SCHRÖDER Vorwärts! Vorwärts!
Nur drei seiner Finger brauchte Konrad Adenauer, um zu demonstrieren, welche Risiken mit dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ins Haus stehen.
Vor deutschen Urlaubsgästen in Cadenabbia streckte der Kanzler die drei Finger in die Luft: »Das hier ist England, das ist Frankreich und das ist Deutschland; auf die anderen kommt es gar nicht an.«
Nach Kinderart spielte er mit den Fingern: »Entweder Deutschland und England stehen gegen Frankreich - oder Frankreich und Deutschland gegen England - oder Frankreich und England gegen Deutschland. Und England und Frankreich machen dann doch gleich bei den Getreidepreisen Kippe*.«
Kurz bevor Adenauer in den Urlaub nach Italien geflogen war, hatte er sein Fingerspiel bereits schwarz auf weiß erläutert, und zwar in einem Brief an Hamburgs Ersten Bürgermeister Nevermann: »Bei den bisherigen Verhandlungen (über Englands EWG-Beitritt) sind wichtige Punkte noch gar nicht besprochen oder zumindest nicht hinreichend geklärt worden. Ich möchte dabei nur an die Lage unserer Landwirtschaft, unseres Kohlenbergbaus und unserer Textilindustrie erinnern.«
Überdies: »Noch wichtiger aber ist die Prüfung der Stimmverhältnisse innerhalb der EWG... »
Vergebens bat das Bundespresseamt den hanseatischen SPD/FDP-Senat, das mit dem Bonner Außenamt nicht abgestimmte Schreiben unveröffentlicht ins Archiv zu legen. Hamburg publizierte den vollen Wortlaut - am selben Tage, an dem Englands Europaminister Edward Heath nach Bonn kam, um sich an Ort und Stelle über die wahren deutschen EWG-Intentionen zu informieren.
In Gesprächen mit Wirtschaftsminister Erhard, Landwirtschaftsminister Schwarz und Außenminister Schröder fand der Brite rasch heraus, daß technische Hindernisse, wie beispielsweise die Abstimmung der nationalen Landwirtschaften aufeinander, dem EWG -Beitritt seines Landes nicht im Wege stehen.
Dies um so weniger, als Großbritannien nach der Commonwealth-Konferenz der letzten Wochen Freiheit hat, sich dem vertraglich fixierten EWG -Komment der sechs festländischen EWG -Gründerstaaten zu unterwerfen.
Doch wie England die politischen Bedenken Adenauers gegen veränderte »Stimmverhältnisse« in der EWG zerstreuen könnte, wußten auch die Bonner Minister nicht aufzuklären.
Sagte Heath: »Ich stellte in Bonn fest, daß die Bundesminister, mit denen ich zusammentraf, sehr entschlossen sind, daß die Verhandlungen jetzt gute Fortschritte machen müssen.«
Weniger sicher: »Ich hoffe, daß die Ergebnisse meines Besuchs bei Bundeskanzler Dr. Adenauer (in Cadenabbia) ebenso gut sein werden.«
Es war Außenminister Schröder, der dem widerstrebenden Kanzler am Sonnabend der vorletzten Woche bei einem achtstündigen Besuch in Cadenabbia aufgeredet hatte, den britischen Europaminister für den Montag dieser Woche an den Comer See einzuladen. Voller Genugtuung vertraute er in Bonn dem britischen Gast bei Tisch an, wie glücklich er nach soviel lautem deutsch-französischem Freundschaftsjubel über diesen gelungenen Streich sei.
Nachdem der französische Staatspräsident de Gaulle und der deutsche Bundespräsident Lübke vor vier Wochen beim Bankett in Schloß Brühl überschwänglich die deutsch-französische Entente gefeiert hatten, war Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid auf Bundesaußenminister Gerhard Schröder zugetreten: »Sie haben eine große Chance. Wer sich jetzt gegen diese beiden Reden stellt, ist der Kanzler von morgen.«
Eine Antwort auf eben diese Frage, wer der Kanzler von morgen sei, suchte in Bonn der zweite Staatsbesucher der letzten Woche, der Chefberater Mc-George Bundy aus Kennedys Weißem Haus. Auch ihm gegenüber zeigte Schröder, daß er den Rat Carlo Schmids zu beherzigen wußte.
Kanzler-Staatssekretär Globke hatte dem Gast aus Washington weisungsgemäß mit der Klage in den Ohren gelegen, den Amerikanern fehle es an Entschlossenheit, ihre Rolle als Führungsmacht im Atlantischen Bündnis zu spielen. Außenamts-Staatssekretär Lahr versprach, Pannen wie die mit dem inzwischen abgelösten Botschafter Grewe würden sich nicht wiederholen. Und Verteidigungs-Staatssekretär Hopf war noch weniger ergiebig.
Allein Schröder, der am Montag vergangener Woche gleich nach Rückkehr vom Straßburger Europa-Rat beim Dinner mit Bundy zusammentraf, fand den rechten Ton, um dessen Verstimmung über den niedrigen Rang der ihm am Tage präsentierten Gesprächspartner zu beheben: Der Herr Bundeskanzler würde sich freuen, Mister Bundy zu einem Gedankenaustausch in Cadenabbia zu sehen.
Die Einladung Bundys zum Kanzler hatte Schröder ebenfalls vorsorglich arrangiert. Nach der Rechnung des Außenministers sollen der Brite Heath und der Amerikaner Bundy dem alten Herrn in Cadenabbia klarmachen, daß die Bundesrepublik nicht gegen England und die Vereinigten Staaten regiert werden darf.
Für Schröder gibt es keine Zweifel, daß niemand sich dem Drang Englands in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf Dauer widersetzen kann und daß andere Staaten den Engländern folgen werden.
Von den eigenen Worten überzeugt, schloß der ansonsten eher kühle Bundesaußenminister seine Rede vor dem Straßburger Europa-Rat am Montag letzter Woche mit schmetternden, hellen Fanfaren: »Vorwärts in Freiheit! Vorwärts! Vorwärts!«
Bundeskanzler Adenauer, in Cadenabbia auf die »Politik der Bundesregierung« angesprochen, sagte: »Ach, Sie meinen das Auswärtige Amt.«
* Wenn England der EWG beitritt, muß die Bundesrepublik befürchten, bei einer gemeinsamen Abmachung über den künftigen EWG-Getreidepreis überspielt zu werden. England und Frankreich haben verhältnismäßig niedrige Erzeugerpreise für Getreide, nämlich etwa 30 Mark beziehungsweise 33 Mark je Dopelzentner Weizen. Die Bundesrepublik dagegen hält ihren Getreidepreis zugunsten der Landwirtschaft künstlich hoch. Mit über 45 Mark liegt der deutsche Weizenpreis in der EWG an der Spitze. Bei einem Übergewicht der Länder mit niedrigem Getreidepreis ware die Bundesrepublik gezwungen, ihre Preise zu senken.
Minister Schröder, Besucher Bundy: Wer ist der Kanzler von morgen?