BONN / KANZLERWAHL Vorsicht, Vorsicht
Der eine kam zum Schminken, der andere schminkte ab.
Am Donnerstagabend letzter Woche, um 18.20 Uhr, trafen, im Make-up -Keller des Fernsehstudios in der Bonner Dahlmannstraße zufällig jene beiden Männer aufeinander, die in den kommenden Wochen entweder gegeneinander oder miteinander auf der Suche nach der verlorenen Bundesregierung sein werden: der wenige Stunden zuvor zum CDU/CSU-Kanzlerkandidaten gewählte Stuttgarter Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger und der SPD Vorsitzende Willy Brandt.
Beide waren überrascht. Und beide halfen sich mit hohlem Lachen aus der Verlegenheit, als ARD-Kommentator Müggenburg sagte: »Das ist die erste Begegnung der künftigen Koalition.«
Kiesinger, dem der Sinn mehr nach einer Wiederherstellung der alten Koalition mit der FDP steht, bremste: »Vorsicht, Vorsicht.« Aber er fügte doch verbindlich hinzu: »Na, wir sehen uns ja demnächst, Herr Kollege Brandt.«
Berlins Regierender Bürgermeister reagierte nicht. Ihn beschäftigte zu dieser Stunde schon die Frage, ob es für die Sozialdemokraten und für Deutschland nicht besser wäre, wenn die SPD, statt auf ein Koalitionsangebot der Christdemokraten zu warten, die Initiative zur Bildung einer kleinen Gegenkoalition mit den Freien Demokraten ergreifen würde.
Bereits am Tag zuvor, am Mittwochmittag, hatten die Spitzenmänner von SPD und FDP am Speisetisch im Haus der Bonner Berlin-Vertretung beisammengesessen: auf der einen Seite Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt, auf der anderen Seite Erich Mende, Willi Weyer, Wolfgang Mischnik und Walter Scheel.
Hauptthema der Mittagsrunde: die sachlichen Voraussetzungen eines eventuellen Regierungsbündnisses. Von acht sozialdemokratischen Thesen für eine neue Regierungspolitik, die der SPD Fraktionsvorstand in der Vorwoche aufgestellt hatte, akzeptierten die Freien Demokraten auf Anhieb fünf, darunter insbesondere Thesen zur Außenpolitik.
Hiernach soll Bonn nicht nur seine Beziehungen zu Washington und zu Paris wieder in Ordnung bringen, sondern auch das Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten normalisieren und die Kontakte zu Ost-Berlin aktivieren. Außerdem soll die finanzielle Neuordnung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden angepackt und der Wirtschaft neuer Auftrieb gegeben werden.
Meinungsunterschiede gab es dagegen über
- die deutsche Beteiligung an Atomwaffen;
- die zum Ausgleich des Bundeshaushalts erforderlichen Einsparungen, einschließlich des Problems möglicher Steuererhöhungen;
- eine künftige Sozialpolitik ohne Gefährdung der Währungsstabilität. Eindreiviertel Stunden saßen Sozialisten und Freidemokraten beisammen. Sie schieden mit dem Gefühl, daß auch die restlichen Meinungsverschiedenheiten überwunden werden könnten. Ein Gesprächsteilnehmer zum SPIEGEL: »Sogar Erich Mende war eisern.«
Demonstrative Härte gegenüber der CDU/CSU ist auch das Leitmotiv der sozialdemokratischen Parteiführung. Herbert Wehner: »Die müssen endlich begreifen lernen, daß sie nicht allein auf der Welt sind und daß sie keine Mehrheit mehr haben.«
Vor allem zu diesem Zweck verlangte die SPD letzte Woche im Bundestag, der Bundeskanzler solle die Vertrauensfrage stellen. Obwohl Bundespräsident Lübke und Bundestagspräsident Gerstenmaier den SPD-Vize Im Interesse einer Großen Koalition von jeder offenen Feldschlacht abzubringen versucht hatten, blieb Herbert Wehner hart: »Es ist nötig, daß vor dem Volke Klarheit geschaffen wird.«
Es wurde Klarheit geschaffen: SPD und FDP stimmten am vergangenen Dienstag für den sozialdemokratischen Antrag und halfen so, den Christdemokraten begreiflich zu machen, daß sie, in die Minderheit geraten sind.
Mendes Partei-Stellvertreter Weyer hatte dafür gesorgt, daß diese harte FDP-Linie durchgesetzt wurde. In geschlossener Formation erschienen unter seiner Führung die nordrhein-westfälischen FDP-Abgeordneten zu einer Fraktionssitzung der FDP am Vorabend der Abstimmung. Es ging hart her. Aber zum Schluß entschieden sich 26 FDP-Leute dafür, mit der SPD gegen die CDU aufzumucken; 16 waren dagegen.
Vorher hatte man ausgemacht, daß sich die Minderheit in jedem Fall der Mehrheit beugt und daß es keine neue Spaltung der Partei geben dürfe. Im Plenum des Bundestages bewährte sich dieses Gelöbnis.«
Nach der Abstimmung im Plenarsaal wanderte der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wehner, der seit einer schweren Erkrankung Fritz Erlers auch die sozialdemokratische Bundestagsfraktion führt, von links nach rechts. Er ging auf den schmächtigen FDP-Fraktionsvize Siegfried Zoglmann zu und schüttelte ihm bewegt die Hand.
Wehner: »Alle Achtung, das hätte ich nicht erwartet.« Und: »Wir sehen ein, daß wir jetzt ein konstruktives Mißtrauensvotum** erwägen können.«
Allerdings: Die absolute Mehrheit, die man braucht, um einen neuen Bundeskanzler zu wählen, können SPD und FDP - wenn überhaupt - nur unter großen Mühen erreichen. Bei 496 stimmberechtigten Abgeordneten des Bundestages sind 249 Stimmen erforderlich. Die Sozialdemokraten stellen 202, die Freien Demokraten 49, zusammen 251 Abgeordnete. Aber drei Mann im Lager der vereinigten Opposition fallen gegenwärtig durch Krankheit aus, und es ist zweifelhaft, ob auch nur einer von ihnen transportfähig wäre: die SPD-Abgeordneten - Fritz Erler und Peter Blachstein sowie der FDP-Mann Hans Lenz. Praktisch ist damit die SPD-FDP-Mehrheit nicht praktikabel.
Deshalb haben sich einige Berater von Brandt und Mende eine Hilfskonstruktion ausgedacht. Wenn die 22 Berliner Abgeordneten im Bonner Parlament, die, wegen der alliierten Vorbehaltsrechte für die frühere Reichshauptstadt nur beschränkt stimmberechtigt sind - ihre Stimmen werden bei Gesetzesvoten gezählt, aber nicht mitgerechnet -, wenigstens bei der Kanzlerwahl mittun können, so würden SPD (15 Berliner) und FDP (1 Berliner) mit insgesamt 267 Abgeordneten sieben Stimmen mehr haben als die in diesem Falle erforderliche Mehrheit von 260.
Zum Leidwesen der Oppositionsgenossen gibt es aber keinen eindeutigen Präzedenzfall: Zwar stimmen die Berliner bei der Wahl des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung vollgültig mit, aber bei der Wahl des Bundeskanzlers im Bundestag sind ihre Stimmen bisher immer gesondert gezählt und nicht als vollgültig akzeptiert worden.
Um dies zu ändern, haben Mitarbeiter Willy Brandts inzwischen einen Antragstext für den Bundestag formuliert: Das Parlament soll mit einfacher Mehrheit das volle Stimmrecht der Berliner Abgeordneten bei der Kanzlerwahl beschließen.
Vor einem solchen juristischen Husarenritt scheuten Willy Brandt und Herbert Wehner bisher allerdings zurück. Übereinstimmend meinten beide, es wäre bedenklich, das konstruktive Mißtrauensvotum mit Hilfe einer verfassungsrechtlich umstrittenen Entscheidung zu praktizieren. Wenn, dann müsse man es eben auf jede Stimme ankommen lassen und die Kranken heranholen.
In der Tat bliebe den Christdemokraten andernfalls die Möglichkeit einer Anfechtung der Kanzlerwahl beim Bundesverfassungsgericht - auch wenn sie damit der sowjetischen These von der Existenz eines dritten deutschen Staates - West-Berlin - Vorschub leisteten.
Am Freitag letzter Woche tagten in Bonn Partei- und Fraktionsvorstand der SPD, um das weitere Vorgehen zu beraten. Herbert Wehner vertrat die Ansicht der Mehrheit. Man müsse die beiden anderen Parteien zur Entscheidung zwingen und die Initiative in der Hand behalten.
Der große politische Stratege der SPD will seine Partei jetzt in die Verantwortung führen - gleichgültig, ob in einer Großen Koalition mit der CDU/CSU oder in einer Kleinen Koalition mit der FDP. Er will verhindern, daß sich unter Kiesingers Führung weiterhin ein labiler Bürgerblock an der Macht hält.
Eine offizielle Nominierung ihres Vorsitzenden Willy Brandt zum Kanzler-Gegenkandidaten schoben die Sozialdemokraten nur deshalb hinaus, weil sie von zahlreichen FDP-Leuten darum gebeten worden waren; die nämlich möchten vor den bayerischen Landtagswahlen am 20. November nur ungern rote Farbe bekennen. Immerhin: Zu Sachgesprächen hat Willy Brandt die Vorsitzenden von CDU/CSU und FDP aufgefordert.
Aber gleichzeitig ließ auch Kanzlerkandidat Kiesinger an die Sozialdemokraten und Freien Demokraten Einladungen zu Koaltionsverhandlungen hinausgehen.
So war eine Lösung der Bonner Krise Ende letzter Woche noch nicht in Sicht.
Aber in Bonn sagte Herbert Wehner dem SPIEGEL: »Ganz klar, wir machen auf Kanzler.«
Wahrheit auf Raten
Franz-Josef Strauß räusperte und erhob sich, die 243 außer ihm zur Abstimmung erschienenen Abgeordneten der christdemokratischen Fraktion unter dem Kreuz an der Saalwand hielten den Atem an.
Um 14.10 Uhr am Donnerstag letzter Woche verkündete der CSU-Chef und stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Saal 214 F des Bonner Bundeshauses das Ergebnis der ersten Ziehung im Kanzlerkandidaten-Lotto der CDU.
Der gedrungene Bajuware war angesteckt von der künstlichen Ausgelassenheit, mit der seine Fraktionskollegen ihre politische Existenzangst übertönen wollten; Eugen Gerstenmaier später: »Die Fraktion benahm sich während dieser Wahlsitzung wie eine ungebärdige Schulklasse.« Mitschüler Strauß veralberte die Albernen in der Schicksalsstunde der Nation: »Ich gebe das Ergebnis des ersten Wahlganges bekannt: einstimmig für Strauß.«
Niemand begriff. Verblüfft und ungläubig starrten die Parlamentarier einander an. Strauß feixte: »Eine Stimme für Strauß, die natürlich ungültig ist.«
Mit solch schwarzem Humor garnierte der Bayer, der wegen seiner unbewältigten Vergangenheit nicht zu den Kandidaten zählte und deshalb den Vorsitz dieses Spektakulums führen durfte, die Stunde der Wahrheit für die Bewerber um Erhards Nachfolge. Es war eine Wahrheit auf Raten.
Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik mußte die seit 1949 als Staatspartei fungierende CDU/CSU wie bislang nur die sozialdemokratische Opposition einen Kanzlerkandidaten wählen, von dem nicht sicher ist, ob er Regierungschef wird.
Seit dem Zusammenbruch der Regierungskoalition mit der FDP vor drei Wochen haben die Christdemokraten im Parlament keine Mehrheit mehr; und sie hatten keinen Politiker in ihren Reihen, der als Kronprinz des glücklosen Kanzlers Erhard allgemein anerkannt war.
Deshalb benannte der Parteivorstand letzten Dienstag zunächst vier Kandidaten, von denen einer - Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier - bald freiwillig ausschied. Drei blieben nach und stellten sich der Fraktion zur Wahl: CDU /CSU-Fraktionsvorsitzender Rainer Barzel, Baden-Württembergs Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger und Bundesaußenminister Gerhard Schröder. Ihre Namen schrieben die 244 Parlamentschristen - darunter auch Konrad Adenauer und Ludwig Erhard - letzten Donnerstag im Saal 214 F im ersten Wahlgang auf gelbe Stimmzettel mit dem Aufdruck: »Deutscher Bundestag, CDU/CSU-Fraktion, Sekretariat«.
Die acht jüngsten Abgeordneten zählten aus, und schon zeichnete sich das Endergebnis ab: Kiesinger lag mit 97 vor Schröder mit 76 und Barzel mit 56 Stimmen.
Weit hinten lag ein Außenseiter des Kanzler-Derbys, EWG-Präsident Walter Hallstein, mit nur 14 Stimmen. Er war, ohne überhaupt anwesend zu sein, zu Beginn der Sitzung von den Abgeordneten Carl Otto Lenz, einem Sohn des früheren Adenauer-Staatssekretärs, und Heinrich Aigner überraschend nominiert worden.
Aber auch Kiesinger hatte in diesem ersten Durchgang das Ziel, die absolute Mehrheit, noch nicht erreicht. Dazu waren, weil die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einschließlich der Berliner Abgeordneten 251 Mitglieder umfaßt, mindestens 126 Stimmen erforderlich.
Die in aller Eile am Vortag von einem Sonderausschuß entworfene Wahlordnung schrieb vor, daß die Abstimmung unverändert zu wiederholen sei, falls keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erhalte.
Nachdem die Fronten abgesteckt waren und die Bewerber die Stärke ihrer Hausmacht demonstriert hatten, mußte sich im zweiten Wahlgang zeigen, wer genügend Attraktivität besaß, um seinen Gegnern Stimmen abzunehmen.
Erfolgreich war Kurt Georg Kiesinger, der von 97 auf 119 kletterte, erfolgreich war aber auch noch Außenminister Schröder, der vier Zunahmen verbuchen konnte. Aus dem Rennen geworfen wurden Hallstein, der elf, und Barzel, der gleich 14 Stimmen verlor. Noch am Vorabend hatte Altkanzler Adenauer den ehrgeizigen Fraktionsführer warnen und ihm raten lassen, er möge um seiner politischen Karriere willen aus dem Rennen ausscheiden, weil er keine Chance habe.
Adenauer behielt recht. Es zeigte sich, daß Barzels ungesteuerte Aktivität und seine ungehemmte Machtsucht die Unionschristen mehr und mehr abstößt. Der Fraktionschef hatte gehofft, es werde zum Schluß zu einem Duell zwischen ihm und dem Außenminister kommen, bei dem sich dann der starke Block der erbitterten Schröder-Gegner für ihn entscheiden werde. Nun mußte er statt dessen mit ansehen, wie in dem Duell zwischen Kiesinger und Schröder seine eigene Hausmacht immer mehr abbrökkelte.
Die Entscheidung fiel in der dritten Runde, aus der Hallstein gemäß der Wahlordnung als Kandidat mit der bisher geringsten Stimmenzahl bereits ausgeschieden war. Kiesinger gewann die Schwelle der absoluten Mehrheit. Schröder konnte nur noch eine Stimme hinzugewinnen, während Barzel noch einmal 16 Stimmen einbüßte. Endergebnis: Kiesinger 137, Schröder 81, Barzel 26 Stimmen.
Die aus ihrer Führungsnot erst einmal erlösten Christdemokraten huldigten ihrem neuen Kanzlerkandidaten mit minutenlangem Beifall und Füßetrampeln. Voller Zorn und Enttäuschung platzte es aus Barzel heraus: »Das ist ein Sieg Schröders.«
Barzel hat so unrecht nicht: Sollte Kiesinger bei der Regierungsbildung scheitern, dann würde Schröder voraussichtlich seine Chance doch noch bekommen.
Zunächst aber war dieses Ergebnis ein Sieg der süddeutschen CDU-Landesverbände einschließlich der bayrischen CSU über die nord- und westdeutschen Landesverbände, die in ihrer Mehrheit Schröder und Barzel gewählt hatten.
Die berühmte Mainlinie, die Deutschland in zwei geistige Landschaften teilt, hatte nun auch die CDU gespalten; das konfessionelle Moment spielte dagegen bei der Abstimmung kaum eine Rolle: Kiesinger und Barzel sind Katholiken, Schröder ist Protestant.
Aber des Außenministers anti-französische und pro-amerikanische Außenpolitik hatte ihn die Unterstützung der südlich des Mains beheimateten Abgeordneten gekostet, die kategorisch bessere Beziehungen zu Paris verlangen. Darüber hinaus hat es Schröders kalte Arroganz verhindert, daß die um das Schicksal ihrer Partei besorgten Christdemokraten ihm jene integrierende Kraft zutrauen, deren die CDU/ CSU jetzt bedarf.
Beides, eine elastische Außenpolitik auch in Richtung Paris und vor allem einen neuen Führungsstil in Partei und Staat, erwarten die Christdemokraten von dem gesitteten und gebildeten Baden-Württemberger Kiesinger, 62, der in den ersten stürmischen Jahren der Bundesrepublik außenpolitischer Chefsprecher der CDU im Bundestag war. So schoben sie schließlich alle Bedenken wegen Kiesingers Sensibilität und mangelnder Nervenstärke beiseite und nahmen auch in Kauf, daß er unter Umständen wieder nur ein Übergangskanzler oder gar nur ein Übergangs -Kanzlerkandidat sein wird.
Die Weichen für Kiesingers Wahl hatten in erster Linie das geschäftsführende CDU-Präsidiumsmitglied, der ebenfalls aus Baden-Württemberg stammende Familienminister Bruno Heck, und der junge Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz? Helmut Kohl, gestellt, der engen Kontakt zum CSU-Generalsekretär Anton Jaumann gehalten hatte.
Diese drei waren sich schon seit langem einig, daß weder Barzel noch Schröder Kanzlerkandidat und präsumtiver Parteivorsitzender werden dürften. Weil, wie es ein prominenter Christdemokrat ausdrückte, »die CDU noch genügend Substanz hat, um bei der Wahl eines dieser beiden auseinanderzubrechen«.
Heck, Kohl und Jaumann brachten den starken süddeutschen Block mit Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saargebiet, dem sich zum Schluß auch noch die Main-Hessen zugesellten, auf die Seite des Stuttgarter Ministerpräsidenten. Mit dem ihm eigenen weichen Pathos salbte Sieger Kiesinger vor der Fraktion die Wunden der Geschlagenen: »Wenn ich heute der unterlegene Kandidat gewesen wäre, dann hätte ich mir innerlich gesagt, wie froh ich sein müßte, daß diese Bürde von meinen Schultern genommen worden ist.«
Kiesinger dankte dem Parteipatriarchen Konrad Adenauer (Strauß zur Begrüßung: »Selbst den Stabsärzten der CDU/CSU ist es nicht gelungen, Sie
für heute dienstunfähig zu schreiben") und auch Ludwig Erhard für ihre Arbeit zugunsten der Partei. Er beschwor die großen Stunden herauf, die er früher in diesem Saal erlebt habe, als die CDU/CSU so erfolgreich gewesen sei, und versprach: »Ich werde alles daransetzen, um diese Sache zu einem guten Ende für die Union zu führen.«
Unmittelbar darauf ließ Kiesinger, gedrängt von Strauß ("Die Zeit ist knapp für uns, denn die Kontakte zwischen SPD und FDP verdichten sich sehr"), schon eine Einladung zu Koalitionsgesprächen an SPD und FDP übermitteln.
Obwohl Kiesinger während seiner früheren Tätigkeit als Vorsitzender des außenpolitischen Bundestagsausschusses zusammen mit SPD-Vize Herbert Wehner manche Fäden zugunsten einer aktiven deutschen Wiedervereinigungspolitik gesponnen und sich deswegen innerlich mehr und mehr von Konrad Adenauer entfernt hatte, neigt er noch nicht zu einer Großen Koalition, sondern zur Wiederherstellung des Regierungsbündnisses mit der FDP.
Als Bundespräsident Heinrich Lübke ihm unmittelbar vor der Wahl am Donnerstagvormittag nahegelegt hatte, zur Rettung des Staates eine Koalition mit den Sozialdemokraten zu bilden, war er reserviert geblieben.
Der Kanzlerkandidat zum SPIEGEL: »Ich sehe durchaus ein, daß die Freien Demokraten kaum noch koalitionsfähig sind und daß man die SPD nicht abseits stehen lassen darf, aber ich werde erst einmal genau prüfen, ob es nicht doch noch eine Basis für eine Zusammenarbeit mit der FDP gibt.«
Dies hatte schon Geister-Kanzler Ludwig Erhard Anfang letzter Woche noch einmal versuchen wollen. Am Montag hatte er den FDP-Fraktionschef Knut Freiherr von Kühlmann-Stumm zu vertraulicher Aussprache über die Möglichkeit gebeten, die Koalition zu erneuern. Doch der Baron hatte kühl reagiert. Zunächst müsse über Sachfragen verhandelt werden. In Wahrheit
hatte eine Personalfrage zu dieser Antwort geführt: Die FDP war sich einig geworden, daß es wegen der Lage der CDU unmöglich sei, es noch einmal mit Ludwig Erhard zu probieren.
Am gleichen Montag tagte auch das Präsidium der CDU. Auf Betreiben des Bundestagspräsidenten Gerstenmaler beschloß dieser Lenkungsausschuß seine Bereitschaft zu »Verhandlungen nach beiden Seiten«. Erstmals hatte damit ein offizielles Gremium der CDU anerkannt, daß die SPD für sie koalitionsfähig sei.
Dieses Votum entspricht der zunehmenden Einsicht innerhalb der Unionsparteien, daß eine stabile Mehrheit nur noch in einer Koalition mt der SPD zu erreichen sei.
Diese Erkenntnis verstärkte sich am nächsten Tag, als letzten Dienstag bei einer Abstimmung über den sozialdemokratischen Antrag, der Kanzler möge im Bundestag die Vertrauensfrage stellen, die FDP mit der SPD gegen die CDU/CSU stimmte.
Weidwund geschossen, polterte Erhard erbittert: »Ich lehne es ab, an einem Schauprozeß teilzunehmen (Beifall bei der CDU/CSU, Abgeordneter Wehner: ,Pfui, Herr Bundeskanzler!' Weitere Zurufe von der SPD), um so mehr, als ein rechtskräftiges Urteil von Ihnen überhaupt nicht gefällt werden kann und nicht gefällt werden darf!« (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU).
Nach diesem Debakel versammelte sich ihn Kabinettssaal des Palais Schaumburg bei Tomatensuppe und belegten Brötchen der Bundesvorstand der Union, um nun hinter verschlossenen Türen dem Hausherrn den Prozeß zu machen, den man ihm öffentlich hatte ersparen wollen.
Erhard kam dem zuvor und schwenkte sofort die weiße Fahne: »Je eher ein Nachfolger auf meinem Platz gefunden wird, um so sympathischer ist mir das.«
Aber länger als eine Stunde zierten sich die Nachfolge-Kandidaten. Da riß Helmut Kohl die Geduld: »Wir müssen jetzt über Personen reden. Die Namen müssen auf den Tisch.« Der Pfälzer selbst nannte vier: Barzel, Gerstenmaier, Kiesinger und Schröder.
Weitere Namen wurden genannt: der frühere Parteimanager Dufhues, Bundesinnenminister Lücke und der abwesende EWG-Präsident Hallstein. Lücke und Dufhues lehnten ab. Dann forderte Strauß die von Kohl genannten anwesenden vier Kandidaten auf mitzuteilen, ob sie sich zur Wahl stellen wollten. In alphabetischer Reihenfolge entsprach die Erbengemeinschaft diesem Verlangen.
Rainer Barzel zierte sich und plädierte in Ahnung kommenden Unheils dafür alle müßten versichern, daß der gewählte Kandidat in voller Loyalität mit den unterlegenen Bewerbern zusammenarbeiten wolle. Erst auf direktes Befragen schuf er Klarheit: »Jawohl, ich werde kandidieren.«
Eugen Gerstenmaier, der bereits nach einem ehrenvollen Ausweg aus der Kandidatur suchte, beteuerte: »Ich bewerbe mich nicht, aber für den Fall, daß die Entscheidung auf mich fällt, würde ich meine Pflicht tun.«
Auch Kiesinger, der sich immer noch nicht klar war, ob er die Sache nicht doch lieber Gerstenmaier überlassen sollte, wich aus: »Ich dränge mich nicht, doch entziehe ich mich nicht einem Ruf der Partei.«
Gerhard Schröder bekannte sich als einziger klar und bestimmt: »Ich werde mich der Abstimmung stellen.«
Unmittelbar nach der Vorstandssitzung, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, verstärkten Barzel, Kiesinger und Schröder ihre Aktivität. Barzel sandte seine Leute aus, um Stimmung für sich zu machen. Schröder bot als verführerische Vorlage unter der Hand sprintfreudigen Politikern bereits Kabinettsposten an. Kiesinger trat in einem Mitternachts-Meeting vor das Forum der südwestdeutschen und der hessischen Christdemokraten.
Dort überwand er auch zum erstenmal die Scheu, vor größerem Kreis über seine NS-Vergangenheit zu sprechen.
Kiesinger war 1933 Mitglied der NSDAP geworden. »Meine Freunde aus der katholischen Verbindung und ich meinten, man müsse doch irgendwie auf die Entwicklung Einfluß nehmen«, erklärt er heute. Ausgetreten ist Kanzlerkandidat Kiesinger aus der Partei des Führers nie. Doch - so seine Darstellung - »nach dem Röhm-Putsch 1934 habe ich gemerkt, daß gar nichts Vernünftiges zu machen ist«. In der gleichen Zeit - 1933/34 - gab Kiesinger nach eigenen Angaben eine kurze »Gastrolle beim NSKK«, dem NS-Kraftfahrzeugkorps. Mitglied will er nie gewesen sein. Die Existenz von Kiesinger-Photos in NSKK-Uniform hält er für möglich.
1940 wurde der Jurist Kiesinger als »wissenschaftlicher Hilfsarbeiter« und stellvertretender Leiter der Rundfunkabteilung im Reichsaußenministerium dienstverpflichtet. Zu dem Vorwurf ausländischer Zeitungen, er sei Verbindungsmann zwischen den Ministern Ribbentrop und Goebbels gewesen, sagt Kiesinger: »Das war ich nicht. Ich war lediglich Verbindungsmann auf Referentenebene zu allen Behörden, mit denen meine Abteilung Arbeitsberührung hatte.«
Wegen seiner Arbeit in Ribbentrops Amt saß Kiesinger nach dem Kriege 18 Monate im Internierungslager Ludwigsburg. Weder dieser Zwangsaufenthalt noch seine Dienste im Außenministerium waren in den Bundestagshandbüchern von 1949 bis 1957 vermerkt.
Wie schon früher, tauchten auch nun, nach Kiesingers Kandidatur für die Kanzlerschaft, wieder gezielte Mutmaßungen über seine NS-Vergangenheit auf. Sie reichten aus, den dünnhäutigen, silberhaarigen Mann so zu verstören, daß er Anfang letzter Woche erwog, das Handtuch zu werfen. Zu Vertrauten sagte er: »Ich stehe das nicht durch.« Aber in der Nacht zum Mittwoch überwand er sich, gab freimütig Auskunft und vermehrte so noch seinen Anhang um zahlreiche Hessen-Stimmen.
Aber das war noch nicht genug. Um einen Sieg Kiesingers sicherzustellen, mußte noch
- die CSU auf ihn eingeschworen werden;
- Gerstenmaier, der auch aus Baden-Württemberg stammt und mit dem Kiesinger die heimatlichen Stimmen hätte teilen müssen, das Feld räumen.
Die CSU tagte tags darauf, am Mittwoch. Mit einer gecharterten Bundeswehrmaschine vom Typ Convair flogen die Chefs der Bonner CSU-Landesgruppe am Mittwochmittag nach München. Im Parteihauptquartier an der Lazarettstraße war schon der CSU-Vorstand zusammengetrommelt worden.
Gleich zu Beginn schloß Strauß, der in den Vorwochen längere Gespräche mit dem Außenminister gehabt und dem Schröder sogar den Posten des Finanzministers angeboten hatte, den Kandidaten Schröder aus: Die CSU könne nicht die gescheiterte Außenpolitik des AA-Chefs übernehmen. Weiter aber legte sich Strauß nicht fest.
Nur Erlangens CSU-Oberbürgermeister Lades setzte sich für Schröder ein. Er wollte Strauß als Außenminister einem Kanzler Schröder an die Seite stellen. Mit derber Rabulistik strich Bayerns Innenminister Heinrich Junker den Kandidaten Gerstenmaier von der Liste. Er bezeichnete den Bundestagspräsidenten, der kürzlich in Brüssel vor dem Jüdischen Weltkongreß sprechen durfte, als »Reue-Deutschen«. Für Barzel sprachen lediglich die Bundesminister Höcherl und Niederalt.
Eindeutiger Mann der CSU war Kiesinger, der kürzlich mit CSU-Generalsekretär Anton Jaumann eine längere Konversation hatte.
Nach diesem Gespräch sahen die Bayern in Kiesinger den Kandidaten, der die CDU/CSU aus ihrem gegenwärtigen Tief herausholen und zugleich den Übergang von der älteren zur jüngeren Generation sanft vollziehen könnte.
Die Abstimmung ergab eine große Mehrheit für Kiesinger. Dann wurde trotz des Einwandes, daß die CSU die Entscheidung der Gesamtfraktion nicht präjudizieren dürfe, beschlossen, dieses Ergebnis der Öffentlichkeit mitzuteilen und so den Kiesinger-Trend zu verstärken.
Der Erfolg stellte sich sogleich ein: Die Nachricht aus München - um 18.45 Uhr von Fraktionsgeschäftsführer Will Rasner übermittelt - veranlaßte in Bonn Eugen Gerstenmaier, das Rennen um die Kanzlerschaft aufzugeben.
Eugen Gerstenmaier, der die Lage der Nation ernster sieht als alle anderen
CDU-Politiker und der deswegen eine heimliche Angst davor hatte, Kanzler werden zu müssen, sah nun ein, daß er gegen Kiesinger unterliegen würde. Angesichts der Vorentscheidung durch die CSU nahm er seine Kandidatur zurück.
Nach diesem Trumpf konnte Kiesinger am selben Abend eine zweite Karte ausspielen: Aus der SPIEGEL-Redaktion erhielt er die Abschrift eines ihm selbst bis dahin unbekannten Dokumentes, aus dem hervorgeht, daß er sich als stellvertretender Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes unter Joachim von Ribbentrop NS-kritisch geäußert hatte. In der Bonner Bundesvertretung des Landes Baden-Württemberg ließ Kiesinger die Abschrift sofort abschreiben, vervielfältigen und allen CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten zustellen (siehe Hausmitteilung).
In dem Dokument vom November 1944 aus erbeuteten Akten des Persönlichen Stabes des Reichsführers SS, Heinrich Himmler wird Kiesinger von zwei untergebenen AA-Referenten denunziert, daß er »nachweislich die antijüdische Aktion« der AA-Rundfunkabteilung hemme, für politische Gespräche mit den Engländern plädiere, das »Durchhaltevermögen des deutschen Volkes« bezweifele und überhaupt zu denen gehöre, »die der Außenpolitik des Führers entgegengesetzt sein könnten«.
Trotz des Persilscheins über seine Vergangenheit wirkte Kiesinger unmittelbar vor Beginn der entscheidenden Wahlsitzung am Donnerstag um 13 Uhr gehemmt und unsicher auf dem Bonner Boden, den er seit 1958 nur noch sporadisch und eher widerwillig betreten hatte. Nach seinem Sieg aber war er gelöst und fröhlich wie jemand, der nach langen Jahren des Wartens endlich Genugtuung erfahren hat. Republik -Patriarch Adenauer hatte ihm einst sogar die Ministerwürde verweigert; nun lag die Kanzlerwürde zum Greifen nah.
Kiesinger hat noch kein klares Progranim, aber er traut sich zu, mit der Erfahrung als Landesvater und »Vier-Sterne-Ministerpräsident« (so Helmut Lemke, Regierungschef von Schleswig-Holstein) mit den innen- und finanzpolitischen Problemen fertig werden zu können. In der Außenpolitik baut er auf seine Erfahrungen und sein Engagement als langjähriger Sprecher der CDU/CSU Fraktion.
Noch am Donnerstagabend flog der Kanzlerkandidat mit einer von dem Offenbacher Verleger Franz Burda geliehenen Privatmaschine vom Typ »King Air« vom Flughafen Köln-Wahn vorübergehend nach Stuttgart zurück, so als ob er die Bonner Luft noch nicht wieder für eine längere Zeit ertragen könne.
Kiesinger zum SPIEGEL: »Hier muß ein neuer Wind wehen. Jetzt will ich den Bayern im Wahlkampf helfen und brauche auch den gewohnten Spaziergang durch die Wälder in der Umgebung meiner Heimat Tübingen, um Kräfte zu sammeln für die große Schlacht.«
Der noch amtierende Kanzler Ludwig Erhard hat inzwischen Frieden mit seinem Schicksal geschlossen. Obwohl er mit seiner »Partei zerfallen ist«, will der Abgeordnete des Wahlkreises 173 Ulm weiter im Bundestag mitarbeiten. Nach dem Auszug aus dem Regierungs-Bungalow wird Frau Luise mit dem ganzen Hausstand in den Alterssitz am Tegernsee übersiedeln.
Ludwig Erhard will sich für seine Bonner Tage in einem möblierten Zimmer seines früheren Wohnsitzes einquartieren. Adresse: Venusberg, Schleichstraße 8.
** Nach Artikel 67 des Grundgesetzes kann der Bundestag »dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt«.
Rivalen Brandt, Kiesinger im TV-Schminkstudio: »Wir machen auf Kanzler«
Bundestags-Abstimmung über Erhard (3. v. l. »Alle Achtung« -
Abgeschlagener Kandidat Barzel
Zorn noch Niederlage
Abgewiesener Kandidat Schröder
Spiel mit Vorlage
Abgesprungener Kandidat Gerstenmaier
Angst vor Weltlage
FAZ
Man nehme: die Schönheit von Gerstenmaier, die Integrität von Strauß, die Robustheit von Kiesinger, die Reserviertheit von Barzel und die Cleverneß von Schröder - oder sollte ich das alles durcheinandergebracht haben?
SS-Aktennotiz Ober Kiesinger: »Gastrolle beim NSKK«
Kandidaten-Macher Strauß*
»Die Zeit ist knapp«
* In der 70. Sitzung des Bundestages am 8. November 1966 stimmte die FDP-Fraktion (im Hintergrund) gegen die CDU/CSU einem SPD Antrag zu, wonach der Bundestag den Bundeskanzler ersuchen sollte, das Parlament um das Vertrauensvotum zu bitten. * Im Haus der CSU-Landesleitung München am 9, November 1966.