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POLEN / NACHBARN VOR EINER REVOLUTION VON OBEN

aus DER SPIEGEL 47/1970

In den Ruinen von Warschau versammelten sich am 6. Dezember 1945 ein paar tausend polnischer Kommunisten zum ersten legalen Kongreß der Polnischen Arbeiter-Partei: Streik-Veteranen aus der Vorkriegs-KP, rote Partisanen, letzte Überlebende aus den jüdischen Gettos und aus Konzentrationslagern, Offiziere der polnischen Exil-Armee und heimgekehrte Emigranten aus Moskau.

Heute sind die Helden des Widerstandes in der Partei nur noch eine Minderheit: 60 Prozent der 2,3 Millionen Partei-Mitglieder -- jeder zehnte erwachsene Pole -- sind noch keine 40 Jahre alt.

Doch die inzwischen alt gewordenen Männer der ersten Stunde sitzen noch immer an den Schalthebeln der Macht. Allen voran der Mann, der im ersten Nachkriegs-Winter den eigenen »polnischen Weg zum Sozialismus« proklamierte: Parteichef Wladislaw Gomulka.

Seit Jahren versucht er, die divergierenden Kräfte in Partei und Staat durch die Gemeinsamkeit eines nationalen Engagements zu verklammern und die Polen an die Notwendigkeit eines engen Bündnisses mit dem ungeliebten Nachbarn im Osten zu gewöhnen. Sein polnischer Weg zum Sozialismus, das ist eine von Moskau abgesicherte, aber auch von Moskau unabhängige Politik, das ist der Verzicht auf die Abrechnung mit dem Klassenfeind und das Arrangement mit der Macht der katholischen Kirche:« Wir denken nicht daran, auf irgend jemandes Gewissen herumzutrampeln.«

Doch Ende der vierziger Jahre ließ Stalin die Gomulka-Führung stürzen und ins Gefängnis werfen und degradierte Polen zum Zulieferer-Satelliten seiner Rüstungs-Industrie.

Erst nach achtjähriger Pause, nach seiner Rückkehr zur Macht im Jahre 1956, konnte Gomulka die Fehler der Stalin-Ära korrigieren. Für eine schnelle Besserung der latenten Wirtschaftskrise war es zu spät: Polens Baby-Boom mit einer jährlich um zwei Prozent wachsenden Bevölkerung und das Mißtrauen gegenüber der kommunistischen Planwirtschaft bremsten den zweiten Start.

Die Zwangskollektivierung der Bauern wurde wieder aufgehoben, über 82 Prozent der polnischen Landwirte arbeiten heute auf privater Parzelle. Selbst die von Gomulka empfohlenen »Bauern-Zirkel« -- gemeinsamer Maschinenpark bei individueller Bewirtschaftung -- werden nach einer Umfrage vom Januar 1970 von 77,2 Prozent der Privatbauern abgelehnt. Resultat: Die Vielzahl der rückständig, technisch schlecht ausgestatteten Kleinbetriebe arbeitet mit wenig Effizienz. Im vorigen Jahr sank die landwirtschaftliche Produktion im Vergleich zu 1968 um 4,7 Prozent.

Vor dem Krieg lebten und arbeiteten mehr als 70 Prozent der Polen auf dem Lande. Der industrielle Ausbau hat das Verhältnis zwischen Stadt und Land bis heute nahezu ausgeglichen.

Heute liegt Polen, gemessen an seiner Industrieproduktion, mit einem Gesamtanteil von 2,5 Prozent an zehnter Stelle in der Welt; 1968 konnte es Kanada überholen. Der industrielle Jahreszuwachs ist mit 10,9 Prozent weitaus höher als der Weltdurchschnitt (6,7 Prozent) oder der Zuwachs der EWG-Staaten (6,6 Prozent).

Die polnische Volksrepublik hat nicht nur ihre traditionelle Position als zweitwichtigster Zinkerz-Produzent Europas und drittwichtigster Kohlenlieferant gehalten, sie steht auch In der Herstellung von Werkzeugmaschinen, Fernsehempfängern, Kunstdünger und Kunstfasern bereits an siebter Stelle.

Gleichwohl verhindern überalterte Maschinen und überflüssiges Personal in den Fabriken sowie die Super-Bürokratie der zentralistischen Planung, daß sich das National-Einkommen entsprechend den Plan-Erwartungen entwickelt (1969 statt fünf Prozent nur 3,5 Prozent).

Mehrfache Versuche, die Wirtschaftslenkung zu dezentralisieren und den Produktionsprozeß zu modernisieren, scheiterten. Die Parteiführung fürchtet, über eine selbständig arbeitende Wirtschaft die politische Kontrolle zu verlieren. Erst die für 1971 beschlossene Wirtschaftsreform verspricht eine Wende: Plan- und Produktions-Ziel soll fortan der Betrieb bestimmen, nur noch rentabel arbeitende Firmen bekommen staatliche Kredite.

Voraussetzung für den drastischen Wandel sind verstärkte Wirtschafts-Kontakte mit dem devisenstarken Westen. Polen sucht lukrative Märkte für seine industrielle Produktion, um seinen notwendigen Import von Maschinen, Lizenzen und technischem Know-how zu bezahlen.

Polens wirtschaftliche Neuorientierung erzwingt einen neuen Führungsstil der Partei. Die polnische Jugend, der betulich-mißtrauischen Gängelei durch politische Direktiven müde geworden, drängt daher ungeduldig und selbstbewußt zur Demokratisierung des Regimes und zur Diskussion mit dem Westen. Unterstützung finden die jungen Polen bei pragmatisch denkenden Technokraten im Parteiapparat, die darauf warten, die verdienten Veteranen in der Führung abzulösen.

Der 1956 versprochene Reformkommunismus steht -- als eine Revolution von oben -- wieder auf der Tagesordnung.

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