SPD Vorwärts zum Wechsel
Den Vorsitzenden beschlich eine Ahnung. In Perioden des Übergangs, sagte er, sei es sinnlos, Programme zu schreiben.
Das ist nicht Oskar Lafontaines Weisheit. Diese Einsicht trug Kurt Schumacher im Jahr 1946 den Delegierten des ersten Nachkriegsparteitages in Hannover vor. Allerdings lief das Bundestreffen der SPD in der vergangenen Woche so ab, als habe der wortmächtige Veteran Schumacher auch diesmal die Richtung vorgegeben.
Gewiß, die Sozialdemokraten konnten nach ihrem Parteitag mit Oskar Lafontaine zuversichtlich verkünden: »Wir sind wieder da.« Wer aber »wir« ist und »was wir wirklich können wollen«, wie es der Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer in der Debatte ausdrückte, das blieb offen.
So sollte es auch sein, sagten die Parteistrategen. Das ergebe sich zwangsläufig aus der Entschlossenheit der beiden potentiellen Kanzlerkandidaten, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, sich um keinen Preis gegeneinander in Stellung bringen zu lassen.
Die beiden präsentierten in Hannover grelle Bilder ihrer politischen Männerfreundschaft anstelle klarer Antworten. Und je länger und aufdringlicher sie ihre Eintracht in die Kameras grinsten und in die Mikrophone witzelten, desto deutlicher wurde aus ihrem Krampflächeln purer Hohn - nicht nur ihre Kandidaten-Show erschien absurd, sondern nicht minder die Erwartung, die Herren würden ihr »wahres Gesicht« zeigen.
Daß Politiker nicht nur zur Täuschung, sondern auch zum Schutz Rollen spielen, daß sie Masken und Kostüme benutzen, ist auch eine Wahrheit.
Die Traditionspartei SPD hält für ihre Akteure ein eindrucksvolles Repertoire von Modellen zur Nachahmung bereit. »Die Enkel« - die ähnlicher nicht sein könnten in ihrem Ehrgeiz und ihrem Machtbewußtsein und unterschiedlicher sich nicht geben könnten in ihrem Auftreten - zogen sich auf die Rollen zurück, die ihnen ihre großväterlichen Vorbilder hinterlassen haben.
Da malte der Saarländer Lafontaine, keine Spur mehr zappelig und spöttisch, liebevoll seinen Namen in das Parteibuch einer Genossin aus dem Harz, direkt neben eine Erinnerungsmarke mit dem Konterfei Willy Brandts. Es gefällt ihm, als der stärkste Parteichef »seit Willy« gesehen zu werden. Längst redet er schon wie »der Alte«.
Da zog Schröder, ganz im gönnerhaften Stil Helmut Schmidts, den Sieger des SPD-Innovationswettbewerbs ins Fernsehlicht, Friedrich von Bohlen und Halbach: »Das kann ja vielleicht helfen, aus Wettbewerbsgründen, wenn die Leute Sie mal sehen.« Wie Sozialdemokraten aus kleinen Verhältnissen eben so reden mit den Sprößlingen der Schlotbarone.
Der Rückgriff der Kandidaten auf alte Muster paßte gut zum auffälligen Bemühen der Sozialdemokraten in Hannover, der Flucht des Kanzlers Helmut Kohl vor der gegenwärtigen Bonner Tristesse in die Träume vom nächsten Jahrtausend eine Werte-Grundierung aus der Vergangenheit entgegenzusetzen. Lafontaine berief sich auf »das zivilisatorische Erbe Europas« bei seinen Bemühungen, »im Zeitalter der Globalisierung« den Sozialstaat vor der Demontage zu retten. Und auch Schröder warb für eine SPD, »die Tradition und Moderne verbindet«.
Während aber der Parteichef für seine Traditionsbeschwörung gefeiert wurde, erntete Schröder nur kargen Dank. Als der vom Rednerpult abtrat, war sein Gesicht fahl vor Erschöpfung. Er sackte auf seinen Stuhl, als habe er sich einen Weltrekord im Gewichtheben zugemutet. Reden ist Schwerarbeit.
Eigentlich hätte Schröder ja auch nur einen Antrag begründen sollen. Einen gewichtigen gewiß, aber eben doch nur einen von 388. Und das erst am dritten und letzten Tage nach der »Großen Rede« des Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine.
Doch je näher in der vergangenen Woche Schröders Auftritt rückte, desto bedeutsamer erschien sein Beitrag zum Thema »Innovationen für Deutschland«. Sieben Leute arbeiteten ihm zu, bis zum letzten Abend schwoll das Manuskript an, aus einer halben Stunde wurde eine ganze, aus einer Antragsbegründung ein rhetorisches Großunternehmen.
Immer schon hatte auf Parteitagen die Erwartung von Mitgliedern, Presse und Publikum den Reden der Hauptmatadore gegolten. Die Macht des Fernsehens erhebt diese Auftritte endgültig in den Rang von Herrschaftsritualen.
Spätestens seit Mannheim aber, dem tumultuösen Putsch-Parteitag vor zwei Jahren, ist bei den Sozialdemokraten die »Große Rede« ein Ereignis von magischer Bedeutung. Damals hatte sich Rudolf Scharping mit schwächelnder Rhetorik um sein Amt gebracht. Lafontaine erredete sich mit einem Feuerwerk aus Sätzen und Emotionen den Parteivorsitz.
Was Wunder also, daß sich in Hannover Genossen, Medien und ein breites Publikum - allen Versicherungen zum Trotz - dennoch eine Art Vorentscheidung zwischen Lafontaine und Schröder erhofften. Die beiden wußten, daß ihre Auftritte Profilierungschance und Falle zugleich waren.
»Die Rede ist eine Zwiesprache, bei der einer spricht und die anderen hörend mitreden«, hat der Liberale Friedrich Naumann in grauer Vorfernsehzeit gesagt. Heute beschreibt das nur die Kommunikation zwischen dem Redner und einem ersten Ring des Publikums, den direkten Zuhörern. In Hannover waren das die Delegierten des Parteitages.
Die redeten aber bei Schröder nicht hörend mit. Sie wehrten ab. Die Erschöpfung des Hannoveraners rührte vor allem daher, daß diese »Zwiesprache« nicht nur ausblieb, sondern durch gegenseitiges Mißtrauen und Unbehagen blockiert wurde.
Zwar beklatschten seine Gefolgsleute noch tapfer die ersten Sätze, aber mit zunehmender Dauer wuchs die Distanz zwischen Redner und Auditorium. Schröder las ab. Brav trug er einen gewitzten und dramaturgisch ordentlich aufgebauten Text vor, dessen Gewicht ihn zu ermüden schien. Pflichtapplaus.
Schröder warb um die Partei, die er so wenig liebt, wie sie ihn, zu der er aber doch gehört und gehören will. Er nahm - mit resigniertem Lächeln - Abstriche hin zu seinem Programm und betonte: »Der Markt ist nicht Selbstzweck.«
Es nützte wenig. Die Delegierten versanken phasenweise in schweigender Erstarrung. So fremd waren sich früher oft der Kanzler Helmut Schmidt und seine Partei gewesen. Aber wo der wenigstens noch Bewunderung auslöste durch seine arrogante Eloquenz, quälte sich Schröder durch eine Mischung aus Argwohn und Hoffnung. Viele Genossen wollen ja an ihn glauben, weil er im Lande so gut ankommt.
Tatsächlich war Schröders Rede auf zwei anderen Publikumsebenen auch keineswegs ein Mißerfolg. Für viele der schreibenden und analysierenden Beobachter im Saal, die sozusagen einen zweiten Ring von Zuhörern bildeten, blieb der Ministerpräsident aus Niedersachsen der einzige, der den Genossen in ihrer Gefühligkeit wenigstens knappe Ausblicke auf die harten Realitäten zumutete. »Man muß die Lehren aus dem Leben nehmen«, zitierte Schröder Kurt Schumacher von 1946. Und seine Nutzanwendung heißt: »Ökonomisches Denken ist die Überlebensstrategie für das nächste Jahrtausend.«
Damit lockte er »seine« Leute, wie er das potentielle Wahlvolk zu nennen pflegt, Bürger ohne SPD-Stallgeruch: Individualisten mit Gemeinsinn und Pragmatiker mit Visionen zählt er auf. Dazu Unternehmer, »die es nicht modern finden, Land und Leute nicht mehr zu kennen, sondern die Verantwortung spüren«. Und endlich auch jene Arbeiter und Handwerker, die stolz sind auf ihre Leistung. Schröder: »Die will ich alle bei uns wissen.«
Natürlich waren die in Hannover nicht dabei. Sie bildeten den dritten Publikumsring: Vor dem Fernseher kamen sie auf ihre Kosten. Die lähmende Befangenheit des Redners, die sich in der Parteitagshalle fast körperlich auf die Zuhörer übertrug, kam da als staatsmännische Zurückhaltung und wirtschaftliche Kompetenz rüber.
Ein Springteufel und polarisierendes Kraftpaket ist dagegen Lafontaine, der immer aus dem Fernsehapparat dem Bürger ins Wohnzimmer zu springen droht, um dort eigenhändig auf den Tisch zu schlagen.
Aus der Distanz mochte mancher aufgeplustert finden, was im Parteitagsplenum als Intensität beeindruckte. »Der Oskar« hatte keine Schwierigkeiten bei der inneren »Zwiesprache« mit den Delegierten. Er sprach nicht so sehr zur Sache als zu den Genossen. Auf ihr Herz zielte er, und das erreichte er auch. Daß er bei der Wahl zum Vorsitzenden 92,3 Prozent der Stimmen erzielte, Schröder nur knapp 75, spiegelt die Stimmung und die Macht in der Partei.
Und doch ist der Preis beträchtlich, den Lafontaine für seine Konzentration auf die Pflege der Parteiseele zahlt. Er verkürzt sein Image um eine Dimension von Intellektualität und Reflexion, über die er verfügt. Mutwillig reduziert er die Wirklichkeit auf holzschnittartige Modelle, deren Botschaft er hämmernd verkündet. Entwicklungen und Nuancen blendet er aus, oft vergröbert er ohne Not bis zur Fratzenhaftigkeit, kreiert Popanze als Gegner.
Daß Lafontaine belesen ist, sich systematisch vorbereitet in Sachfragen und sich kompetent fühlt im Theorien-Streit um den Begriff der Moderne, bleibt der Öffentlichkeit derzeit verborgen. Die traditionelle Sprache des Parteiagitators, die er aus pädagogischen Gründen verwendet, läßt den wortwitzigen Mann aus Saarbrücken provinzieller erscheinen als Schröder. Sein autoritärer Duktus verdeckt einen rebellisch-republikanischen, wenn nicht gar anarchischen Kern.
In Hannover hat Lafontaine sich präsentiert, aber nicht gezeigt. Wie Schröder hält er bewußt Teile seines Denkens und seines Wesens versteckt. Die Art, in der der Parteivorsitzende bei der Diskussion um Schröders Wirtschaftsantrag dem Rivalen beisprang, als die Parteilinken dem ein staatliches Wirtschaftsprogramm aufnötigen wollten, war typisch für diese Haltung: nur keine konkreten Zahlen und Zeitpunkte.
Undeutlichkeit statt Programm? Oder gar als Programm?
Darin steckt auch Kalkül, um niemanden zu verschrecken. Vor allem aber entspricht der Verzicht auf eine allzu konkrete programmatische Festlegung tatsächlich, wie Kurt Schumacher wußte, den Bedürfnissen von Übergangsperioden.
In einer Situation, in der bei nahezu jeder konkreten Frage die Mitglieder von großen Volksparteien übereinander herzufallen beginnen, empfehlen sich vage Definitionen. Für Innovation steht der Modernisierer Schröder, für soziale Gerechtigkeit der Traditionalist Lafontaine. Das reichte den Genossen in Hannover. Tatsächlich sind sie nach 15 Jahren Kohl-Regierung allein schon durch die Aussicht auf Wechsel zu mobilisieren.
»Wenn wir es diesmal nicht schaffen, dann ist niemand schuld außer uns selbst«, hatte Gastgeber Schröder gesagt, in diesem Falle ganz und gar nicht quer zur Stimmungslage der Partei. Sie reagierte auf diese Situation mit einer nüchternen und disziplinierten Ernsthaftigkeit, die ihr lange abging. Ob Ministerpräsidenten, Delegierte oder Genossen von der Basis, die in der Vorhalle der Parteitagsarena ihre Ortsvereinsarbeit vorstellten - alle wollen endlich »die Ära Kohl« beenden. Das disziplinierte die Genossen bis in die geheimen Abstimmungen hinein.
Keine Frage, es gab schon inspirierendere Parteitage als den in Hannover und buntere Sozi-Versammlungen, obwohl die Quote dafür sorgte, daß die Zahl der grauen Genossen fast halbiert war. Aber auch die vielen Frauen im Plenum änderten nicht den Gesamteindruck: Die Sozialdemokraten wirkten auf eine fast provozierende Weise diszipliniert, nüchtern, alltäglich und bieder. Keine Spur mehr von Toskana-Fraktion und Sponti-Alternativen.
Vorbei die Zeit, als Rot-Grün noch ein historisches Projekt genannt wurde. Jetzt erscheint ein Bündnis mit den Grünen als eine mögliche Koalition, wünschenswert gewiß, wenn auch unwahrscheinlicher als Rot-Schwarz. Daß Joschka Fischer im übrigen auch, wenn er Gelegenheit bekäme, eine schwarz-grüne Koalition mit Wolfgang Schäuble einginge, glaubt nicht nur Lafontaine.
Am Ende schien alles wie immer. Die Genossinnen und Genossen erhoben sich, um das alte Lied von der neuen Zeit anzustimmen, die angeblich mit ihnen zieht. Weit sind sie damit in den letzten 15 Jahren nicht gekommen.
Aber diesmal klangen sie weder trotzig noch resigniert oder gar sentimental. Sie sangen sozusagen zur Geschäftsordnung. Die stand über ihnen an der Wand: »Wir sind bereit.«
* Hinten: Heide Simonis, rechts: Reinhard Höppner.