TSCHECHOSLOWAKEI / DEMOKRATIE Wacht an den Grenzen
In der Prager Vladislavova-Straße lugte der pistolenbewehrte Portier alle Augenblicke nach einer Staatskarosse aus.
Drinnen, hinter der brüchigen Fassade des Prager Fernsehstudios, stolperten aufgescheuchte Techniker der »Ceskoslovenská televize« über Kabel. Kameraleute richteten ihre Objektive auf einen kleinen Holztisch vor weißer Pappwand -- gegenüber der Landkarte, vor der die Nachrichten des CSSR-Fernsehens verlesen werden.
Das Fernseh-Team erwartete überraschend angekündigten Besuch: Cestmir Cisar vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, den einzigen prominenten Reform-Kommunisten, der an der Moldau geblieben war.
Haushüter Cisar sollte dem Volk der Tschechen und Slowaken eine Botschaft bringen, auf die 14 Millionen Menschen zwischen Böhmerwald und Tatra voll Spannung harrten: Auf klärung darüber, was im hintersten Winkel der Slowakei, im 500 Kilometer entfernten Cierna an der Theiß, über ihr Schicksal beschlossen worden war.
Im Kinosaal des Eisenbahner-Kulturhauses von Cierna hatte bis vorletzte Woche Eddie Constantine als Hauptdarsteller des Science-Fiction-Films »Alphaville« die Welt des Jahres 1990 von einem Terror-Computer befreit. Im selben Saal versuchte seit Montag morgen letzter Woche der Prager Liberalkommunist Alexander Dubcek, sein Land von der Drohung einer sowjetischen Invasion zu befreien. Drei Tage schon hatte die Dubcek-Riege -- 16 Mitglieder der KP-Spitze des Landes -- gegen die gesamte Kreml-Elite gerungen -- gegen 13 Mitglieder des Politbüros der KPdSU, das zum erstenmal in 13 Salonwagen geschlossen über die Grenzen des roten Reiches gereist war.
Nun sollte Cisar den Ausgang des Kino-Kampfes verkünden, bei dem es nicht nur um die Zukunft von Böhmen, Mähren und Slowaken ging, sondern um Gelingen oder Scheitern eines »historischen Experiments« (DDR-Professor Havemann): die Demokratisierung des Kommunismus.
Doch Cisar kam nicht, und auch der Platz des Nachrichtensprechers blieb leer. Als Lückenbüßer flimmerte in der nächsten Stunde eine historische Dokumentation über die Tschechen-Mattscheiben: ein Filmbericht über jene tschechische Legion, die vor einem halben Jahrhundert den Sowjet-Kommunismus beinahe im Kindbett erstickt hatte.
Es war Mittwoch nacht an der Moldau, eine stickigheiße Nacht in der bisher heißesten Woche des Prager Sommers. Eine Nacht, in der katholische Priester für Kommunisten beteten, in der Hoffnung, Verzweiflung und Wut einander abwechselten.
Denn abends kursierte die Nachricht, die Sowjets seien an der Theiß mit ihren Forderungen nach Truppen-Stationierung in Böhmen und Rückkehr der Tschechoslowaken zur Russen-Route abgeschmettert worden. Nun dinierten die vom Argumentieren heiseren Genossen gemeinsam: dann, so hieß es, würde eine Erklärung abgegeben.
Es kam keine Erklärung -- auch nicht in den um eine Stunde verschobenen Nachrichten. Es kam das Gerücht, die konservativen und die liberalen Kommunisten hätten sich verkracht, die Sowjets seien Im Zorn vom Gemeinschafts-Bankett geschieden.
Der Griff des großen roten Bruders -- den Tschechoslowaken nur noch lästiger Stiefbruder -- blieb ihnen an der Kehle und schien noch kräftiger zu würgen.
Jenseits der Grenzen im Norden, Osten und Süden der langgestreckten Republik zerwalzten Panzer erntereife Felder. Von der Elbe über Schlesien, die Ukraine und Nordungarn waren Hunderttausende Soldaten zu den größten Manövern der Nachkriegsgeschichte Europas aufgefahren. Manöver-Ziel: Durchschneiden der CSSR In zwei Kessel.
Das Prager Verteidigungsministerium errechnete: Sollten die Kreml-Kameraden Ernst machen, wäre das Land selbst bei (nicht eingeplantem) Widerstand der CSSR-Armee in genau zwei Stunden und 46 Minuten überrollt und besetzt.
Im Prager »Palace«-Hotel geigien die Musiker dieselbe Melodie wie vor 30 Jahren angesichts des bevorstehenden Einmarsches der Deutschen: »An unsern Grenzen steht die Tschechen-Wacht«. Im »T-Club« stimmten deutsche Urlauber jetzt Dubcek-Hymnen an. Die auf Straßen, in Kneipen und Wohnungen erbittert debattierenden Prager meinten: »Sollen sie doch kommen. Dann müssen sie allerdings neben jeden von uns einen Iwan mit angelegtem Gewehr stellen.«
Denn aus den böhmischen Schwejks waren wütende Hussiten geworden. »Dieses Volk«, erläuterte Schriftsteller Pavel Kohaut dem SPIEGEL, »hat jetzt, was es ganz selten hat: Moral. Drei Jahrhunderte Habsburg hatten unsere Moral zermürbt, München 1938 hat ihr den Rest gegeben, aber jetzt ist sie wieder da und muß genützt werden -- sonst fallen wir um Jahrzehnte, vielleicht für immer, zurück. Ein zweites München kann unser Volk nicht ertragen.«
Kohout selbst hatte am vorletzten Wochenende seinen Landsleuten Gelegenheit gegeben, ihre Moral zu beweisen. In einer Sonderausgabe der aufsässigen Schriftsteller-Zeitschrift »Literárni listy« ("LL") richtete Kohout einen pathetischen Aufruf an die KP-Führer der CSSR, Demokratie und Souveränität zu verteidigen, den Weg weiterzugehen, »von dem wir lebend nicht mehr weichen.«
Als der Druck der »Literárni listi«-Sonderausgabe anlief, spuckte der Obermaschinenmeister dreimal auf die Rotationsmaschine: »Für Dubcek«. Das Volk, so heischte ein Aufruf der Zeitschrift, solle dem Appell durch Unterschriften beitreten.
Und dann gab es etwas, »was es in unserem Leben noch nie gegeben hat« -- so ein »Literárni listy«-Redakteur: Vor dem »Detsky dum«, einem Kinderwarenhaus am Prager Graben, unterschrieben 85 509 Menschen meist mit voller Adresse den Freiheits-Appell.
In Jablonec unterzeichneten 400 Leichtathleten, die um Meisterwürden fochten. Auf der Burg Karlstein wurde der »LL«-Appell während einer Theater-Aufführung von einem Schauspieler im Kostüm Kaiser Karl IV. verlesen. Im Schwimm-Stadion Podoly unterzeichneten die Besucher in Bikini und Badehose, in böhmischen Kasernen die Soldaten unter Transparenten, auf denen das Losungswort »Neprojdou« stand: »Sie kommen nicht durch.«
In drei Tagen unterschrieben mehr als anderthalb Millionen CSSR-Bürger; allein das Unterschriften-Paket vom »Detsky dum« wog 16 Kilo und 250 Gramm.
Mit diesem Vertrauensvotum, dem stärksten, das je eine KP-Führung spontan erhalten hat, zog das Prager Parteipräsidium an die Ostgrenze, um den demokratischen Kommunismus gegen den autoritären Kommunismus Moskauer Machart zu verteidigen.
Dann, ab Montag, überfiel Schweigen das Land. An der Ost-Front herrschte Funkstille. Die Sowjets hatten absolute Geheimhaltung gefordert. Die Tschechoslowaken, »nicht mehr gewöhnt, daß Politik in ihrem Namen hinter verschlossenen Türen gemacht wird« -- so der Prager Rundfunk -- waren von ihren Volks-Beauftragten abgeschnitten. Nur vereinzelt gelangten Bruchstücke des Geschehens über einen heißen Draht zu Cestmir Cisar.
An den ersten beiden Tagen sprach fast nur Dubcek. Er sprach slowakisch, obwohl er nach 13 in der Sowjet-Union verbrachten Kindheitsjahren fließend Russisch kann. Nur der als einziger von Sowjet-Parteichef Breschnew umarmte CSSR-Präsident Svobodá, »Held der Sowjet-Union«, redete Russisch mit den Russen.
Die Sowjets beharrten darauf, alle Prager Delegierten zu hören -- aber zur Enttäuschung der Kreml-Riege standen selbst die konservativsten Moldau-Kommunisten hinter Dubcek.
Abends rollten die Russen auf Breitspur-Gleis zum Schlaf ins Sowjet-Reich zurück, zur Grenzstadt Tschop. Tagsüber wartete der grüngestrichene Zug (aus DDR-Produktion) auf dem slowakischen Verschiebebahnhof Cierna wie im Feindesland: mit eigenen Köchen, eigenen Lebensmitteln, mitgebrachtem Trinkwasser.
Je länger die Geheimgespräche dauerten, desto mehr steigerte sich Prag in Anti-Sowjet-Stimmung.
Verkäufer weigerten sich, Russen zu bedienen. Böhmische Landser verprügelten in Podebrad russische Manöver-Kameraden, die Müll ins Tschechen-Kamp geworfen hatten. Auf dem Prager Wenzelsplatz ohrfeigten zwei Tschechenmädchen eine Russin. Ein Slowake, der sich in der Gaststätte »Golem« Ausländern vorstellte, entschuldigte sich schüchtern für seinen Vornamen »Ivan«.
Mittwochnacht drohte Prag zu explodieren: Studenten wollten demonstrieren, Arbeiter streiken.
Doch am nächsten Tag kam die Kunde aus Cierna, das Palaver sei beendet. Ein dürres Kommuniqué ließ ahnen, daß man sich darauf geeinigt hatte, uneinig zu bleiben. Und: Die erschöpften Unterhändler wollten sich schon am Samstag in Bratislava wiedertreffen, um auch mit den Genossen aus Polen, Ungarn, Bulgarien und der DDR zu konferieren.
Die Nachricht erboste die Prager noch einmal gegen die unerwünschten Besserwisser aus den Nachbarländern. 15 000 Jugendliche demonstrierten und blockierten das ZK-Gebäude am Moldau-Ufer mit einem Sit-in.
Doch dann verkündete Dubcek: »Alles ist gut, wir gehen keinen Schritt zurück.« Erlöst verstanden Tschechen und Slowaken diese Worte ihres neuen Landeshelden als das Zeichen des Triumphes.
Die unsichtbare Hand, die wochenlang sich um die Seele eines Volkes gekrampft hatte, schien gelockert. Zum Wochenende fuhren die Tschechoslowaken zu Zehntausenden in den lange verschobenen Urlaub. Alexander Dubceks Frau Anna bestieg mit zwei Dubcek-Söhnen einen Dampfer zur Mittelmeer-Kreuzfahrt.