FINANZEN / MEHRWERTSTEUER Von Stufe zu Stufe
Vierzehn Jahre lang mahlte die Bonner Paragraphenmühle, ehe sie das bislang komplizierteste Gesetzeswerk der Nachkriegszeit ausstieß.
Am Mittwoch letzter Woche verabschiedete der Finanzausschuß des Bundestages den Entwurf zur Reform der Umsatzsteuer. Am 26. April soll das Parlament in letzter Lesung darüber beraten. Die 25 Paragraphen des Reformwerks sollen am 1. Januar 1968 in Kraft treten. Westdeutschlands Unternehmer und Kaufleute müssen eine völlig neue Buchführung lernen. Den Verbrauchern droht eine Welle von Preiserhöhungen.
Das geltende Umsatzsteuer-Recht, 1916 aus einer Stempelsteuer entwickelt, bestimmt, daß in der Regel vier Prozent von jedem wirtschaftlichen Umsatz ans Finanzamt abzuliefern sind. Je mehr Produktions- und Handeisstufen eine Ware durchläuft -- vom Rohstofflieferanten bis zum Hersteller des Fertigfabrikates und von dort über den Großhändler zum Einzelhändler und Konsumenten -, desto größer ist der Steueranteil am Verbraucherpreis.
Die Steuer wird von Stufe zu Stufe weitergewälzt, wobei die Finanzämter auch die bereits vorher bezahlte Abgabe immer aufs neue mitversteuern. So kommt es, daß auf vielen gewerblichen Erzeugnissen, etwa Automobilen, Fernsehern und Kühlschränken, heute mehr als 12 Prozent Umsatzsteuer lasten.
Mittelständler bemängelten schon lange, daß diese sogenannte kumulative Allphasensteuer den Wettbewerb verzerre. Sie begünstige den Großunternehmer, der Produktion und Vertrieb unter einem Firmendach vereinigt.
Der Bund versuchte zunächst, solche Nachteile durch Steuerermäßigungen und -befreiungen, etwa beim Großhandel, zu beseitigen. Trotzdem hätte ihm Ende letzten Jahres das Bundesverfassungsgericht beinahe die Haupteinnahmequelle -- aus der Umsatzsteuer bestreitet der Bund ein Drittel des Etats -- verstopft. Die Richter sahen erst davon ab, die Vier-Prozent-Rechnung für verfassungswidrig zu erklären, als die Regierung gelobte, sie alsbald durch ein neutrales System zu ersetzen: die Mehrwertsteuer.
Nach neuem Recht soll jede Ware mit insgesamt maximal zehn Prozent Umsatzsteuer belastet werden, gleichgültig wie oft sie umgeschlagen wird. Jeder Weiterverarbeiter oder Wiederverkäufer zahlt lediglich für den von ihm erzielten Wertzuwachs. Ein Händler zum Beispiel, der eine Ware für 100 Mark einkauft und für 200 Mark verkauft, braucht Mehrwertsteuer nur für die Differenz zu entrichten (siehe Graphik).
Dazu muß er freilich wissen, mit wieviel Umsatzsteuer die Ware vorbelastet ist. Denn diese Summe kann er von seiner eigenen Steuerschuld -- absetzen. Statt einer Umsatzsteuer-Buchung, so klagte der Deutsche Industrie- und Handelstag, seien in Zukunft durchschnittlich vier vonnöten.
Aus sozialen und politischen Gründen durchlöcherten die Reformatoren ihre Zehn-Prozent-Regel. Zeitungsverleger, Rechtsanwälte und Lebensmittelhändler beispielsweise brauchen nur die Hälfte zu zahlen, Fernsehen, Post, Ärzte und Bauern gar nichts. Auf der Liste der begünstigten Waren erscheinen unter anderem Glasaugen und Zahnprothesen.
Kleingewerbler haben, weil sie der Schreib- und Rechenarbeit vielfach nicht gewachsen sind, außer einem Freibetrag von jährlich 12 000 Mark auch noch die Wahl, wie bisher vier Prozent auf den Brutto-Rechnungsbetrag zu zahlen.
Die volle Schärfe des Gesetzes trifft indes den letzten Verbraucher. Alle Waren und Dienstleistungen, die bislang nur ein- oder zweimal mit je vier Prozent Umsatzsteuer belastet wurden, verteuern sich durch den neuen Zehnten unter Umständen erheblich.
Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke haben deshalb bereits Tariferhöhungen angekündigt. Auch Anstreicher und Elektriker glauben, auf ihre Rechnungen 3,4 Prozent aufschlagen zu müssen. Die Optiker rechnen mit 4,4 Prozent mehr, die Schneider sogar mit fünf Prozent. Da die Kunden die Steuerrechnung nicht kennen, werden auch Friseure, Fleischer und Schankwirte die Stunde nutzen.
Niemand kann vorerst hoffen, dafür mit Preisnachlässen entschädigt zu werden, wo heute bei drei und mehr Produktions- und Handelsstufen die kumulierte Umsatzsteuer mehr als zehn Prozent beträgt. Bei Schuhen und Textilien, die bislang mit mehr als zehn Prozent belastet sind, wird vermutlich der Handel die Steuerersparnis wegstecken.
Während der Reformberatungen wurden 152 Lobbyisten aus 92 Verbänden in Bonn vorstellig. Vor dem Finanzausschuß prophezeite Dr. Arnold Hilden vom Deutschen Beamtenbund, daß »im Zeitpunkt des Übergangs auf das neue Mehrwertsystem Preiserhöhungen sofort in vollem Umfang weitergegeben werden, Preissenkungen aber nicht«.