Zur Ausgabe
Artikel 23 / 85

JUSTIZ / BUNDESRICHTER Vortheil verloren

aus DER SPIEGEL 46/1969

Im Oktober 1960, als der Bundesgerichtshof in Karlsruhe zehn Jahre alt war, lobte der damalige Justizminister Fritz Schäffer die letzte Instanz des rechtsuchenden Deutschen: An »der Autorität des Gerichts« und »seinem richterlichen Können« sei nicht zu zweifeln.

Der Präsident des BGH schätzt sein hohes Haus bescheidener ein: Der Gerichtshof, sagt Dr. Robert Fischer, 58, sei immer »nur so gut, wie es die Länderjustizminister für richtig halten«,

Das aber ist eine Verharmlosung. Denn die elf Bundesländer haben -- ohne gesetzliche Basis -- die 104 Karlsruher Planstellen nach einem Proporzsystem unter sich aufgeteilt. Und so werden häufig nicht die fähigsten, sondern die zufällig fälligen Juristen in die oberste Instanz für Zivil- und Strafsachen entsandt.

Mithin hängt es seit zwei Jahrzehnten vom provinziellen Arrangement ab, wer in der roten Robe über Wohl und Wehe rechtsuchender Bürger entscheidet, wer die Leitlinien steckt, nach denen Zivil- und Strafrichter der Republik ihr Urteil auszurichten haben, wer rechtsschöpferisch die Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft vorantreibt oder bremst.

Doch nicht länger möchte sich BGH-Präsident Fischer dem Länder-Diktat unterwerfen. Seiner Ansicht nach »ist diese Praxis nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren«. Überdies kollidiert sie mit dem Qualitätsanspruch, den der Bundesgerichtshof an sich selber stellen muß.

Denn wenn beim BGH eine Stelle zu vergeben ist, beginnt die Proporz-Prozedur. Statt nach dem begabtesten Richter im ganzen Lande zu fahnden, begnügt sich der Richterwahlausschuß in aller Regel damit, aus der Vorschlagsliste des Landes, das gerade an der Reihe ist, den Neuen auszuwählen.

So müßte zum Beispiel ein qualifizierter Jurist, der das Pech hat, im Stadt-Staat Bremen Recht zu sprechen, 13 Jahre lang auf seine Beförderung zum Bundesrichter warten. Dem kleinsten Bundesland steht nach der Proporz-Absprache ohne Rücksicht auf die Vorzüge seiner Richter nur eine Stelle zu -- und die ist bis 1982 blockiert.

Solche Wartezeiten können entstehen, weil die Richterstellen nicht etwa im Turnus, sondern nach einem Erbhof-Prinzip vergeben werden: Das Land, dessen Karlsruher Statthalter ausscheidet, darf auch den Nachfolger benennen. Bei solchem Rotationssystem sind die großen Bundesländer, denen zahlreiche Steilen -- Nordrhein-Westfalen 29, Bayern 17 -- zur Verfügung stehen, allemal schneller an der Reihe als die kleinen (Bremen eine, Saarland zwei, Hamburg drei, Schleswig-Holstein und Berlin je vier Positionen.

Dieses starre Verfahren soll nach den Vorstellungen des BGH-Chefs bereits beim nächsten Wahlgang aufgelockert werden. Doch der Präsident scheiterte vorerst Freitag vorletzter Woche am Widerstand der Länder-Justizminister. Nach einem Kompromiß, der zwischen Fischer und dem früheren Bundesjustizminister Ehmke vereinbart worden war, sollten die Länder bewogen werden, auf einige BGH-Stammplätze zu verzichten und dadurch eine länderfreie Quote von zehn Planstellen ermöglichen. Aber nicht einmal mit diesem minimalen Zugeständnis, nach dem immer noch 94 von 104 Planstellen in ihrer Gewalt geblieben wären, waren die Justizminister auf einer Konferenz in Berlin einverstanden.

Zwar hörte sich das Gremium die Karlsruher Reformvorschläge freundlich an. »BGH-Chef Fischer und der Präsidialrat haben die Probleme ausgebreitet«, berichtete Berlins Justizsenator Hans-Günter Hoppe, der als Gastgeber der Konferenz vorsaß. Doch »im Prinzip«, so Hoppe weiter, »wollen es die Länderjustizminister bei der Länderquote belassen«.

Allenfalls zu einer »flexiblen Handhabung« fand sich die Konferenzrunde bereit. Hoppe: »Wo Spezialisten für den BGH angeboten werden, sollen nicht nur Angehörige der Oberlandesgerichte, sondern auch qualifizierte Ministerialbeamte der Bundesjustizverwaltung und Rechtsanwälte berücksichtigt werden.«

Das Kernproblem wurde wiederum ausgeklammert: daß der Spitzenkandidat des Landes, das an der Reihe ist, weniger qualifiziert sein kann als ein Dutzend anderer Richter, Die Tendenz zur Durchschnittlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bleibt unverändert.

Zwar entbehrt der überkommene Modus jeder rechtlichen Grundlage. Doch können sich die Länder auf eine 100 Jahre alte Tradition stützen. Zum erstenmal entwickelte 1889 der Norddeutsche Bund bei der Besetzung seines »Bundes-Oberhandelsgerichts« regionales Sendungsbewußtsein. Die Wahlgremien für das Reichsgericht verfuhren ähnlich. 1950 beschloß der erste bundesdeutsche Richterwahlausschuß, den Proporz-Patriotismus »in Anlehnung an die Praxis beim Reichsgericht« fortzuführen.

An Kritikern dieser kleinkarierten Personalpolitik hat es nie gefehlt. Schon 1885 warnte der Senatspräsident am Reichsgericht Dr. Paul Christian Henrici: »Dieser Vortheil«, bewährte Kräfte aus dem ganzen deutschen Reich für das oberste Gericht heranzuziehen, »geht ja aber nicht nur verloren, sondern verwandelt sich leicht geradezu ins Gegenteil, wenn bei Vakanzen gefragt wird, welcher Staat an der Reihe sei«.

Henricis Argumente haben an Überzeugungskraft nichts eingebüßt. Heute wie damals muß das oberste Gericht die Auswahl seiner Mitglieder weitgehend dem Zufall überlassen und auf Spitzenjuristen verzichten, wenn sie zufällig im falschen Bundesland leben. Die betroffenen Richter aber werden für ihre Herkunft bestraft.

Präsident Fischer: »Der Justizminister von Baden-Württemberg, Schleier, kann einen unerhört fähigen Juristen vorschlagen«, doch leider sei die Stuttgarter Quote bereits überzogen, und »so geht ein Mann, der hervorragend geeignet wäre, dem Gericht verloren«. Einen Parallelfall gebe es In Niedersachsen, klagt der BGH-Chef: »Wenn so ein Land wieder dran ist, stellt es eben einen.« Will heißen: notfalls auch irgendeinen.

Hessen (neun Planstellen) sei in dieser Hinsicht, lobt der Präsident, »das einzige vernünftige Land«. Es halte sich, »wenn gerade keiner da ist«, einfach zurück und lasse anderen den Vortritt. Andere Länder hingegen verlagern das Proporzsystem bis in die untere Ebene. Jüngst wurde Richter Fischer Zeuge, als der Präsident eines Oberlandesgerichts bei seinem Justizminister die Forderung anmeldete: »Jetzt ist aber einer aus meinem Bezirk dran.«

Der BGH-Präsident hält solche Postenschieberei für unrechtmäßig. Zwar bestimme Artikel 36 des Grundgesetzes, daß »bei den obersten Bundesbehörden Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden« seien, aber selbst bei den Beamten es »so nicht gehandhabt« werde. Er, Fischer, habe noch niemals gehört, daß »der Posten eines Ministerialdirigenten in Bonn nach dem Länderproporz besetzt« worden sei, und die anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes müßten sich auch nicht mit Länderquoten herumschlagen.

Freilich: Jedes -- wie immer geartete -- Ausleseverfahren müßte gewährleisten. daß der beste Mann auf den richtigen Platz kommt. Dort aber, wo im BGH selber über Stelle und Stellenwert entschieden wurde, landeten mitunter die richtigen Bundesrichter an den falschen Schreibtischen.

Als beispielsweise im vergangenen Jahr mehrere Stellen vakant wurden, wählte der Richterwahlausschuß den Oberlandesgerichtsrat Dr. Horst Woesner, 55, aus Bremen zum Bundesrichter. Woesner, ein reformfreudiger Strafrichter, wurde in den Zivilsenat für Entschädigungsfragen versetzt.

Der Verdacht lag nahe, daß der Bremer Jurist, der sich in der Fachliteratur als Kritiker des bestehenden Strafrechts einen Namen gemacht hatte, konservativen Karlsruher Veteranen zu liberal erschien. BGH-Chef Fischer widerspricht mit einem Argument, das seinem Haus nicht wohl ansteht: Im Entschädigungssenat, der sich mit der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts befasse, dürften nur politisch unbelastete Richter sitzen. Ein anderer als Dr. Woesner aber sei damals nicht verfügbar gewesen.

Wie ein Affront wirkte jedoch die Placierung Woesners auf den SPD-Bundestagsabgeordneten und Rechtsexperten Martin Hirsch, der nach eigenem Bekenntnis »sauer reagierte«. Denn, so erinnert sich Hirsch, bei der Wahl »war für alle ganz klar, daß Dr. Woesner in einen Strafsenat« sollte.

Auch Hirsch argwöhnte, daß »in diesem Fall Woesners Richtung offenbar nicht gefragt gewesen« sei. Doch das werde man »wohl nicht beweisen können«. Einen Indizienbeweis freilich gibt es.

Woesners Versetzung in den Zivilsenat wurde am 16. Oktober 1968 bekanntgegeben. Am Tage vorher kannte ein prominenter Münchner Rechtsanwalt mit guten Kontakten zum BGH schon das Ergebnis der Beratungen und verkündete triumphierend: »Der Mann wird kaltgestellt.«

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 23 / 85
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren