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NORD-SÜD-KONFLIKT Vorgeschobener Posten

Mit drastischen Maßnahmen, etwa einer »internationalen Steuer«, will Willy Brandt mehr Milliarden für die Dritte Welt lockermachen.
aus DER SPIEGEL 6/1979

Sofort nach seiner Rückkehr aus der Karibik ließ sich Bundeskanzler Helmut Schmidt mit der derzeit prominentesten Halbtagskraft der Republik verbinden: mit seinem Vorgänger, dem SPD-Chef Willy Brandt. Er habe, so berichtete Schmidt dem Ex-Kanzler, auf der Nord-Süd-Konferenz von Jamaika eingesehen, daß sich die Bonner Politik künftig stärker als bisher der Sorgen und Nöte der Dritten Welt annehmen müsse.

Wenn der deutsche Regierungschef auch keine Kehrtwendung machte, so kommt doch seine Kompromißbereitschaft niemandem so gelegen wie dem SPD-Vorsitzenden. Brandt, der sich im Herzzentrum von Hyères an der Côte d"Azur mit viel Trimmen und wenig Arbeit von den Folgen eines Herzinfarkts erholt: »Sehr hilfreich.«

Denn Brandt hat sich als Vorsitzender einer 17köpfigen internationalen Expertenkommission für Entwicklungsfragen verpflichtet, bis zum Frühherbst einen Bericht mit konkreten Vorschlägen zu präsentieren, wie das Wohlstandsgefälle zwischen den reichen Industrienationen im Norden und den armen Entwicklungsländern im Süden der Welt verringert werden kann. Sein Anspruch ist hoch: »Die Regelung des Nord-Süd-Verhältnisses ist die soziale Frage für den Rest dieses Jahrhunderts.«

Brandt weiß, wie schädlich es sich auswirken kann, wenn die beiden ersten Männer der SPD in dieser »sozialen Frage« entgegengesetzte Positionen beziehen würden: Brandt als missionarischer Anwalt der Dritten Welt, sein Vize Schmidt als hartgesottener Syndikus der Industrienationen.

Mit Genugtuung registrierte Brandt daher im Protokoll der Jamaika-Konferenz ein Zugeständnis, gegen das sich der Kanzler bisher hartnäckig sträubte: Erstmals will sich Bonn an der Finanzierung eines Gemeinsamen Fonds zur Stabilisierung der Rohstoffpreise beteiligen.

Doch der Ex-Kanzler weiß auch, daß damit die Konflikte noch lange nicht ausgeräumt sind. Denn was seine Kommission bislang auf fünf Sitzungen in Gymnich bei Bonn, in Mont Pèlerin (Schweiz), in Bamako (Mali), in Tarrytown (USA) und in Kuala Lumpur (Malaysia) ausgebrütet hat, wird weder die ungeteilte Zustimmung der Dritten Welt noch den Beifall der Industrienationen finden.

Bereits im vergangenen Jahr hat Brandt keinen Zweifel daran gelassen, daß die Industriestaaten mehr als bisher an die armen und ärmsten Länder zahlen müßten -- allen voran die reiche Bundesrepublik, die derzeit nur 0,27 Prozent ihres Sozialprodukts für öffentliche Entwicklungshilfe ausgibt, weniger als Schweden (0,99 Prozent), Holland (0,85), Frankreich (0,63) oder Großbritannien (0,38 Prozent).

Der neueste Bericht des OECD-Ausschusses für Entwicklungshilfe (DAG) kam Brandt gerade recht: Mit grüner Tinte unterstrich er einige Passagen und schickte, als Material für den Nord-Süd-Report, das Papier an sein Genfer Kommissionsbüro.

Der Ende letzten Jahres ausgeschiedene DAC-Vorsitzende, Maurice J. Williams, hatte in seinem Bericht geklagt, daß die Industriestaaten ihren Anteil an der Entwicklungshilfe von durchschnittlich 0,33 Prozent auf 0,31 Prozent ihres Bruttosozialprodukts (BSP) absinken ließen. »Das enttäuschende Ergebnis«, so Williams, »ist in erster Linie dem weiteren drastischen Rückgang des BSP-Anteils der Entwicklungshilfe der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland ... zuzuschreiben. Gerade diese Länder besitzen aber innerhalb des DAG, ja in der Welt überhaupt, die größten und stärksten Volkswirtschaften.«

Und wie die Brandt-Kommission befürchtet, wird die Kluft zwischen Armen und Reichen durch protektionistische Maßnahmen der Industriestaaten noch breiter: Gerade die hochentwickelten Länder sind dabei, ihre Märkte gegen Produkte aus Entwicklungsländern abzuschotten, etwa gegen Textilien aus Taiwan. Folglich will Brandt den freien Zugang zum Markt zu einer zentralen Forderung seines Berichts machen.

Gleichrangig daneben soll ein Vorschlag stehen, der ebenso wie die Handelspolitik Emotionen aufheizen wird: zusätzliche Entwicklungsmilliarden durch Einsparungen in den Rüstungsetats. Brandt: »Wenn in der Welt weiter täglich über eine Milliarde Dollar für Waffen ausgegeben werden, rüsten wir uns zu Tode.«

Um den Entwicklungsländern eine wirksamere Interessenvertretung zu ermöglichen, sollen diese Staaten zunächst einmal qualifizierteres Personal für die internationalen Verhandlungen rekrutieren. Denn erst mit eigenen Sekretariaten könnten sie den organisatorisch haushoch überlegenen Industrieländern wenigstens »administrativ-intellektuell« (ein Brandt-Mitarbeiter) einigermaßen ebenbürtig werden. Perfekten Bürokratien wie der EG oder der OECD stehen auf Seiten der Dritten Welt bislang lediglich Mehrheiten in UN-Gremien gegenüber.

Und damit die Entwicklungsländer ihre Budgets langfristig und genauer planen können, sollen -- nach den Vorstellungen der Brandt-Kommission -- künftig die Reichen nicht nur für die Sicherung stabiler Rohstoffpreise aufkommen, sondern auch ihre direkten Hilfszahlungen regelmäßiger leisten. Bisher bestimmten allein Haushaltsrecht und Etatführung des Spenders Zahlungsweise und -zeitpunkt.

Überdies will die Brandt-Kommission den Entwicklungsländern einen gesicherten Zugang zum privaten Kapitalmarkt verschaffen. So soll durch internationale Vereinbarungen erreicht werden, daß arme Staaten nicht in einseitige Abhängigkeit von einigen wenigen Großbanken geraten, die ihre Kredite sofort zurückziehen, wenn sie woanders eine günstigere Verzinsung erzielen können. Folge: Das Land steht vor dem Staatsbankrott.

Schließlich stellt die Kommission derzeit auch Überlegungen an, ob die Industrieländer nicht durch zusätzliche Steuern zugunsten der Dritten Welt geschröpft werden könnten, Brandt: »Bei der Frage der verstärkten Finanzmittel für die Entwicklungsländer sollte man auch die Möglichkeiten einer internationalen Steuer nicht ausschließen.«

Die Modelle reichen dabei von einer generellen Abgabe bis hin zu einer Brain-drain«-Steuer: Industriestaaten, die farbige Studenten nach dem Studienabschluß im eigenen Land halten und beschäftigen, müßten dem Heimatland eine Ausgleichsabgabe für den »Abzug von Verstand« zahlen.

Doch auch den Entwicklungsländern will Brandt einiges zumuten. Denn, so der Kommissionschef: »Die Erwartungen sind oft unrealistisch hoch.«

* Im französischen Kurort Hyères.

Vorrangig, so formulierte es ein Mitarbeiter, müßten die Entwicklungsländer zu mehr Selbsthilfe und Zusammenarbeit untereinander finden und auf Prestigevorhaben verzichten. Die Brandt-Kommission will deshalb in ihrem Bericht die Dritte Welt auffordern, kein Geld mehr für allzu aufwendige und oft unnötige Objekte auszugeben.

Anstelle großer spektakulärer Industrieprojekte soll durch eine umfassende Agrarreform dafür gesorgt werden, daß zunächst einmal die eigene Nahrungsmittelproduktion erhöht und somit der hungernden Bevölkerung geholfen wird. Und anstelle aufwendiger City-Kliniken, deren Unterhalt oft das gesamte Gesundheitsbudget verschlingt, sollen »Barfuß-Ärzte« (Brandt) und im Land verteilte Ambulatorien für die medizinische Betreuung sorgen.

Schließlich sollen gerade die Länder der Dritten Welt alternative Energieformen wie Sonne, Wind oder Wasser nutzen und dadurch Devisen für den teuren Ölkauf sparen.

Daß er sich mit all diesen Vorschlägen Ärger einhandeln wird, weil er vor dem allgemeinen Bewußtseinsstand herläuft, ist Brandt klar. Doch der SPD-Chef fühlt sich, wie bei seiner Ostpolitik, als die treibende Kraft einer politischen Umorientierung. Ab März, wenn er wieder gesund ist, will er, gemeinsam mit einem renommierten englischen Schriftsteller, seine Vorstellungen zu einer neuen Weltordnung ins reine schreiben.

Und er hofft, »daß meine Landsleute mich nicht zu lange auf vorgeschobenem Posten stehenlassen«.

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