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FRANKREICH / LUFTZWISCHENFALL Voodoo im Gewitter

aus DER SPIEGEL 31/1965

Um 16.54 Uhr schrillten im Kontrollraum des französischen Atomzentrums von Pierrelatte im Rhône-Tal die Alarmglocken: Auf dem Radarschirm näherte sich ein Lichtpunkt schnell dem Sperrgebiet über der Atomanlage.

Minuten später stieg - vorletzten Freitag - eines der auf dem Rollfeld von Pierrelatte ständig einsatzbereiten »Vautour«-Düsenflugzeuge auf. Der Allwetterjäger identifizierte einen amerikanischen Photo-Aufklärer vom Typ RF 101 »Voodoo« mit Heimatflughafen Ramstein (Pfalz) über dem geheimsten und bestbewachten Ort Frankreichs: In Pierrelattes Isotopentrennungsanlagen wird angereichertes Uran für die französischen Atombomben produziert. Außerdem entstehen in dem Werk, dessen Errichtung fünf Milliarden Mark kostete, die Reaktoren für Frankreichs Atom-U-Boote.

Die »Voodoo« flüchtete. Auf Proteste aus Paris reagierten die Amerikaner wie einst bei dem folgenschweren U-2 -Zwischenfall über der Sowjet-Union im Mai 1960. Damals hatten sie den Fernaufklärer zunächst als Wetter-Erkundungsflugzeug bezeichnet, das sich verfranzt habe.

Diesmal teilte das für die Maschine verantwortliche US-Hauptquartier in Wiesbaden mit, die RF-101 habe auf einem angemeldeten Routineflug einem Gewitter ausweichen müssen.

Am Montag letzter Woche hielt der Direktor der Politischen Abteilung des Pariser Außenministeriums, Charles Lucet, dem US-Gesandtschaftsrat Robert McBride Photos des RF-101-Films unter die Nase, der den Franzosen auf ihr Verlangen sofort nach Landung der Maschine in Ramstein übergeben worden war. Es waren gestochen scharfe Aufnahmen von Pierrelatte.

Der Franzose protestierte formell gegen den Spionageflug und stellte fest:

- Über dem Rhône-Tal habe es am Freitagnachmittag kein Gewitter gegeben;

- die RF-101 habe Pierrelatte insgesamt viermal in 600 Meter Höhe überflogen und 175 Photos geschossen;

- die US-Maschine habe beim Auftauchen des »Vautour«-Jägers die Nachbrenner ihrer Düsentriebwerke eingeschaltet, um dem langsameren Franzosen zu entkommen, sei dann aber noch zweimal zu Aufnahmen zurückgekehrt*.

Der Tiefaufklärer RF-101 tauchte über Pierrelatte auf, nachdem Paris seine jüngsten atomaren Errungenschaften bekanntgegeben hatte:

- Frankreichs Techniker haben ihre A-Bombe derart verkleinert, daß der Transport in Mirage-IV-Bombern keine Schwierigkeiten mehr macht;

- in Pierrelatte wurde mit dem Bau einer Hochdruck-Isotopentrennungsanlage begonnen, die Uran 235 für die künftige französische H-Bombe produzieren wird.

Am Fortschritt der Bauarbeiten hofften die Amerikaner herauszufinden, wie weit die französische H-Bombe bereits gediehen ist.

Zum ersten französischen Sahara -Atomversuch im Februar 1960 hatten die USA, obwohl eingeladen, keine Beobachter entsandt. Doch US-Spezialmaschinen sammelten kurz nach dem Test radioaktive Proben ein. Ein späterer geheimer Sahara-Test wurde von den USA bekanntgegeben, bevor Paris den Versuch publik machte.

Im Frühjahr 1965 kam es im alliierten Atom-Scharmützel erstmals zu einer diplomatischen Auseinandersetzung: Auf Charles de Gaulles persönliche Anordnung wurde das US-Konsulat in der Tahiti-Hauptstadt Papeete geschlossen.

Tahiti ist die Hauptinsel von Französisch-Polynesien im Südpazifik. Dazu gehört auch das Mururoa-Atoll, auf dem in zwei bis drei Jahren die erste französische H-Bombe explodieren soll.

Im Februar 1965, nach Beginn der Vorbereitungen auf Mururoa, hatten die USA ihr seit 1948 aus Ersparnisgründen geschlossenes Konsulat wieder eröffnet. Ungewöhnlich viele US -Schiffe legten in Tahiti an, auch US -Flüge in das Gebiet nahmen zu. Washington bat Frankreich zudem um Erlaubnis zur Errichtung einer Weltraum-Beobachtungsstation in Polynesien.

De Gaulle wies die Amerikaner ab, erklärte den Luftraum über Mururoa zum Sperrgebiet und wies US-Konsul George Grey aus, obwohl das Pariser Außenministerium bereits das Exequatur erteilt hatte. Der General: »Die wollen doch nur spionieren.«

Nach dem Pierrelatte-Zwischenfall sah Amerika-Feind de Gaulle sich bestätigt. Er bekam, wie »France-soir« berichtete, »einen jener Wutanfälle, in die er sich immer steigert, wenn er die französische Souveränität verletzt sieht«. Wie so oft, war die Wut des Generals kalkuliert. Schon früher hatten hoch fliegende U-2-Maschinen Pierrelatte photographiert; gegen sie waren die französischen Jäger jedoch machtlos gewesen.

Das US-State Department entschuldigte sich in Paris und nannte den Zwischenfall »einen bedauerlichen Fehler, der aus verschiedenien Gründen zustande gekommen ist«.

* Die RF-101 erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von 1800 Kilometer in der Stunde, die »Vautour« höchstens 1200 Stundenkilometer.

US-Aufklärer RF-101

Mit Nachbrenner durchgebrannt

Süddeutsche Zeitung

Ein Forscher ist nicht sehr erbaut, wenn man ihm auf die Finger schaut.

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