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VERBÄNDE / JUNGDEMOKRATEN Vorsitzender Friedrich

aus DER SPIEGEL 21/1970

Vor einem halben Jahrhundert pries ein prominenter Liberaler die Lehren der Linken: Friedrich Naumann, Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), sah im Sozialismus »die denkbar weiteste Ausdehnung der liberalen Methode auf alle modernen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse«.

Spätestens nach der Hitler-Zeit geriet die soziale Komponente des deutschen Liberalismus in Vergessenheit. Zwar benannte die DDP-Nachfolgerin FDP die parteieigene »Friedrich-Naumann-Stiftung« nach ihrem liberalen Klassiker, doch praktische Politik im Geiste des Liberalsozialisten mochte die arbeitgeberfreundliche Partei Erich Mendes und Walter Scheels bislang nie betreiben. Und seit die FDP in Bonn mit den Sozialdemokraten regiert, versteht sie sich erst recht als »kleiner, doch entscheidender Schutzwall in der Koalition gegen sozialistische Tendenzen« (so die »FAZ").

Neuerdings freilich scheint der antisozialistische Schutzwall abzubröckeln. Die Deutschen Jungdemokraten (DJD) jedenfalls, die 22 000 Junioren der FDP, haben das vergessene sozialistische Element des Liberalismus wiederentdeckt -- und damit ihren Altvordern Naumann, den sie nun allerdings gern einseitig interpretieren: Die DJD wollen von Naumann nur den Sozialismus, nicht aber den von ihm einst ebenfalls vertretenen Nationalismus übernehmen.

Bei ihrer Bundesdelegiertenkonferenz Ende vorletzter Woche im Schwarzwaldort Herrenalb beschrieb der bisherige DJD-Bundesvorsitzende Wolfgang Lüder die Auffassungen der »Judos« (Parteijargon) als »eine Position, wie sie Naumann und die DDP 1819 formuliert haben«. Judo-Vorstandsmitglied Dankward Bauer erinnerte daran, daß »Naumann zwischen Liberalismus und Sozialismus keinen grundsätzlichen Unterschied macht«.

Im Kongreßlokal' dem Herrenalber Kurhaus, verteilten Jungdemokraten aus Mannheim Faksimile-Nachdrucke eines DDP-Wahlplakates aus dem Jahre 1928 ("Für eine freiheitliche und soziale Republik« -- »gegen Ausbeutung von Jugendlichen« und gegen eine »bevorrechtete Kaste"). Jungdemokraten aus Bonn ließen, nach Mao-Muster, »Worte des DDP-Vorsitzenden Friedrich Naumann« kursieren: ausnahmslos Zitate, die nicht in das Konzept namensliberaler FDP-Unternehmerpolitiker passen -- etwa:

>"Wie steht es mit der Freiheit inmitten der großen Betriebe? Das ist die Kernfrage des Liberalismus in der Zukunft.«

* »Die volle Demokratisierung der Betriebe setzt Übergang des Besitzes in die Hand der organisierten Arbeitsgemeinschaft voraus.«

* »Ohne Sozialdemokraten gibt es im gegenwärtigen Deutschland überhaupt keine Aussichten auf liberales Regiment.«

* »Es gibt einen Liberalismus stehengebliebener Kleinbürger und einen Sozialismus unpraktischer Utopisten.«

* »Der Sozialismus aber kann praktisch gar nichts anderes mehr tun als das, was ein neuer grundsätzlicher Liberalismus seinerseits tun muß.«

Was die Naumann-Adepten im Jahre 1970 unter einem neuen grundsätzlichen Liberalismus verstehen, legten die rund hundert Delegierten nach einer vierzigstündigen Tag-und-Nacht-Debatte In umfänglichen Resolutionen nieder: Um beispielsweise im Städte- und Wohnungsbau »gesellschaftlich vernünftige und humane Lösungen« zu ermöglichen, sei als »Fernziel eine grundsätzliche Aufhebung des privaten Eigentums an Grund und Boden« notwendig; Entwicklungshilfe dürfe nicht privaten Kapitalexport mit anschließendem Gewinntransfer bedeuten ("Export des kapitalistischen Systems in die Dritte Welt"); und die Versäumnisse bei der Abwässer- und Abgasentgiftung zeigten »einmal mehr« die Eigenart des »kapitalistisch ausgerichteten Wirtschaftssystems', Investitionen zu vernachlässigen, »die nicht kurz- oder mittelfristig Profit abwerfen«.

Doch sosehr auch marxistisches Vokabular die Diskussionen beherrschte, so deutlich machten die antiautoritären Jungliberalen, daß sie mit einem autoritären Sozialismus Moskauer Prägung kaum etwas verbindet. Zwar gaben die Delegierten ("Bei uns darf jeder reden") auch einem DKP-Vertreter das Wort zu einem historischen Exkurs, doch zugleich konstatierten Jungdemokraten, daß »die Regierenden in der DDR mir genauso zuwider sind wie die Athener Obristen« (Judo-Vize Klaus Rösch). Ihre politische Position machten die DJD-Sozialliberalen in der Nähe der an schwedischen und jugoslawischen Modellen orientierten SPD-Jungsozialisten oder etwa des französischen Liberalsozialisten und früheren »L'Express«-Chefs Jean-Jacques Servan-Schreiber aus (siehe Seite 140).

Freilich geben sich die FDP-Junioren nicht der Illusion hin, ihre radikal-liberalen Ziele allein auf dem Wege der innerparteilichen Opposition (Ipo) erreichen zu können. Zu klein Ist der Spielraum der von der Fünf-Prozent-Klausel bedrohten Partei, zu groß ihre finanzielle Abhängigkeit von privaten Finanziers. So widmen sich die DJD verstärkt außerparlamentarischer »Basisarbeit« -- indem sie etwa Schülerstreiks gegen den Numerus clausus ausrichten oder gemeinsam mit Lehrlingen gegen die Berufsausbildungspraxis protestieren.

Einig sind sich die Jungdemokraten über die Notwendigkeit, den rechten FDP-Flügel um Erich Mende zumindest zu neutralisieren. Nahziel: die Bremswirkung der FDP-Wirtschaftspolitiker auf die Regierung Brandt zu schwächen und die rechtsstaatlich-liberale Kontrollfunktion der FDP-Linken zu stärken.

Angeführt bei ihrem langen Marsch zugleich als Apo und Ipo werden die Judos von ihrem neuen Vorsitzenden Heiner Bremer, 28, der bei der IG Metall Arbeitsrecht gelernt hat und seit kurzem als Redakteur beim Hamburger »Stern« über Parteien und Gewerkschaften berichtet. Auch Bremer hat Zweifel, ob die FDP, die sich seit der Bundestagswahl »mit fortschrittlichem Gehabe zur konservativen Seite zurückentwickelt, noch eine Chance hat mit ihrer Bremserfunktion«.

Sollte die FDP diesen Kurs fortsetzen und bei der nächsten oder übernächsten Bundestagswahl scheitern, wären viele Jungdemokraten darüber nicht traurig. Vorstandsmitglied Dankward Bauer: »Der Liberalismus der freien Verfügung über das Eigentum an Produktionsmitteln ist keine Träne wert. Sein Untergang ist mit allen Mitteln zu fördern.«

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