AFFÄREN Wackelige Einheit
Als alter Nazi war Theodor Oberländer, 78, unter Konrad Adenauer einst CDU-Bundesvertriebenenminister, schon immer einzustufen. 1923 marschierte er mit dem putschenden Adolf Hitler zur Münchner Feldherrnhalle, 1933 trat er der NSDAP bei, und im Krieg half er nach Kräften bei der vom Führer gewünschten »rücksichtslosen Germanisierung« östlicher Nachbarn mit.
Seit vorletzter Woche darf Oberländer, etwas konkreter, auch der Mittäterschaft bei Massakern und Pogromen während des Ostfeldzugs bezichtigt werden, sofern ein Urteil des Oberlandesgerichts München Rechtskraft erlangt. Dessen 21. Zivilsenat berief sich dabei ausdrücklich auf ein Urteil des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik.
Die DDR-Richter hatten Oberländer am 29. April 1960 wegen »fortgesetzt begangenen Mordes« und »fortgesetzter Anstiftung zum Mord« zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.
Obschon Oberländer seinerzeit einige Tage nach Verkündung des Ost-Berliner Verdikts - und einen Tag nach Erreichen seiner Pensionsberechtigung - Adenauers Kabinett verlassen mußte, schmähte er das Ost-Urteil stets als »ein Nullum«. Jedenfalls komme ihm »nach den in der Bundesrepublik maßgebenden rechtsstaatlichen Grundsätzen« eine »Beweisfunktion nicht zu«.
Diese Argumentation erwies sich jahrelang als hilfreich gegenüber der bundesdeutschen Justiz. Ein Ermittlungsverfahren des Bonner Landgerichts, noch während der Amtszeit Oberländers eingeleitet, wurde »wegen fehlenden Tatverdachts« eingestellt, die Ermittlungsakte als »nicht archivwürdig« vernichtet.
Fortan ließ der pensionierte Vertriebenenminister jeden verfolgen, der in der Bundesrepublik auf seine vom DDR-Gericht rekonstruierte Vergangenheit aufmerksam machte. Anfang der siebziger Jahre mußte Erhard Karpenstein, Redakteur der antifaschistischen Wochenzeitung »die tat«, wegen eines Artikels 5000 Mark Schmerzensgeld an Oberländer zahlen - mehr, als Karpenstein für erlittene KZ-Haft als Entschädigung gezahlt worden war.
Auch von Schriftsteller Bernt Engelmann, ebenfalls ehemaliger KZ-Häftling, verlangte Oberländer per Zivilklage Genugtuung in Geld - wiederum mit Erfolg. Eine Zivilkammer des Münchner Landgerichts sprach Oberländer erst 10 000 Mark, nach Einspruch immer noch 5000 Mark Schmerzensgeld zu.
Engelmann hatte in seinem Buch »Die Laufmasche« die von Oberländer aufgebaute und politisch geführte Sondereinheit »Nachtigall« gewürdigt, die im Sommer 1941 in Lemberg »zwischen 3000 und 5000 Personen ermordete, darunter Frauen, Kinder und Greise«. Engelmanns Quelle war das DDR-Urteil.
Oberländers Strafanzeige gegen Engelmann folgte ein Strafbefehl wegen übler Nachrede über 3000 Mark, der später wegen »Verjährung« wieder aufgehoben wurde. Mit Versäumnisurteil, von Engelmann durch demonstratives Fernbleiben bewußt herbeigeführt, gebot eine Kammer des Landgerichts München I die künftige Unterlassung der schrecklichen Oberländer-Vita in Engelmanns »Laufmasche«.
Oberländers Schmerzensgeld-Antrag schien nur noch eine Formsache zu sein. Die 9. Zivilkammer des Landgerichts notierte prompt eine »Ehrbeeinträchtigung schwerwiegendster Art«. Es genüge »auf seiten des Beklagten nicht, lediglich auf das DDR-Urteil zu verweisen und dessen Beiziehung zu beantragen«.
Das Ermittlungsverfahren gegen Oberländer in Bonn sei nämlich eingestellt worden. Diese Einstellung werde »nicht schon dadurch obsolet, daß die Gerichtsbarkeit eines anderen Rechtskreises abweichende Entscheidungen trifft«.
Nach beendeter politischer Karriere blieb der Minister, dem sogar CDU-Freunde vorhielten, Schlüsselpositionen »systematisch mit ehemaligen Nationalsozialisten« besetzt zu haben, ideologisch linientreu. Als Unterzeichner eines Manifestes pöbelte er unlängst gegen »die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums«.
Die Vorstellung, daß ein »profilierter Hitler-Gegner und KZ-Häftling« wie Engelmann an den »Prototypus und Träger der NS-Ostraumpolitik in Theorie und Praxis« Schmerzensgeld bezahlen sollte, trieb Engelmann-Anwalt Hans-Eberhard Schmitt-Lermann in die Berufung. Ein zu gleicher Zeit bei der Münchner Justiz anhängiges Parallelverfahren lieferte dem Anwalt willkommene Argumentationshilfe.
Gerhard Frey, Herausgeber der rechtsradikalen »Deutsche National-Zeitung«, durfte den von Bundespräsident Heinemann als Widerstandskämpfer gerühmten Hamburger Kommunistenführer Fiete Schulze als »Killer« und »KP-Mordbuben« herabwürdigen - und blieb von der Justiz unbehelligt. Er berief sich stets auf ein Nazi-Sondergerichtsurteil, das Schulze 1935 wegen »psychischer Mittäterschaft« an Mordfällen bei Straßenkämpfen zum Tode verurteilt hatte.
Selbst nachdem das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg 1981 das Schulze-Urteil aufgehoben hatte, konnte die Schulze-Tochter Wilma Giffey gegen Frey weder Widerruf noch ein Schmerzensgeld-Urteil erwirken. Anwalt Schmitt-Lermann vor dem Münchner Oberlandesgericht (OLG): »Ist das Fiete-Schulze-Nazi-Urteil mehr wert als das Oberländer-DDR-Urteil?«
Der 21. Zivilsenat des OLG München gab nun eine überraschend deutliche Antwort: Die DDR sei »im Verhältnis zur Bundesrepublik nicht 'Ausland'«, die DDR-Gerichte seien deshalb »deutsche Gerichte«. Ein rechtskräftiges DDR-Strafurteil sei hinsichtlich der Tatbestandsfeststellung genauso relevant »wie das Strafurteil eines Gerichts im Geltungsbereich des Grundgesetzes«.
So verblüffend der Münchner Urteilsspruch angesichts vieler politisch motivierter DDR-Urteile, etwa bei Republikflucht, auch klingen mag - er entspricht exakt dem geltenden Recht, geregelt im Bonner »Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen« aus dem Jahre 1953.
Das Gesetz würde Oberländer zwar die Möglichkeit bieten, das DDR-Mord-Urteil für wirkungslos erklären zu lassen. Das aber will er nicht, für ihn ist das Ost-Urteil »rechtlich nicht existent«, also »eo ipso überhaupt nicht vollstreckungsfähig«.
Jetzt wird sich der Bundesgerichtshof mit der wackelig gewordenen rechtlichen Einheit Deutschlands befassen. Revision gegen das Münchner Urteil ist zugelassen und beantragt.
Anwalt Schmitt-Lermann, der den Fall gerne »unterhalb der Ebene von Rechtsanerkennungsproblemen« gehalten hätte, fürchtet, daß nun »ohne Not vor dem BGH Anti-DDR-Provokationen im Stile der fünfziger Jahre ausgetragen werden«.