mittels langfristiger Verträge (mit Siegerland) in die Lage versetzt wird, die Erzeugung von Warmbreitband ... auf sich zu konzentrieren ... und die Produktionsbedingungen wesentlicher Wettbewerber maßgeblich zu beeinflussen«.
Da eine solche Marktbeherrschung, zumindest im Rahmen der sechs Montan -Union-Länder, unwahrscheinlich ist, werden an der Ruhr für den Bescheid aus Luxemburg auch andere Ursachen vermutet. In dem Entscheid heißt es nämlich, daß auch »die Unabhängigkeit der Geschäftspolitik der ... Dortmund -Hörder Hüttenunion«, Mehrheitsaktionärin von Siegerland, »gefährdet« sei.
Da an dieser Dortmund-Hörder Firma als Großaktionärin die Koninkijken Nederlandsche Hoogovens en Staalfabrieken beteiligt sind, setzte sich Luxemburg dem Verdacht aus, daß der holländische Anti-Ruhr-Komplex bei der Entscheidung den Ausschlag gegeben hat. Denn bei einem Abbau der Thyssen-Lieferungen an die Siegerlandwerke würde naturgemäß die Dortmund-Hörder Hüttenunion als Breitbandlieferant einspringen.
Die »Deutsche Zeitung« schrieb: »Man wird hoffen dürfen, daß sich hier nicht etwa der Einfluß von Konkurrenzunternehmen niederschlägt, die die Lieferungen übernehmen wollen, auf die die Thyssen-Hütte verzichten soll. Dann nämlich könnte nur noch von einem Skandal gesprochen werden.«
Hans-Günther Sohl will jetzt das Thyssen-Schicksal den Richtern des Europäischen Gerichtshofs anvertrauen
- einer Institution, bei der die andere
deutsche Schwerindustriegruppe, die Ruhrkohle, bisher immer abgeblitzt ist.
* Gemäß Artikel 66 des Montan-Vertrages von 1951 bedürfen alle. Zusammenschlüsse von Unternehmen der Stahl- und Kohleindustrie innerhalb der Montan-Union der Genehmigung.
Thyssen-Witwe Amélie, Freund
Vereinigung der Erbmasse ...
Thyssen-Tochter Anita Gräfin de Zichy
... nur mit Genehmigung aus Luxemburg