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Briefe

WAHLKALENDER
aus DER SPIEGEL 36/1965

WAHLKALENDER

Sicherlich und offensichtlich haben Sie für Ihre Wahlbetrachtungen und Prognosen mit schelmischem Vorbedacht das Wort »Kalender« gewählt. Die nüchternen Zahlen stimmen und die Prognosen sind so weise und wetterwendisch wie die Kalendersprüche. Zum Schluß verbleibt dem Kalenderbetrachter ein Rätsel. Zwar kommt der nächste 19. September bestimmt, aber soll man Stock oder Regenschirm wählen oder gar zu Hause bleiben, das ist die Rätselfrage?

Lindau BENNO RILKE

Rudolf Augsteins Nicht-Wähler-Analyse trifft genau unsere bundesrepublikanische Misere. Das farblose, verwässerte Agieren der großen Subventions-Parteien fordert zum Wahlprotest heraus. Als wir Übriggebliebenen der verheizten jungen Generation nach verpfuschter Jugend vor den Trümmern standen, glaubten wir an eine bessere demokratische und unkriegerische Zukunft. Statt dessen waren die Positionen unseres Staates schon wieder in den Händen der Vätergeneration. Sie - die Fachleute vom letzten Mal - bedienten sich nun der Demokratie, statt ihr zu dienen. Frömmelei und Säbelrasseln wurden wieder tonangebend. Immer bereit, von Demokratie (und Wiedervereinigung) zu reden, selten bereit, etwas für sie zu tun.

Bad Oldesloe (Holst.) FRED EPSTEIN

Kann ein denkender Mensch zu einer Partei »am Rande der Legalität«, die sich heuchlerisch »christlich« nennt, Vertrauen haben? Oder zu einer anderen, die Geistesfreiheit auf ihre Fahnen geschrieben hat und ein geistversklavendes Konkordat mit Rom schließt? Oder zu einer dritten, die in den letzten Jahren so oft umgefallen ist, daß man kaum erkennen kann, wo sie den Kopf

und wo sie - nun, sagen wir einmal die Füße hat?

Vielleicht würden unsere »Staatsmänner« nachdenklich werden, wenn 30 oder gar 50 Prozent der Wähler am Wahltage zu Hause bleiben oder ins Grüne fahren. Von mir persönlich darf ich bekennen, daß ich seit 1933 nicht gewählt habe.

Essen H. REHWALDT

Als ein Mann, der seit 19.30 an keiner Wahl mehr teilgenommen hat, frage ich mich: »Was ist das: ein Wähler? Ist er dumm, ist er klug? Geht er zufällig zur Wahl oder aus Gewohnheit?«

Im Ernst: Gibt es einen - denkenden - Wähler in Westdeutschland, der nicht weiß,

- daß es in Westdeutschland keine »Wahl« gibt - sondern nur die Bestätigung einer Liste von Männern, die ein anonymer Partei-Apparat aufgestellt hat, gemäß der Fügsamkeit dieser Männer gegenüber dem Apparat und dessen Drahtziehern;

- daß es in Westdeutschland keine Wahl zwischen zwei oder mehreren Alternativen gibt, sondern nur verschieden gestaltete Parallel-Wege zum gleichen Ziel;

- daß die heutige Form der Parteien-Demokratie nichts anderes ist als, das Feigenblatt für die Herrschaft des Geldes - wobei die Drahtzieher dem Volk das Ablenkungs - Vergnügen der »Wahl« lassen - vergleichbar dem Rennstallbesitzer, der seine

Pferde unter verschiedenfarbigen Jockeis laufen läßt, um das Wettfieber zu steigern?

Hand aufs Herz: Glaubt ein einziger Wähler, der am 19. September seine »Wahlpflicht« erfüllt, daß sich durch den Wahlausgang irgend etwas ändert an der Politik Bonns?

München

DR. OTTO STRASSER*

Herrn Augsteins Appell an die »Pinscher jeder Mischung, den Berufspolitikos durch Keifen, Miefen und Bellen das Wahlgeschiele und -geschiebe etwas suspekter« zu machen und dann doch zur Wahl zu gehen und damit diese Politik dann für weitere vier Jahre praktisch in allen Stücken zu sanktionieren, ist unlogisch und eine allzu dürftige Empfehlung. Wenn der sogenannten intellektuellen Elite und außerparlamentarischen Opposition nicht mehr einfällt - dann Gute Nacht.

Hamburg KURT DETTMANN

Sie fragen, ob Wählen unter den gegebenen Umständen überhaupt noch einen Zweck hat, und Sie kommen zu dem Ergebnis, daß Nichtwählen auch keinen rechten Zweck hat. Vielleicht kann ich einen Ausweg aus dem Dilemma zeigen. Man sollte empfehlen, Splitterparteien zu wählen, glücklicherweise sind ja eine ganze Reihe davon zugelassen worden, für jeden Geschmack und vielleicht sogar für jeden Wahlkreis mindestens eine.

Kiel KURT SCHRÖDER

Meine Stellungnahme zu Ihrem Artikel möchte ich zusammenfassen mit »Diagnose richtig, Therapie unzureichend«. Sie haben recht, daß Wahlenthaltung kein geeignetes Mittel ist, um die Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Aber welche wesentlichen Änderungen unseres politischen Lebens versprechen Sie sich davon, wenn »Pinscher jeder Mischung den Berufspolitikos durch Keifen, Miefen und Bellen das Wahlgeschiele und -geschiebe etwas suspekter (machen)«? Das ist ja, mit dem SPIEGEL als Leit-Pinscher, seit Jahr und Tag betrieben worden und hat dennoch nicht das Umschwenken der SPD zum reinen Opportunismus im Jahre 1960 verhindern können. Der Eifer der sozialdemokratischen Führung, vor jeder Wahnvorstellung des deutschnationalen Kleinbürgertums Männchen zu machen, hat sich seitdem eher noch verstärkt.

Die Hartleibigkeit der Funktionäre kann wohl nur durch Brachialgewalt beeinflußt werden, das heißt durch Stimmverluste. Daher bleibt für Unzufriedene meines Erachtens trotz aller Bedenken nichts anderes übrig, als die DFU zu wählen, die wenigstens eine organisatorische Grundlage für eine kontinuierliche Opposition darstellt.

Berlin FRITZ BUSSE

Landgerichtsrat

Sie vermissen, daß jemand »artikuliert, was er (heimlich) weiß und denkt« - und empfehlen den »Pinschern«, zu keifen, zu miefen und zu bellen... und zu wählen.

Die Freisoziale Union ist ein »Pinscher«, der jedoch nicht keift, mieft und bellt, sondern artikuliert, was er weiß und denkt. Im Gegensatz zu den »Bulldoggen«.

Was wir wissen und denken, läßt sich auf eine einfache Formel bringen: Die Weltspannungen sind gesellschaftspolitisch begründet. Eine friedliche Koexistenz zwischen Kommunismus und Kapitalismus ist unmöglich. Ein Zusammenprall beider würde zumindest das deutsche Volk auslöschen. Konsequenz: Man muß beide durch ein besseres Drittes überwinden. Dies geistig vorzubereiten, ist Aufgabe einer deutschen Politik.

Hamburg J. SCHUMANN-LEUCHTENBERG

Freisoziale Union

Bravo, Herr Augstein, und Dank für Ihre Wahlvorschläge. Aus Sympathie zu den Pinschern werde ich auf den Wahlzettel einen Pinscher zeichnen.

Überlingen G. LORETT

* Bruder des ehemaligen »Reichsorganisationsleiters« der NSDAP, Gregor Strasser, und Verfasser der Bücher »Wir rufen Deutschland« und »Hitler und ich«.

Strasser

Sonntagsblatt

Rationalisierung

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